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Heute vor 40 Jahren: Hungerstreik in Bremen

Dr. Martin Theben
Dr. Martin Theben
Foto: privat

Bremen/Berlin (kobinet) Der kobinet-Chronist aus Berlin, Dr. Martin Theben, meldet sich wieder einmal aus aktuellem Anlass zu Wort. Zu Beginn des UNO-Jahres der Behinderten 1981 kam es in Bremen am 18. Februar 1981 - also heute vor 40 Jahren - zu einer spektakulären Aktion. Aus Protest gegen Kürzungen beim Fahrdienst verschanzten sich Betroffene, darunter auch Horst Frehe, im Foyer des Bremer Rathauses und traten in einen Hungerstreik. Hier der Bericht von Dr. Martin Theben:



Bericht von Dr. Martin Theben

Ein weiterer Impuls für die Proteste gegen das UNO-Jahr der Behinderten ging von Bremen aus. Ausgerechnet im UNO-Jahr sollten die Mittel für den Bremer Fahrdienst gekürzt werden. Bis dahin konnten mobilitätseingeschränkte Menschen mit Taxis oder Kleinbussen aufgrund einer Gutscheinregelung relativ großzügig das Fahrtenangebot nutzen. Dieses System wurde jetzt durch eine einmalige monatliche Sachleistung in Form von Gutscheinen bis zu einer Höhe von maximal 150 DM abgelöst. Statt durchschnittlich zwei Fahrten pro Woche wären im ungünstigsten Fall nur noch zwei Fahrten im Monat möglich gewesen. Politisch durchsetzen musste den Beschluss der damalige Sozialsenator und spätere Bremer Bürgermeister Henning Scherf (SPD).

Nach zahlreichen Demonstrationen und Straßenbahnblockaden kurz vor Weihnachten 1980 und Mitte Januar 1981, sowie einer vielbeachteten Pressekonferenz am 14. Januar 1981 und einem öffentlichen Schlagabtausch mit Bremens Bürgermeister Hans Koschnick, drangen schließlich vier Mitglieder der behinderten Protestler*innen am 18. Februar 1981 in die Bremer Bürgerschaft ein, ketteten sich an eine Treppe und traten in einen unbefristeten Hungerstreik bis zur Rücknahme der Kürzungen. Am Abend zuvor stärkten sich die potentiellen Besetzer*innen in einem griechischen Restaurant.

In der Plenardebatte am 17. Februar 1981 verhinderten Geschäftsordnungstricks eine positive Entscheidung im Sinne der Betroffenen, was deren Frust, aber auch ihren Entschluss zum aktiven Widerstand verstärkte. Vor der Bürgerschaft sammelten weitere Unterstützer*innen während des Hungerstreiks Unterschriften. Viele Menschen, auch Sozialdemokraten, solidarisierten sich mit den Besetzer*innen. Diese Proteste zeigten Erfolg. Am 20. Februar 1981 nahm die Bremer Bürgerschaft die Kürzungen zurück. Diese Protestaktion fand, wie schon die Demonstration im Mai 1980 gegen das Frankfurter Reiseurteil, bundesweite Beachtung. Die Stuttgarter Zeitung titelte am 24. Februar 1981 auf Seite 3 „Rollstuhlfahrer bezwingen den Bremer Senat.“

Später rechtfertigte der damalige Sozialsenator Henning Scherf (SPD) u.a. in einem Brief vom 25. Februar 1981 an die Vize-Präsidentin des PEN-Zentrums Ingeborg Drewitz die Kürzungen und bezeichnete sie unter Hinweis auf die finanziellen Herausforderungen des Fahrdienstes als verwaltungstechnische Neuregelungen; die finanziellen Aufwendungen hätten sich seit Einführung des Fahrdienstes 1979 bis Ende 1980 vervierfacht (!). Letzteres wiederum provozierte dann eine ausführliche Entgegnung Henry Meyers, einem der Herausgeber der Krüppelzeitung, überschrieben mit SCHERFS FRECHHEITEN, in der er die Argumente des Sozialsenators detailliert sezierte und größtenteils als unwahr darstellte. Eine ausführliche Dokumentation der Proteste in Bremen findet sich in der Krüppelzeitung 1/1981. Am Ende des Berichtes wird den Unterstützerinnen und Unterstützern des Hungerstreiks gedankt, zu denen auch der Behindertenbereich der AL-Berlin, die Fachgruppe Sonderschulen der GEW-Berlin und 20 Mitarbeiter der Fürst-Donnersmarck-Stiftung in Berlin gehörten.

Einer der Teilnehmer dieses Hungerstreiks war der am 5. Februar 1951 geborene Horst Frehe. Knapp drei Jahre vor dieser Aktion gründete Horst Frehe gemeinsam mit Franz Christoph die erste Krüppelgruppe in Bremen und wurde so zum Wegbereiter der dortigen Selbstbestimmt-Leben-Bewegung. Später fungierte Horst Frehe, der als Richter am Sozialgericht Bremen tätig war, gemeinsam mit seinem Kasseler Richterkollegen Dr. Andreas Jürgens als Sprecher des Forums behinderter Juristinnen und Juristen und als zeitweiliger Sprecher des Deutschen Behindertenrates. Am 30. Juni 2011 wurde Horst Frehe von der damaligen Bremer Senatorin für Soziales, Kinder, Jugend und Frauen, Anja Stahmann (Grüne), zum Staatsrat ernannt. Es war Horst Frehe, der auf der Eröffnungsveranstaltung zum UNO-Jahr der Behinderten im Januar 1981 von einer „Integrationsoperette“ sprach. Anlässlich der Bremer Protestaktionen handelte er sich eine Strafanzeige wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz und Nötigung ein; das Dokument ist in der Ausgabe der Krüppelzeitung 1/81 auf Seite 22 abgedruckt.

Eine weitere Teilnehmerin des Hungerstreiks in der Bremer Bürgerschaft war Swantje Köbsell, geboren 1958. Sie beteiligte sich auch an den weiteren Protestaktionen im UNO-Jahr der Behinderten, war wie Horst Frehe, Mitglied der im Oktober 1990 gegründeten Bremer Assistenzgenossenschaft, einem von Betroffenen mitorganisierten ambulanten Pflegedienst. Sie publizierte überwiegend zu den Themen Bioethik, Gleichstellung und zur Geschichte der emanzipatorischen Behindertenbewegung. Die studierte und promovierte Behindertenpädagogin hat derzeit eine Professur für Disability Studies an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin inne.

Ganz ähnliches wie in Bremen würde sich am 1. Juli 1981 auch in Hamburg ereignen. Aber davon soll ein anderes Mal die Rede sein…

Krüppelzeitung 1/81 4-1-1981_(08-01-2020_23-38-26).pdf (archiv-behindertenbewegung.org)

Bifos-Zeitzeugen Horst Frehe Frehe_Interview.pdf (zeitzeugen-projekt.de)

Swantje Köbsell Koebsell_Interview.pdf (zeitzeugen-projekt.de)