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Wie geht’s Jessica Schröder?

Jessica Schröder
Jessica Schröder
Foto: Franziska Vu ISL

Berlin (kobinet) Für Jessica Schröder, die bei der Interessenvertretung Selbstbetimmt Leben in Deutschland (ISL) seit kurzem ein Projekt zur Durchsetzung der Rechte behinderter Menschen leitet, gibt es in der Zeit der Corona-Pandemie viele Baustellen, die im Sinne der Selbstbestimmung behinderter Menschen bearbeitet werden müssen. Es sei aber auch eine gute Zeit, um den Kampfgeist der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung wieder stärker zu reaktivieren und den Spruch "nichts über uns, ohne uns" mit gelebter Praxis und wachsamer Energie zu beleben, wie sie im Interview mit kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul betonte.



kobinet-nachrichten: Wie geht es Ihnen in Zeiten der Corona-Krise und wie gestaltet sich Ihr Alltag?

Jessica Schröder: Der Alltag ist ja für viele Menschen momentan ähnlich. Zuhause bleiben, Zuhause arbeiten, nur mal kurz raus zum Einkaufen oder einen Spaziergang an der frischen Luft. Da unterscheidet sich mein Leben kaum von dem anderer Menschen. Durch meine Blindheit bin ich vielleicht manchmal etwas ängstlicher, was den richtigen Abstand zu anderen Fußgänger*innen betrifft. Und ich fühle mich öfter etwas hilflos, da mich immer noch gern fremde Leute einfach am Arm berühren, um mir zu signalisieren, dass sie mir helfen wollen. Da spielen dann plötzlich Abstandsregeln und die Angst vor Ansteckung keine Rolle mehr. Das finde ich sehr befremdlich und es macht mich oft hilf- und sprachlos. Sollten nicht gleiche Regeln für alle gelten?

Da ich meist Zuhause bin, konsumiere ich maßlos Informationen zur momentanen Sachlage, die oft eher verunsichern, logische Lücken aufweisen und durch unsere Bundesregierung eher pädagogischen und mahnenden Charakter haben und eine sachliche Objektivität mit dem Thema vermissen lassen. Öffentliche und private Medien verhalten sich dann entweder linientreu oder negieren den Sinn und Nutzen der aktuellen Eindämmungsbemühungen, die die Zahl der Neuinfektionen möglichst auf einem stabilen Niveau halten sollen. Da muss man schon gut recherchieren, um einen klaren Kopf zu behalten und einigermaßen rational und trotzdem vorsichtig und wachsam zu bleiben. Bei aller Kritik freue ich mich natürlich sehr über das schützenswerte Gut der Meinungs- und Pressefreiheit, denn diese hilft sehr dabei, Missstände öffentlich anzuprangern, die ja auch für uns Menschen mit Behinderung und chronischen Erkrankungen zu massiven Einschränkungen und Ängsten führen. Da sind die Medien ein Super-Vehikel diese wirklich sichtbar zu machen.

Mit dem Zuhause bleiben habe ich kein Problem, da ich schon gut trainiert bin. Ich habe länger im ostasiatischen Ausland gearbeitet, dort aber seitens meines deutschen Arbeitgebers massives Mobbing und Diskriminierung erlebt, was dann auch in Deutschland zu einer langen Depression und posttraumatischen Belastungsstörungen geführt hat. Ich war also ein halbes Jahr ununterbrochen Zuhause, ziemlich isoliert und allein. Da fällt es mir gerade eher leicht, Alleinsein auszuhalten, mich gut zu beschäftigen und nicht panisch zu werden. Meine Liebe, mit der ich täglich lange telefoniere, trägt jedoch auch sehr dazu bei, dass ich weiterhin in mir ruhe und meist halbwegs entspannt bleibe, auch wenn die Medienlandschaft nicht zu einer Traumreise einlädt.

kobinet-nachrichten: Wenn Sie die Medien verfolgen, welche Fragen beschäftigen Sie da besonders?

Jessica Schröder: Da ich selbst eine Frau mit Behinderung bin und mich, seit ich politisch denken kann, für die Interessen von Menschen mit Behinderung engagiert habe, beschäftigen mich Themen, wie die Situation in Pflegeheimen und ambulanten Wohnformen für Menschen mit Behinderung, medizinische Themen wie Empfehlungen zur Triage und Mängel und Bedarfe in medizinischen und pflegerischen Bereichen besonders. Wenn ich lese, dass Pflegeheime aufgrund der aktuellen Corona-Krise sich noch stärker zu Wartesälen des Todes degradieren, weil Schutzausrüstung für Pflege und Fachpersonal fehlt und Bewohner*innen entweder mit oder an Corona und Einsamkeit und Traurigkeit sterben, dann weiß ich oft erstmal nicht, wohin mit meinem Mitgefühl, meiner Traurigkeit und meiner Hilflosigkeit.

Genau die gleichen Gefühle habe ich beim Thema Triage. Die unmittelbare Bedrohung des eigenen Lebens, nur weil ein Arzt entscheiden darf, dass dein Leben weniger wert ist, als das einer Person ohne Behinderung und ohne Vorerkrankung, weil sie vermutete bessere Aussichten auf eine längere Lebenserwartung und eine subjektive Lebensqualität hat – so eine Aussicht versetzt mich in totale Panik und es braucht kein Corona, dass mir vor Wut und Angst die Luft weg bleibt. So schlimm illustrierte Missstände und moralisch verwerfliche und verfassungswidrige Empfehlungen intensivmedizinischer Fachgesellschaften auch sind, bin ich froh, dass heute vieles davon öffentlich kommuniziert wird und so einigermaßen transparent wird, damit wir als Selbstbestimmt-Leben-Bewegung, mit deren Zielen und Grundsätzen, ich mich seit meinem 18. Lebensjahr stark identifiziere, diese aufgreifen, zur Diskussion stellen und uns öffentlichkeitswirksam und rechtlich dagegen wehren können.

kobinet-nachrichten: Sie haben ja seit 1. April einen neuen Job bei der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL). Was machen Sie da genau und geht das aus dem Home-Office heraus?

Jessica Schröder: Ich bin Projektreferentin in einem Projekt, das sich mit der Rechtsdurchsetzung von Menschen mit Behinderung beschäftigt. Es möchte Menschen mit Behinderung befähigen, ihre eigenen Rechte effektiv zu erkennen, wahrzunehmen und in Situationen, wo diese nicht angemessen berücksichtigt oder gar verletzt werden, ihre Rechte einzufordern und wenn nötig durchzusetzen. Dies auf ganz unterschiedlichen Wegen: durch das individuelle Aushandeln von solchen Konflikten, das Aufsuchen von Unterstützung im Rahmen der unabhängigen Teilhabeberatung, die Nutzung des Rechtsmittels von öffentlichen Beschwerdemechanismen wie Antidiskriminierungsstellen und als letzte Instanz der gerichtliche Weg.

Momentan bin ich jedoch eher mit Arbeiten zur aktuellen Situation beschäftigt, wie die Mitarbeit an Pressemitteilungen, unserem Newsletter und eine Zusammenstellung von Hilfemaßnahmen, die Bund und Länder aufgelegt haben, um die Folgen der Pandemie etwas abzumildern. Diese möchte ich gern in eine Art Toolkit bündeln und so veranschaulichen, dass Menschen mit Behinderung und ihre Organisationen, diese für sich nutzen können. Außerdem bietet die ISL ab Mai in Kooperation mit der Arbeiterwohlfahrt Potsdam einen Peer-Counselling-Kurs für Langzeitarbeitslose an, den ich gerade inhaltlich und methodisch gestalte. Da dieser Kurs nun online stattfinden muss, ist das eine zeitaufwendige Herausforderung.

Diese Arbeiten funktionieren natürlich auch gut von Zuhause, so dass dies keine Einschränkung für mich bedeutet. Es fällt mir aber nicht immer leicht, mich so zu disziplinieren, dass ich zu den arbeitsüblichen Zeiten arbeite. Da sind Anwesenheitszeiten im Büro schon ein praktisches Korrektiv, dass die Grenzen zwischen Nacht und Tag wieder stärker ins Bewusstsein rücken hilft.

kobinet-nachrichten: Sie waren ja einige Jahre international aktiv. Was haben Sie genau gemacht und was hören Sie von behinderten Menschen aus anderen Ländern im Hinblick auf den Umgang mit der Corona-Pandemie?

Jessica Schröder: Ich habe lange beim Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband als Referentin für internationale und EU-politische Angelegenheiten gearbeitet. Wie der Name schon sagt, habe ich dort hauptsächlich Interessensvertretung für die Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe auf europäischer Ebene gemacht. Ich habe gemeinsam mit der Europäischen Blindenunion, einem internationalen Netzwerk aus europäischen Blinden- und Sehbehindertenorganisationen, Gesetzesentwürfe der europäischen Union versucht zu beeinflussen, so dass sie den Bedürfnissen unserer Zielgruppe Rechnung tragen. Diese Richtlinien- und Verordnungsentwürfe, die dann in nationales Recht umgesetzt werden müssen, betrafen zum Beispiel die Ausstattung von Elektro- und Elektrohybridfahrzeugen mit einem Geräuschwarmsystem, so dass auch blinde, stark sehbehinderte und hörbeeinträchtigte Menschen diese hören können, und so in die Lage versetzt werden, eine Straße sicher und selbstbestimmt überqueren zu können. Das war eine spannende Aufgabe, da ich mit so unterschiedlichen Themen konfrontiert wurde, die ich alle so aufarbeiten musste, dass sie für ganz unterschiedliche Zielgruppen verständlich wurden. Bei dem Autothema bedeutete das, dass der Autoindustrie nahegebracht werden musste, warum Autogeräusche für uns so wichtig sind, obwohl Autolärm doch eigentlich stetig abnehmen soll oder warum wir uneingeschränkte Assistenz ohne Voranmeldefristen in Eisenbahnhöfen benötigen, wo doch angeblich so viele Bahnhöfe barrierefrei sind. Das war toll und ich habe unendlich viel Wissen angehäuft, das ich auch in meiner jetzigen Arbeit gut verwerten kann.

Davor und im Anschluss habe ich in Indien und Myanmar gelebt, gearbeitet und studiert. Für mich waren dies ganz prägende Erfahrungen, sowie positiv als auch negativ, die mir ganz eindrücklich gezeigt haben, dass unsere hart erkämpften Rechtsansprüche und Nachteilsausgleiche in vielen asiatischen Ländern bisher kaum gelebte Realität sind. Viele Menschen mit Behinderung sind dort schon dankbar, wenn sie überhaupt in die Schule gehen dürfen, wenngleich sie keinerlei Hilfsmittel haben und so der meiste Unterrichtsstoff für sie überhaupt nicht zugänglich ist.

In anderen Ländern wirkt sich die Corona Pandemie genauso nachteilig für Menschen mit Behinderung aus, wie in Deutschland. Ich denke, man kann da nie objektiv von prekärer oder günstiger sprechen, da man alles immer im jeweiligen gesellschaftlichen und ökonomischen Kontext sehen muss. Eine Pflegeversicherung oder das persönliche Budget sind in vielen europäischen Ländern bisher nicht wirklich verwirklicht. Menschen mit Behinderung sind oft abhängig von ihren Familien oder von einer individuellen Assistenzkraft. Wenn die Familie oder die Assistenzkraft coronabedingt ausfällt, dann bedeutet das für die Betroffenen eine Riesenherausforderung, der sie oft hilf- und machtlos gegenüberstehen. Eine Frau mit Behinderung aus Belgien berichtete, dass sie nur eine Assistentin, eine examinierte Krankenschwester, hat, die momentan mit dem Corona Virus infiziert ist. Sie ist auf dem Weg der Genesung, jedoch wohl immer noch positiv und hat angeboten, auch mit Corona für ihre Assistenznehmerin arbeiten zu wollen. Die Frau mit Behinderung steht nun vor der schwierigen Entscheidung, wieder mehr Selbstbestimmung leben zu dürfen, jedoch mit dem Risiko selbst infiziert zu werden oder weiterhin ihr Leben drastisch einschränken zu müssen.

In asiatischen Ländern ist die Situation oft noch durch gravierende ökonomische Probleme verschärft. In Indien darf praktisch keiner mehr auf die Straße und es gibt ganz restriktive Lebensmittelbeschränkungen. Wenn Behindertenorganisationen Essen für ihre Klienten kaufen wollen, werden sie durch die indische Polizei oft durch Strafandrohung und körperliche Züchtigung daran gehindert. Diese Krise ist ein fruchtbarer Nährboden für Willkür, Machtmissbrauch und Unterdrückung derjenigen, die ohnehin schon benachteiligt werden. Ich denke das Ausmaß dieser Epidemie mit seinen sozialen und ökonomischen Folgen und deren Faktoren für die Wahrung oder Verletzung der Rechte von Menschen mit Behinderung wird erst viel später sichtbar werden.

kobinet-nachrichten: Wo sehen Sie derzeit den größten Bedarf für Aktivitäten der Behindertenbewegung?

Jessica Schröder: Wie oben schon angesprochen, empfinde ich die Triage Empfehlungen der intensivmedizinischen Fachgesellschaften und die Ad hoc Kommentierung des deutschen Ethikrates als extrem lebensfeindlich und bedrohlich für Menschen mit Behinderung. Dem muss durch die Behindertenbewegung unbedingt entgegengewirkt werden, um einer praktischen Umsetzung aktiv vorzubeugen. Die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung, sowie viele Selbstvertretungsorganisationen, andere Fachverbände und das Forum behinderter Juristinnen und Juristen haben ja schon entsprechend mobil gemacht. Das sollte unbedingt intensiviert und ein Austausch mit allen Fraktionen und relevanten Bundesministerien forciert werden. Schade finde ich, dass Verbände wie der VDK und auch der deutsche Behindertenrat bisher eine eindeutige und klare Positionierung vermissen lassen. Hier müssen alle Fach-, Sozial- und Selbstvertretungsverbände gemeinsam auftreten, um diese menschenrechtliche und verfassungswidrige Katastrophe abzuwenden. Wenn nicht, dann zementiert sich wieder das alte Stereotyp von Mensch mit Behinderung = unwertes Leben.

Aufpassen müssen wir auch, dass unsere Rechtsansprüche und unsere Nachteilsausgleiche weiterhin erhalten und stetig ausgebaut werden. Eine schwächelnde Wirtschaft darf kein Vorwand sein, um uns Menschen mit Behinderung unsere hart erkämpften Rechte wieder zu entziehen. Es ist eigentlich eine gute Zeit den Kampfgeist der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung wieder stärker zu reaktivieren und den Spruch „nichts über uns, ohne uns“ mit gelebter Praxis und wachsamer Energie zu beleben.

kobinet-nachrichten: Wenn Sie derzeit zwei Dinge verändern könnten, welche wären das?

Jessica Schröder: Meine Liebe wohnt weit weg und die Liebe ist etwas kompliziert, jedenfalls die Rahmenbedingungen. Kontaktverbot und Reiseeinschränkungen machen die Sache nicht besser. Ich möchte meinen Freund einfach gern bald wieder küssen und auch physisch lieben dürfen. Gern auch auf einer Wiese, denn im Gras liegen dürfen wir Berliner ja derzeit nicht.

Wenn ich könnte, würde ich gern die Rhetorik der Bundesregierung und ihre mündliche Transparenz etwas verändern. Konsens scheint zu sein, jedes Leben schützen zu wollen, aber in der Praxis wird noch zu wenig dafür getan. Schutz heißt auch, dass sich jede Bürgerin auf Corona testen lassen darf, ohne ständige Abweisung und die lapidare Aufforderung, sich in freiwillige Quarantäne zu begeben. Schutz heißt auch, dass Pflegepersonal leistungsgerecht bezahlt wird und über effiziente und ausreichende Schutzausrüstung verfügt. Für mich heißt Schutz aber auch, dass man Bürgerinnen und Bürger nicht langfristig zu unmündigen Menschen machen darf, deren Selbstbestimmungs- und Freiheitsrechte eingeschränkt werden. Mir ist klar, dass die momentane Situation für die Regierenden nicht leicht ist, aber ein intensiverer Dialog und Abstimmung mit den Bürgerinnen und Bürgern aller gesellschaftlichen Schichten ist dringend erforderlich, um den Zusammenhalt zu fördern und eine gesellschaftliche Spaltung, mit allen gravierenden Folgen, zu verhindern.

kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.