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Wenn Visionen Realität werden

Ottmar Miles-Paul
Ottmar Miles-Paul
Foto: Franziska Vu ISL

Kassel (kobinet) Heute vor einem Jahr sind weit über eine Million Menschen beim ersten weltweiten Klimastreik auf die Straße gegangen, haben auf die Gefahren des Klimawandels hingewiesen und massive Veränderungen eingefordert. Weniger zu Reisen und ein verändertes Mobilitätsverhalten waren dabei nur einige Forderung der meist jungen Demonstrant*innen. In seinem Kommentar blickt kobinet-Redakteur auf die Forderungen von vor einem Jahr zurück und darauf, wo wir heute zwar nicht aufgrund der Appelle der jungen Generation, aber aufgrund der Coronavirus-Pandemie sind.

Als ich heute vor einem Jahr an der Demonstration zum Klimstreik in Kassel teilgenommen habe, war ich fasziniert davon, wie Kinder und Jugendliche plötzlich auf die Straße gingen und sich für politische Veränderungen in Sachen Klimawandel stark machten. Eine Generation, von der man zeitweise dachte, dass sie vollends in ihre Handys, in Videospielen und in den sozialen Medien versinken würde und von der wir „Älteren“ glaubten, dass man sie kaum mehr draußen beim Spielen geschweige denn bei politischen Aktivitäten zu sehen bekommen würde. Da waren sie aber plötzlich massenhaft und kreativ auf den Straßen, angestoßen vom mutigen und anfangs sehr einsamen freitäglichen Protest eines damals noch 15jährigen schwedischen Mädchens mit Autismus vor dem schwedischen Parlament mit einem Schild zum Schulstreik. Dass der weltweite Klimastreik eine große Sache ist, war heute vor einem Jahr also überall zu spüren. Hätte mir aber damals auf dem Marsch durch die Kasseler Straßen jemand erzählt, wie unsere Welt heute, genau einmal ein Jahr nach diesem ersten weltweiten Klimastreik, aussieht, hätte ich nur den Kopf geschüttelt und wäre wahrscheinlich angesichts solcher schrägen Utopisten nach Hause gegangen.

Auch wenn die Gründe, warum heute die Welt ganz anders aussieht, wenig mit dem vernüftigeren Umgang mit der Klimakrise zu tun hat, sondern von der Coronavirus-Pandemie geprägt sind, lohnt es sich, einen Blick auf diese Entwicklung zu richten, zeigt sie doch, dass sich die Gesellschaft verändern kann.

Im Wikipedia-Eintrag zu Fridays for Future heißt es, dass am 15. März 2019 am ersten weltweit organisierten Klimastreik 1,8 Millionen Menschen an den Demonstrationen von Fridays for Future teilgenommen haben.

Beeindruckende Bilder waren das damals von Menschen, die statt in die Schule, Hochschule oder zur Arbeit zu gehen, auf die Straßen gingen. Morgen werden wir weit über die Grenzen Deutschlands hinaus erleben, dass Kindertagesstätten, Schulen, Hochschulen und viele öffentliche Einrichtungen ihre Türen geschlossen halten.

Die Jugendlichen kritisierten damals u.a. Kreuzfahrten als besonders energieaufwändig. Nachdem diese Kritik erst einmal weitgehend ignoriert und das Kreuzfahrtbusiness kräftige Zuwächse verzeichnen konnte, sind Kreuzfahrten nun erst einmal weitgehend passé. Einige Anbieter haben ihren Betrieb mittlerweile vorerst gänzlich eingestellt.

Die Autoindustrie zeigte sich trotz massiver Kritik in den letzten Jahren äusserst wenig beweglich für umweltverträglichere Alternativen und agierte zum Teil sogar höchst kriminell in diesem Bereich mit der Verschleierung von Abgaswerten. In Zeiten des Coronavirus ist die Autoproduktion mittlerweile massiv eingeschränkt – Ferrari hat beispielsweise die Produktion gestoppt. Neuzulassungen sind bereits in den ersten Monaten des Jahres massiv zurückgegangen.

Das Reisen, das gerade uns Deutschen als Reiseweltmeister*innen so heilig und wichtig ist, hat innerhalb kürzester Zeit einen kräftigen Dämpfer bekommen, der wahrscheinlich noch eine Weile wirken wird. Kurz- und längerfristige Reisen werden massenhaft abgesagt oder verschoben, Grenzen werden der Reihe nach geschlossen, so dass das Reisen momentan mehr eingeschränkt ist, als wir uns das je vorstellen könnten.

Damit verbunden sind fast tägliche Meldungen von massenhaften Streichungen von Flügen, allein die Lufthansa hat für die nächsten Wochen gut 30.000 Flüge gestrichen.

Messen, Veranstaltungen, Konzerte, Kinovorstellungen etc. etc. sind mittlerweile erst einmal rundum für geraume Zeit abgesagt. Die sozialen Kontakte sollen auf das Nötigste reduziert werden und in ersten Ländern gibt es sogar Ausgangssperren.

Diese Liste ließe sich noch fortsetzen und wir erleben die Auswirkungen langsam aber sicher in unserem eigenen Leben mit fast stündlichen Verschärfungen aufgrund der Ausbreitung des Coronavirus. Und wahrscheinlich werden wir ähnlich wie in Italien, Spanien und Frankreich auch noch erleben, dass viele Geschäfte schließen werden und das Shoppen bis auf Lebensmittel und Apotheken massiv eingeschränkt wird. Auch hier hatten Jugendliche immer wieder eine komsumkritischere Haltung angemahnt. Wir beginnen also, uns auf ein ganz anderes Leben einzurichten, als wir das bisher ganz selbstverständlich gewohnt waren. Die Welt um uns herum wird bis auf die Interaktionen im Internet und in den sozialen Medien kleiner und direkte soziale Aktivitäten werden auf’s Nötigste reduziert.

Welche massiven wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen all diese Maßnahmen haben werden, dürfte sich in den nächsten Monaten zeigen und darf hier nicht unerwähnt bleiben. Viele wirtschaftliche Existenzen sind massiv bedroht und machen vielen Menschen zurecht Angst. Viel Geld wird zwar in die Hand genommen, um das Schlimmste abzufedern, doch ob und wie das bei den einzelnen Gruppen auch ankommt, wird sich noch zeigen. Steuereinnahmen werden einbrechen und irgendwann wird man für all dies wahrscheinlich bitter bezahlen müssen, was für unsere soziale Absicherung sicherlich eine große Herausforderung werden dürfte.

Solche Vorschläge für Maßnahmen zum Stopp der rasant voranschreitenden Erderwärmung wären vor einem Jahr beim ersten weltweiten Klimastreik völlig utopisch gewesen und hätten nur Kopfschütteln ausgelöst. Und wie bemerkt, die heutige Situation hat auch nichts mit dem Kampf gegen die Klimakrise zu tun, auch wenn sie sicherlich einige zumindest kurzzeitige positive Effekte für die Umwelt haben dürfte. Sie zeigen meines Erachtens aber, was möglich ist, bzw. was getan werden muss und kann, wenn die Menschheit gezwungen wird, mit solchen Krisen umzugehen. Dabei könnten Einzelne bestimmt sagen, „was schert mich dieser Virus, ich bin jung und werde das höchst wahrscheinlich gut wegstecken.“ Aber hier setzt die Gesellschaft derzeit zum Glück auf Vernunft und Solidarität gegenüber denjenigen, für die eine Ansteckung schwere Folgen bis zum Tod haben kann, wie die Zahlen aus China und Italien belegen.

Welche Erkenntnisse bzw. Initiativen wir aus den Entwicklungen im Umgang mit der Corona-Pandemie für die Behindertenbewegung gewinnen können, ist eine gute Denkaufgabe für die nun kommenden ruhigeren Tage, die viele wahrscheinlich zu Hause verbringen werden. Sie zeigen, wenn es gewollt wird, bzw. notwendig ist, sind Veränderungen möglich, die man zum Teil nicht einmal zu denken gewagt hat. Kann Barrierefreiheit vielleicht wirklich mal zum Standard werden und können bestehende Barrieren gezielt abgebaut werden, weil sich mehr Menschen darüber bewusst werden, was diese für sie bewirken? Können wir Veranstaltungen und Sitzungen so organisieren, dass man dafür nicht hunderte von Kilometern durch die Republik reisen und dafür zum Teil sogar noch Übernachtungen in Kauf nehmen müssen? Und vor allem, schaffen wir es, dass an solchen Aktivitäten auch diejenigen barrierefrei mitwirken können, die behinderungsbedingt oder aus finanziellen Gründen einen solchen Aufwand nicht schaffen? Und können Unterrichtseinheiten, Bildungsinhalte und ähnliches nicht einfach auch ins Internet eingestellt und barrierefrei aufbereitet werden, so dass mehr individuelles und passgenaues Lernen möglich wird?

Vor einem Jahr war vieles nicht denkbar, was heute plötzlich zumindest kurz- bis mittelfristig Realität ist – mit all den Herausforderungen, die dies mit sich bringt. Was wäre möglich, wenn wir heute darüber nachdenken könnten, was wir vielleicht in ein bis zwei Jahren zur Realität machen könnten, was uns Menschen nicht bedrohen würde, wie die Corona-Pandemie, sondern allen Menschen nützen könnte?. Vielleicht bietet diese Krise, die sehr viele Menschen gesundheitlich, wirtschaftlich und sozial massiv trifft, auch Chancen für eine andere Art und Weise in dieser Welt und mit anderen inklusiv und barrierefrei zusammen zu leben, zusammen zu arbeiten, zusammen die Freizeit zu verbringen, zusammen etwas zu bewegen und zusammen dafür zu sorgen, dass es uns allen besser geht? Und vielleicht schaffe ich es auch irgendwann, solche Kommentare nicht mit solchen Schachtelsätzen und in Leichter Sprache zu schreiben?

Doch zurück zu Fridays for Future, denn auch hier gibt es gemischte Gefühle und die Herausforderung, neue Wege zu gehen. Die deutsche Klimaaktivistin Luisa Neubauer zeigte sich in einem ntv-Bericht enttäuschter denn je über den Umgang mit dem Klimawandel und sieht zugleich Licht am Ende des Tunnels. Deutschland müsse sich ein Beispiel am Krisenmanagement des Coronavirus nehmen, fordert die 23-Jährige. Greta Thunberg hat ebenfalls Empfehlungen zum Umgang mit der aktuellen Situation und bereits erste Ideen, wie der Protest anderweitig fortgeführt werden kann: „Wir können eine Krise nicht lösen, ohne sie als Krise zu behandeln und wir müssen uns hinter Experten und der Wissenschaft vereinen. Das gilt natürlich für alle Krisen. Nun fordern uns die Experten auf, große öffentliche Versammlungen zu vermeiden, um die Verbreitung des Coronavirus zu verlangsamen. Deshalb empfehle ich persönlich, das zu tun, was die Experten sagen. Vor allem in Risikobereichen. Wir jungen Menschen sind von diesem Virus am wenigsten betroffen, aber es ist unerlässlich, dass wir solidarisch mit den Schutzbedürftigsten handeln und dass wir im besten Interesse unserer gemeinsamen Gesellschaft handeln“, schreibt Greta Thunberg auf ihrer Internetseite. In ihrem Facebookpost zur 82. Schulstreikwoche teilte die Schwedin mit: „In einer Krise ändern wir unser Verhalten und passen uns den neuen Gegebenheiten zum größeren Wohl der Gesellschaft an. Du kannst dem #DigitalStrike beitreten, indem du ein Bild von dir postest.“ Mögen wir zukünftig viele Bilder der Solidarität und des Engagemants zu sehen bekommen.