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Benachteiligungsverbot darf nicht zur Phrase verkommen

Dr. Martin Theben
Dr. Martin Theben
Foto: Dr. Martin Theben

Berlin (kobinet) Der Berliner Rechtsanwalt und Hobby-Historiker Dr. Martin Theben erklärte sich gestern mit den Protesten gegen das Intensivpflegegesetz, das am Donnerstag im Deutschen Bundestag abschließend beraten werden soll, solidarisch. Er erinnert zudem mit einem Bericht an den sehr entscheidenden Tag für die Behindertenbewegung als am 30. Juni 1994 das Benachteiligungsverbot für behinderte Menschen vom Deutschen Bundestag beschlossen wurde. Das Benachteiligungsverbot dürfe nicht zur Phrase verkommen, stellte er klar.

„Ich bin heute im Geiste bei den Protestlern am Brandenburger Tor. Dieses Schlechte-Atem-Gesetz ist ein schlimmes Zeugnis dafür, wie Betroffene zum Opfer kaltherziger Gesundheitsökonomen und Pflege-Lobbyisten werden. Jeder, der dem jetzt vorliegenden Entwurf seine Zustimmung erteilt, sollte künftig das Wort ‚INKLUSION‘ nicht mehr reinen Herzens im Munde führen. Das Benachteiligungsverbot im Grundgesetz verkommt so immer mehr zur Phrase“, betonte Dr. Martin Theben in seinem gestern an die kobinet-nachrichten gesandten Beitrag.

Zu den Geschehnissen am 30. Juni 1994 lieferte der Hobbyhistoriker Dr. Martin Theben folgenden Bericht:

Wenige Monate vor dem Ende der 12. Wahlperiode debattierte der Deutsche Bundestag in seiner 238. Sitzung am 30. Juni 1994 in zweiter und dritter Lesung, das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes sowie andere diesbezüglicher Gesetzesvorlagen und diverser Änderungsanträge. Die Sitzung fand im Reichstag in Berlin statt und wurde von der Bundestagespräsidentin Rita Süßmuth (CDU) geleitet.

Im Gegensatz zur ersten Lesung sprach sich die CDU/CSU Bundestagsfraktion nunmehr für die Aufnahme eines Benachteiligungsverbotes für Menschen mit Behinderungen aus. Denn die Tagesschau vom 20. Mai 1994 berichtete in ihrer 20-Uhr Sendung von einer Erklärung des Bundeskanzlers Helmut Kohls auf dem 12. Bundesverbandstag des VdKs, nach der er nunmehr die Forderung nach einem verfassungsrechtlichen Benachteiligungsverbot unterstützen würde.

Als nächstes erhielt dann für die SPD-Fraktion Dr. Hans Jochen Vogel das Wort. Es handelte sich dabei um die letzte Rede des Abgeordneten. Demzufolge endete sie auch mit einem persönlichen Rückblick sowie einem Appell an künftige Parlamentarier und wurde am Ende von allen Fraktionen des Deutschen Bundestages sowie Mitgliedern der Regierung mit Beifall und Glückwünschen bedacht. Zuvor begrüßte er in seinem Beitrag ausdrücklich die Aufnahme des Diskriminierungsverbots für Behinderte und den Umstand, dass sich nunmehr auch CDU/CSU dazu bereit gefunden hätten. Auf eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert weshalb man dieses Benachteiligungsverbot nicht auch, ähnlich wie bei der Gleichbehandlung von Männern und Frauen um ein Nachteilsausgleichsgebot ergänzt habe, antwortete der Abgeordnete Vogel: „Herr Seifert, vielen Dank für diese Frage. Wir haben das sorgfältig geprüft und erörtert und sind auch nach Hinzuziehung von Sachverständigen die selbst behindert sind, zu dem Ergebnis gekommen, daß Einfügung des Diskriminierungsverbotes zusammen mit anderen Prinzipien der Verfassung, insbesondere auch den Nachteilsausgleich ermöglicht, so daß im Ergebnis dem Anliegen entsprochen ist.“ So dann stieß er noch einmal in Richtung CDU/CSU in die Wunde und lieferte einen möglichen Erklärungsansatz dafür, weshalb es nach der ersten Lesung innerhalb der Union zu einem Meinungswandel gekommen sei. Vogel wörtlich in der Debatte am 30. Juni 1994: „Sie meine Damen und Herren von der Union, übrigens ungewollt einen Beitrag zu diesem guten Ergebnis geleistet, nämlich durch die zum Teil erstaunlichen Argumente mit denen sie noch in der ersten Lesung vom 04. Februar unserem Antrag entgegengetreten sind. Etwa mit der Behauptung, die Verfassung werde geschwätzig, wenn sie auch die Behinderten erwähne. Wir haben das entsprechende Protokoll den Verbänden zur Verfügung gestellt und der Ärger über diese Argumente hat Ehrenanstrengung namentlich beflügelt. Also im Ergebnis haben auch die hier einen Beitrag geleistet.

Schließlich ergriff auch der sichtlich erfreute Abgeordnete Dr. Ilja Seifert (PDS) das Wort: „Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute sind neben uns den Abgeordneten, Hunderte von Menschen mit Behinderungen in diesem Hause. Der Reichstag und seine Umgebung sind von Menschen mit Behinderungen regelrecht bevölkert. Ich finde das sehr gut, denn wir, die Menschen mit Behinderungen wollen heute unseren Erfolg feiern, daß das Benachteiligungsverbot ins Grundgesetz aufgenommen werden soll.“ Er lud die Abgeordneten dann dazu ein, mit den im Bundestagsrestaurant die Debatte verfolgenden behinderten Menschen ins Gespräch zu kommen bzw. mit ihnen gemeinsam nach der Debatte an den Feierlichkeiten im Haus der Kulturen der Welt teilzunehmen. Dann richtete er allerdings schon den Blick in die Zukunft: „Aber morgen, morgen werden wir wieder kämpfen, und zwar werden wir um ein Behinderten Mindestnachgleichsgebot kämpfen. Wir werden um abgesenkte Bordsteine kämpfen, um zugängliche Gebäude, auch um Besuchertribünen von denen Menschen mit Behinderungen nicht vertrieben werden müssen – für uns sind angeblich keine Plätze da – wir werden um Banknoten kämpfen, die in Braille-Schrift zu lesen sind und um Aufzüge, die Ansagen, in welcher Etage sie anhalten. Wir werden um Arbeitsplätze für uns und für alle anderen kämpfen und um geeignete Wohnungen, auch um Möglichkeiten für Betreutes Wohnen die es bisher nicht gibt.“

Nach einer Sitzungsunterbrechung und der Ablehnung mehrerer Änderungsanträge der PDS-Fraktion wurde dann gegen 18:17 Uhr das Abstimmungsergebnis der dritten Lesung des fraktionsübergreifenden Antrages zur Änderung des Grundgesetzes und damit auch über die Aufnahme des Benachteiligungsverbotes Behinderter in Artikel 3, Absatz 3, Satz 2 bekannt gegeben . Von 629 Abgeordneten stimmten 622 mit ja, 3 mit nein und 4 Abgeordnete enthielten sich.

Die rechtliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen hatte damit ihren Anfang genommen!