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Bringt Veränderung der politischen Stimmung Erfolge für die Behindertenpolitik?

Porträt von Ottmar Miles-Paul
Ottmar Miles-Paul
Foto: Susanne Göbel

Berlin (kobinet) Gab es vor einigen Wochen kaum Bewegung bei den Wahlumfragen, hat sich die politische Stimmung knapp ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl am 26. September in den letzten Wochen massiv verändert. Die derzeit regierende Koalition aus CDU/CSU und SPD hätte bei den derzeitigen Umfragen keine Mehrheit mehr. Ob sich angesichts dieses Stimmungsumschwungs auch Chancen für behindertenpolitische Verbesserungen in der Zielgeraden dieser Legislaturperiode ergeben könnten und was dies für die Bundestagswahl am 26. Sepember bedeuten könnte, damit hat sich kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul in seinem Kommentar beschäftigt.

Kommentar von kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul

Umfragen sind noch längst keine Wahlergebnisse, soviel vorweg – und schon gar nicht, wenn es noch ein halbes Jahr bis zur nächsten Bundestagswahl hin ist. Aber sie machen die politische Stimmung im Land deutlich. Und diese hat sich in den letzten Wochen massiv, vor allem zu Ungunsten der CDU/CSU, verändert. Erste heftige Dämpfer hat die CDU bereits bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz mit weiteren Verlusten hinnehmen müssen. Schossen die Umfragewerte für die CDU/CSU nach Beginn der Pandemie sozusagen in die Höhe, fällt nun der Rückschlag genauso heftig aus. Eine neueste Umfrage vom 31. März von Forsa sieht die CDU/CSU gerade noch bei 27 Prozent. Bei einer Emnid-Umfrage vom 27. März liegt sie sogar nur noch bei 25 Prozent. Dort trennt die Union gerade noch zwei Prozentpunkte von den Grünen, die auf 23 Prozent kommen würden, wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre. Eine Mehrheit der derzeit regierenden Koalition aus CDU/CSU und SPD sieht keine der derzeit durchgeführten Befragungen, da die SPD bei Werten zwischen 15 bis 18 Prozent verharrt. Das rechnerisch einzig mögliche Zweierbündnis für eine zukünftige Regierungskoalition wäre nach den derzeitigen Umfragewerten nur schwarz-grün. Andere Koalitionen ohne die Union zwischen Grünen, SPD und FDP oder mit den Linken scheinen nun plötzlich möglich, nachdem die CDU/CSU seit fast 16 Jahren non-stop die Kanzlerin stellt und in der Regierung ist.

Wie dies aussieht, wenn die Bundestagswahl am 26. September stattfindet, das steht noch in den Sternen. Interessant ist dabei vor allem, ob sich aus der derzeitigen Schwäche der CDU/CSU noch in dieser Legislaturperiode Chancen für behindertenpolitische Verbesserungen ergeben. Denn es stehen noch zwei behindertenpolitisch interessante Gesetzgebungsverfahren an. Einerseits zum Teilhabestärkungsgesetz, mit dem sich die Bundestagsabgeordneten bereits in erster Lesung befasst haben und zu dem am 19. April die Anhörung stattfindet. Andererseits zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, das wohl im April in den Bundestag eingebracht wird, nachdem das Bundeskabinett am 24. März den Gesetzentwurf beschlossen hat.

Bei beiden Gesetzen werden weitere Reformen hauptsächlich von der CDU/CSU Fraktion blockiert: Sei es die Assistenz im Krankenhaus, wo im Hause Spahn, also vonseiten des Bundesgesundheitsministeriums, massiv gemauert wird. Sei es die Verdoppelelung der Ausgleichsabgabe für Unternehmen, die keine behinderten Menschen beschäftigen oder beim Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, wo sich die CDU/CSU massiv weigert, private Anbieter von Dienstleistungen und Produkten über die Vorgaben der EU hinaus zur Barrierefreiheit zu verpflichten. Die Wählerinnen und Wähler werden sich wenig darum scheren, was die einzelnen Parteien in ihre Wahlprogramme schreiben, sondern darauf schauen, was in dieser Legislaturperiode getan wurde und wird. Denn vor allem behinderte Menschen wissen sehr gut, dass Papier geduldig ist und dass schöne Sonntagsreden am Montag schnell vergessen sind. Eindeutige gesetzliche Regelungen, vor allem zur Barrierefreiheit, zur Assistenz im Krankenhaus und zur Verbesserung der Beschäftigung behinderter Menschen, sind gefordert – Geschwätz dazu hat man schon seit Jahren genug gehört.

Ein Blick zurück in die Geschichte zeigt, dass es sich für die Behindertenverbände lohnt, für Verbesserungen gerade kurz vor der nächsten Bundestagswahl zu kämpfen. 1994 sah es für die CDU/CSU vor der Bundestagswahl auch nicht gut aus. Behinderte Menschen hatten eine Kampagne für die Aufnahme des Benachteiligungsverbots im Grundgesetz am laufen. Gerade die CDU/CSU war damals einhellig dagegen, den Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ ins Grundgesetz mit aufzunehmen. Der alte Fuchs Helmut Kohl erkannte damals rechtzeitig, dass das soziale Profil der Union vor der Wahl noch etwas aufpolliert werden musste und hat im Mai 1994 dann plötzlich verkündet, dass die Union die Forderung unterstützt. So steht seit 15. November 1994 dieser besagte Satz im Grundgesetz, denn ein Kanzlerwort galt damals viel. Und Helmut Kohl konnte auch nach der Wahl 1994 für weitere vier Jahre weiterregieren.

Heute, da die CDU/CSU längst nicht mehr mit einer guten Managementperformance in der Corona-Pandemie glänzen kann und von den Skandalen einzelner Abgeordneter bei Maskendeals etc. geschüttelt wird, herrscht enorme Unruhe und berechtigte Besorgnis in der Partei, bei der nächsten Bundestagswahl so richtig abzuschmieren. Und das scheint täglich eher schlimmer zu werden, angesichts des Machtkampfes, wer denn nun Kanzlerkandidat der Union wird. Auch die SPD bräuchte dringend noch etwas soziale Aufpolierung und müsste aus dem Koalitionsschatten, in den sie sich bewusst durch ihre Regierungsbeteiligung begeben hat, heraustreten und mehr Mut zeigen. Koalitionsfrieden hin oder her, Behindertenpolitik hat schon immer Mut und Engagement gefordert. Mit ihren derzeitigen Umfragewerten von 15 bis maximal 18 Prozentpunkten wird die SPD auch in Zukunft nicht übermäßig viel bewegen können. Deshalb ist hier mehr Engagement als bei der flach geführten Debatte zum Teilhabestärkungsgesetz vonseiten der SPD überfällig.

Jetzt gilt es also, politischen Druck zu entfalten und sich nicht mit dem Verweis auf „tolle Wahlprogramme“ abspeisen zu lassen. Barrierefreiheit tut jetzt Not und nicht erst irgendwann. Assistenz im Krankenhaus wird jetzt gebraucht und nicht erst nach einem lebensbedrohlichen Krankenhausaufenthalt ohne Assistenz. Und die Verdoppelung der Ausgleichsabgabe für Betriebe, die keinen einzigen behinderten Menschen beschäftigen, ist angesichts der massiven Abschiebepraxis in Werkstätten für behinderte Menschen schon seit Ewigkeiten überfällig.