Kassel (kobinet) "Aus Mitsprache muss Mitbestimmung werden. Und diese muss auch gelebt werden", so bringt der Geschäftsführer von Mensch zuerst, dem Netzwerk von Menschen mit Lernschwierigkeiten sein Ziel auf den Punkt. Nachdem der Selbstvertretungsverein am 3. Februar sein 20jähriges Jubliläum hatte, sprach kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul mit Stefan Göthling darüber, was sich in den letzten 20 Jahren getan hat und was es noch für die Selbstbestimmung von Menschen mit Lernschwierigkeiten zu tun gibt.
kobinet-nachrichten: Am 3. Februar konnten Sie von Mensch zuerst ihr 20jähriges Vereinsjubliläum feiern. Erinnern Sie sich noch an die Gründung des Vereins und warum das damals so wichtig war?
Stefan Göthling: Ja, ich erinnere mich noch genau an die Gründungsversammlung. Es war ein Samstag und wir waren im Zentrum für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen (ZSL) in Kassel in der Kölnischen Straße 99. Es war wichtig, weil wir damals gesagt haben, wenn wir für Menschen mit Lernschwierigkeiten was verändern wollen, dann müssen wir unsere Sache in unsere eigenen Hände nehmen. Wir wussten damals im November 2001 läuft das Modellprojekt „Wir vertreten uns selbst“ aus und es muss danach weitergehen mit People First.
kobinet-nachrichten: 20 Jahre Selbstvertretung von Menschen mit Lernschwierigkeiten, was hat der Verein und diese Bewegung aus Ihrer Sicht in dieser Zeit erreicht?
Stefan Göthling: Vor 20 Jahren wurde sehr wenig über Leichte Sprache gesprochen. Heute gibt es ein Recht auf Leichte Sprache. Vor 20 Jahren gab es keinen Verein von und für Menschen mit Lernschwierigkeiten, der sich selbst vertreten hat. Es gab nur Elternorganisationen, die über Menschen mit Lernschwierigkeiten gesprochen haben. Auch das hat sich zum Teil verändert, so dass Menschen mit Lernschwierigkeiten bei den Organisationen mitarbeiten. Mensch zuerst ist da besonders. Bei uns bestimmen nur Menschen mit Lernschwierigkeiten. Das war uns vor 20 Jahren genauso wichtig wie heute. Deshalb haben wir das damals schon so bei der Gründungsveranstaltung in unsere Satzung schreiben lassen.
kobinet-nachrichten: Der Begriff „geistig behindert“ gefällt vielen nicht. Was hat es damit auf sich?
Stefan Göthling: Der Begriff geistig behindert wird von mehreren Menschen noch benutzt. Dieser Begriff ist immer noch diskriminierend. Er wertet Menschen ab. Viele Menschen benutzen heute wie wir schon den Begriff Menschen mit Lernschwierigkeiten. Wir machen uns immer noch dafür stark, dass der Begriff geistige Behinderung abgeschafft wird. Wenn wir mit Leuten zum Beispiel bei Vorträgen und Schulungen zusammenkommen, reden wir darüber.
kobinet-nachrichten: Werden Menschen mit Lernschwierigkeiten heute ernster genommen als früher?
Stefan Göthling: Ich würde sagen ja, weil sich auch in Einrichtungen, wo Menschen mit Lernschwierigkeiten arbeiten und wohnen, schon etwas verändert hat. Auch wenn es noch lange nicht genug ist.
kobinet-nachrichten: Wie schätzen Sie die Situation in Wohneinrichtungen und Werkstätten für behinderte Menschen ein? Was gibt es da noch zu tun?
Stefan Göthling: Im Wohnheim und in Werkstätten muss es nicht nur Mitsprache geben, sondern Mitbestimmung. In Wohnheimen und Werkstätten haben Menschen mit Lernschwierigkeiten häufig nur ein Mitspracherecht und kein Mitbestimmungsrecht. Das sollte sich ändern. Aus Mitsprache muss Mitbestimmung werden. Die Mitbestimmung muss dann auch gelebt werden.
kobinet-nachrichten: Haben Sie einen Traum für die Zukunft bzw. entsprechende Wünsche?
Stefan Göthling: Ein Traum von Mensch zuerst ist, dass Mensch zuerst eine Grundförderung erhält, damit wir unsere Arbeit gut machen können und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Unterstützungspersonen bezahlt werden können. Das würde die Arbeit von Mensch zuerst sehr erleichtern. Wir wünschen uns noch mehr People First Gruppen und dass sich noch mehr Menschen mit Lernschwierigkeiten für ihre Selbstbestimmung stark machen. Wir wünschen uns, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht fremdbestimmt werden. Wir wünschen uns, dass jeder auf seine Mitmenschen achtet, dass es allen gut geht.
kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.