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Kostenerstattung für selbstbeschafftes Spezialrad

Bundessozialgericht in Kassel
Foto zeigt Bundessozialgericht in Kassel
Foto: Bundessozialgericht

Greifswald (kobinet) In seinem Urteil vom 7.5.2020 hat sich das Bundessozialgericht (BSG) mit den Teilhabezielen des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IX), dem verfassungsrechtlichen Benachteiligungsverbot nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz (GG) und dem Recht auf persönliche Mobilität nach Art. 20 UN-BRK auseinandergesetzt. Im Verfahren, über das Henry Spradau für die kobinet-nachrichten berichtet, ging es um den Kostenerstattungsanspruch für ein selbstbeschafftes Spezialtherapierad einer Versicherten

Das Bundessozialgericht (BSG) urteilt über Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung zum Behinderungsausgleich

Beitrag von Henry Spradau

Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ist in Deutschland seit 2009 in Kraft. Sie beschreibt und präzisiert die Menschenrechte und Grundfreiheiten für die Lebensführung von Menschen mit Behinderungen. Sie bindet alle Ebenen der staatlichen Tätigkeiten wie Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung. In seinem Urteil vom 7.5.2020 hat sich das BSG mit den Teilhabezielen des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IX), dem verfassungsrechtlichen Benachteiligungsverbot nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz (GG) und dem Recht auf persönliche Mobilität nach Art. 20 UN-BRK auseinandergesetzt.

In dem Verfahren ging es um den Kostenerstattungsanspruch für das selbstbeschaffte Spezialtherapierad einer Versicherten. Als Rechtsgrundlage sieht § 13 Abs 3 Satz 1 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V) einen Kostenerstattungsanspruch vor, wenn die Krankenkasse eine Sachleistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung notwendige Kosten entstanden sind. Das BSG stellte fest, dass im vorliegenden Einzelfall ein Anspruch nach § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V (= Versorgung mit dem Hilfsmittel zum Ausgleich einer bereits bestehenden Behinderung) in Betracht kommen kann. Dem Behinderungsausgleich dient ein Hilfsmittel, wenn es seinem Zweck entsprechend die Auswirkungen der Behinderung beseitigt oder mindert und damit der Befriedigung der allgemeinen Grundbedürfnisse des täglichen Lebens dient. Das in der Rechtsprechung des BSG anerkannte Grundbedürfnis der zumutbaren Erschließung des Nahbereichs der Wohnung mit einem Hilfsmittel darf dabei nicht zu eng gefasst werden in Bezug auf die Art und Weise, wie sich Versicherte den Nahbereich in angemessener Weise erschließen.

Dies folgt aus den Teilhabezielen des SGB IX und aus dem verfassungsrechtlichen Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG als Grundrecht und objektive Wertentscheidung i.V.m. dem Recht auf persönliche Mobilität nach Art. 20 UN-BRK. Das BSG stellt hierbei einen Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Paradigmenwechsel fest, den Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG mit sich gebracht hat, und der Menschen mit Behinderungen ermöglichen soll, so weit wie möglich ein selbstbestimmtes und selbständiges Leben zu führen. Der Anspruch auf ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich ist danach nicht von vornherein auf eine Minimalversorgung beschränkt. Vielmehr kommt ein Anspruch bereits dann in Betracht, wenn das Hilfsmittel wesentlich dazu beitragen oder zumindest maßgebliche Erleichterung bringen würde, Versicherten auch nur den Nahbereich im Umfeld der Wohnung (z.B. bei Einkäufen oder Arzt- und Apothekenbesuchen) in zumutbarer Weise zu erschließen.

Das BSG hob die Entscheidung des LSG auf und verwies die Sache zurück zur erneuten Entscheidung i.S. der Feststellungen des BSG. Dieses konnte nach den bisherigen Tatsachenerhebungen nicht abschließend über den Anspruch entscheiden. Es fehlten insbesondere Ermittlungen dazu, auf welche Art und Weise sich die Klägerin den Nahbereich ihrer Wohnung tatsächlich mit und ohne Hilfe anderer erschließen konnte. Ferner sei vorliegend ein Anspruch nach dem Eingliederungshilferecht (§§ 53 ff SGB XII a.F.) als Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft bislang nicht geprüft worden.

Quelle: BSG Urteil vom 7.5.2020 – B 3 KR 7/19 R (BVerfG Urteil vom 30.1.2020 – 2 BvR 1005/18)

Vorinstanzen: Sozialgericht Hannover Urteil vom 23.02.2017 – S 29 KR 10/13; Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Urteil vom 23.04.2018 – L 4 KR 148/17

Sollten Sie als Leser*in der kobinet-nachrichten von einer derartigen Fragestellung betroffen sein, können Sie sich in allen rechtlichen Fragen z.B. an die Beratungsstellen der Sozialverbände wenden; z.B. den SoVD oder den VdK, damit geklärt werden kann, ob und in welchem Umfang Ansprüche bestehen.