Kassel (kobinet) Zum heutigen Internationalen Tag der Menschenrechte am 10. Dezember hat sich kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul mit dem Menschenrecht auf Barrierefreiheit befasst. Angesichts der Tatsache, dass Deutschland den European Accessibility Act bis zum 28. Juni 2022 in deutsches Recht umsetzen muss, blickt er in seinem Kommentar auf internationale Menschenrechtsregelungen und die Notwendigkeit, endlich auch in Deutschland umfassende Gesetze zur Barrierefreiheit auch im privaten Bereich zu schaffen.
Kommentar von kobinet-Redakteur Ottmar MIles-Paul
Als die Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Palais de Chaillot in Paris verkündeten, war diese entscheidend von den schrecklichen Ereignissen des Zweiten Weltkrieges geprägt. Auch wenn die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte lediglich „ein Ideal“ ist, „an dem Orientierung zu finden sei“, wie es in Wikipedia heißt, haben die dort formulierten Grundsätze Einzug in viele andere Erklärungen, Gesetze und Regelungen gefunden. So beispielsweise in die Europäische Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950 und in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Auch wenn die Personengruppe behinderter Menschen damals noch nicht explizit genannt wurden, wurde das Grundprinzip des Schutzes vor Diskriminierungen eindeutig formuliert. In Artikel 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es beispielsweise:
„Jeder hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.“
Und Artikel 7 spricht den Diskriminierungsschutz explizit an: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Unterschied Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. Alle haben Anspruch auf gleichen Schutz gegen jede Diskriminierung, die gegen diese Erklärung verstößt, und gegen jede Aufhetzung zu einer derartigen Diskriminierung.“
Im Laufe der letzten 72 Jahre haben sich die Vereinten Nationen nicht zuletzt auf dieser Grundlage verschiedenen Menschenrechtsverletzungen bestimmter Gruppen gezielter angenommen, so zum Beispiel von Kindern und Frauen, aber letztendlich auch mit der Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention am 13. Dezember 2006 auch den Menschenrechten behinderter Menschen. Und diese Menschenrechtskonvention hat Deutschland auch ratifiziert und sich zum Gesetz gemacht. Und sich damit auch dazu verpflichtet, die UN-Behindertenrechtskonvention in geltendes Recht und in der Praxis umzusetzen. Womit wir bei dem Menschenrecht auf Barrierefreiheit wären. In Artikel 9 der UN-Behindertenrechtskonvention heißt es in der vom NETZWERK ARTIKEL 3 entwickelten 3. Auflage der Schattenübersetzung des Konventionstextes wie folgt:
„(1) Um Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben und die volle Partizipation in allen Lebensbereichen zu ermöglichen, treffen die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen mit dem Ziel, für Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen Zugang zur physischen Umwelt, zu Beförderungssystemen, Information und Kommunikation, einschließlich Informations- und Kommunikationstechnologien und -systemen, sowie zu anderen Einrichtungen und Diensten, die der Öffentlichkeit in städtischen und ländlichen Gebieten offenstehen oder für sie bereitgestellt werden, zu gewährleisten. Diese Maßnahmen, welche die Feststellung und Beseitigung von Zugangshindernissen und -barrieren einschließen, gelten unter anderem für
a) Gebäude, Straßen, Beförderungssysteme, sowie andere Einrichtungen in Gebäuden und im Freien, einschließlich Schulen, Wohnhäusern, medizinischer Einrichtungen und Arbeitsstätten;
b) Informations-, Kommunikations- und andere Dienste, einschließlich elektronischer Dienste und Notdienste.
(2) Die Vertragsstaaten treffen außerdem geeignete Maßnahmen,
a) um Mindeststandards und Leitlinien für die Barrierefreiheit von Einrichtungen und Diensten, die der Öffentlichkeit offenstehen oder für sie bereitgestellt werden, auszuarbeiten und zu erlassen und ihre Anwendung zu überwachen;
b) um sicherzustellen, dass private Rechtsträger, die Einrichtungen und Dienste, die der Öffentlichkeit offenstehen oder für sie bereitgestellt werden, anbieten, alle Aspekte der Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen berücksichtigen;
c) um betroffenen Kreisen Schulungen zu Fragen der Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen anzubieten;
d) um in Gebäuden und anderen Einrichtungen, die der Öffentlichkeit offenstehen, Beschilderungen in Brailleschrift und in leicht lesbarer und verständlicher Form anzubringen;
e) um menschliche und tierische Assistenz sowie Mittelspersonen, unter anderem Personen zum Führen und Vorlesen sowie professionelle Gebärdensprachdolmetscher und -dolmetscherinnen, zur Verfügung zu stellen mit dem Ziel, den barrierefreien Zugang zu Gebäuden und anderen Einrichtungen, die der Öffentlichkeit offenstehen, zu ermöglichen;
f) um andere geeignete Formen der Assistenz und Unterstützung für Menschen mit Behinderungen zu fördern, damit ihr Zugang zu Informationen gewährleistet wird;
g) um den Zugang von Menschen mit Behinderungen zu den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien und -systemen, einschließlich des Internets, zu fördern;
h) um die Gestaltung, die Entwicklung, die Herstellung und den Vertrieb barrierefreier Informations- und Kommunikationstechnologien und -systeme in einem frühen Stadium zu fördern, sodass deren Barrierefreiheit mit möglichst geringem Kostenaufwand erreicht wird.“
Diese in Artikel 9 der UN-Behindertenrechtskonvention verankerten Regelungen zur Barrierefreiheit hat Deutschland mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention beschlossen und sind seit dem 26. März 2009 somit geltendes Recht in Deutschland bzw. müssen in den einzelnen Gesetzen entsprechend angepasst werden. Um herauszufinden, wo Deutschland diesbezüglich steht, lohnt ein Blick in die abschließenden Bemerkungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention des Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen in der Übersetzung vom 13. Mai 2015. Dort heißt es zur Umsetzung des Artikel 9 der UN-Behindertenrechtskonvention zur Barrierefreiheit in Deutschland:
„Der Ausschuss ist besorgt
a) darüber, dass private Rechtsträger, insbesondere private Medien und Internetauftritte, nicht verbindlich verpflichtet sind, neue Barrieren zu vermeiden und bestehende Barrieren zu beseitigen;
b) über die unzulängliche Umsetzung der Vorschriften betreffend die Zugänglichkeit und das universelle Design.
Der Ausschuss lenkt die Aufmerksamkeit des Vertragsstaats auf seine Allgemeine Bemerkung Nr. 2 (2014) und empfiehlt dem Vertragsstaat,
(a) gezielte, wirksame Maßnahmen einzuführen, wie etwa Verpflichtungen, Überwachungsmechanismen und wirksame Sanktionen bei Verstoß, um die Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen in allen Sektoren und Lebensbereichen, einschließlich des Privatbereichs, auszubauen;
(b) öffentlich-rechtliche und private Rundfunkanstalten dazu zu ermutigen, ihre Arbeit hinsichtlich der Umsetzung des Rechts auf Zugänglichkeit insbesondere hinsichtlich der Verwendung von Gebärdensprache, umfassend zu evaluieren.“
Der Ausschuss der Vereinten Nationen hat Deutschland also ins Stammbuch geschrieben, dass die Barrierefreiheit in allen Sektoren und Lebensbereichen, einschließlich das Privatbereichs auszubauen ist. Und dabei dürfte es keine Rolle spielen, ob dies manchen Wirtschaftslobbyisten passt oder nicht, ob die Zeit dafür gerade die passende ist oder nicht. Denn gerade in Zeiten der Corona-Pandemie haben viele Menschen erlebt, was es bedeutet, wenn der Zugang zu öffentlichen Angeboten zeitweise begrenzt wird. Was derzeit zum Schutz vor einer lebensgefährlichen Ansteckung erfolgt, darf für behinderte Menschen kein Dauerzustand in ihrem Leben sein. Nicht in den Laden des Bäckers an der Ecke wegen Stufen hinein zu können, nicht im Internet Waren wegen nicht barrierefrei nutzbarer Internetseiten kaufen zu können, nicht kommunizieren zu können, weil es keine Möglichkeiten des Austauschs in Gebärdensprache gibt, Informationen, Regelungen und Verträge nicht verstehen zu können, weil sie nicht in Leichte Sprache zur Verfügung gestellt werden, darf schlichtweg nicht weiterhin Alltag in Deutschland sein. Dies sind massive Diskriminierungen, bei denen gute Beispiele hierzulande, aber vor allem auch in anderen Ländern zeigen, dass sie nicht Gott gegeben sind und dass es anders geht, wenn es konkrete und durchsetzbare Regelungen gegen solche Diskriminierungen gibt.
Barrierefreiheit ist also ein Menschenrecht und an der Umsetzung dieses Menschenrechtes sollten wir auch unsere Abgeordneten messen. Vor allem, wenn im Frühjahr 2021 voraussichtlich die Verabschiedung eines Barrierefreiheitsgesetzes im Deutschen Bundestag ansteht. Werden hier nur die Minimalanforderungen der EU-Regeln des mühsam erkämpften European Accessibility Acts umgesetzt und wird dabei sozusagen nur das getan, was man unbedingt tun muss? Oder liegt der Bundesregierung und letztendlich den Bundestagsabgeordneten wirklich die gleichberechtigte und barrierefreie Teilhabe behinderter Menschen am Herzen? Dieser Nagelprobe müssen sich die Verantwortlichen stellen und die Behindertenbewegung sollte ihr möglichstes tun, um das Menschenrecht auf Barrierefreiheit angesichts des bevorstehenden Gesetzgebungsprozesses lautstark und engagiert einzufordern, anstatt der Lobby der Verhinderer von Barrierefreiheit das Feld widerstandslos zu überlassen.
Link zu weiteren Informationen zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte auf Wikipedia