
Foto: Rolf Bathel
Berlin (kobinet) Dr. Sigrid Arnade, ehemalige Geschäftsführerin der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) wehrt sich gegen den Begriff der "Risikogruppen“. Kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul wollte das genauer verstehen und sprach mit Sigrid Arnade.
kobinet-nachrichten: Sie kritisieren den Begriff der „Risikogruppen“. Warum?
Sigrid Arnade: Es gibt sicherlich unter älteren und behinderten Menschen etliche Personen, die ein erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf einer COVID-19- Infektion haben. Aus diesem Grund aber gleich alle älteren und behinderten Menschen als „Risikogruppe“ zu bezeichnen, empfinde ich als stigmatisierend und gefährlich.
kobinet-nachrichten: Aber es soll doch dem Schutz der Betroffenen dienen, dass ihnen und allen anderen bewusst ist, dass sie sich besonders vor einer Infektion hüten müssen. Was ist daran falsch oder gar gefährlich?
Sigrid Arnade: Unterstellen wir einmal eine gute Absicht. Dann ist der Begriff schlecht und unsensibel gewählt. Eine Risikogruppe kann einerseits eine Gruppe sein, die selbst gefährdet ist. Es kann sich aber andererseits auch um eine Gruppe handeln, die ein Risiko für andere darstellt.
kobinet-nachrichten: Was befürchten Sie?
Sigrid Arnade: Die ganzen Vorsichtsmaßnahmen, die jetzt getroffen wurden, schränken die Menschen erheblich ein, führen zu psychischen Krisen, sind für nicht wenige Bürger*innen existenzbedrohend und werden massive wirtschaftliche Folgen haben. In so einer Situation sind Sündenböcke willkommen. Ich befürchte, dass die sogenannten „Risikogruppen“ stigmatisiert und letztlich für die Folgen der Pandemie verantwortlich gemacht werden. Alte und behinderte Menschen werden dann verachtet und gemieden – Exklusion pur.
kobinet-nachrichten: Was müsste Ihrer Ansicht nach geschehen, damit das nicht passiert?
Sigrid Arnade: Bewusstseinsbildung beginnt mit der Sprache. Man sollte bezüglich besonders gefährdeter Menschen nicht von „Risikogruppen“ sprechen, sondern von „vulnerablen“ oder „besonders gefährdeten Personen“ ohne pauschale Gruppenbildung nach Alter oder Diagnosen etc. Bei der anderen Bedeutung des Begriffs würde ich Risikogruppen eher bei denjenigen suchen, die für die Ökonomisierung des Gesundheitswesens verantwortlich sind. Dadurch sind viele vorher funktionierende Strukturen kaputt gespart worden. Würde das Gesundheitswesen nicht der Gewinnmaximierung, sondern der Gesundheitsmaximierung dienen, könnten wir diese Krise vermutlich besser mit weniger harten Einschnitten meistern.
Hmm,
man kann der Ansicht von Frau Arnade folgen, muss es aber nicht…
Also ich persönlich gehöre lieber zu einer Risikogruppe, als dass ich mich als „vulnerable Person“ bezeichnen lassen würde – denn aus dem vulnerable folgt doch automatisch – da ich nicht hochbetagt bin – dass ich eine spezielle Diagnose habe.
Viel schlimmer finde ich noch die Bezeichnung als Risikopatient – das habe ich meinem AG auch deutlich gesagt…