
Foto: Verlag: EDITION OUTBIRD
Halle (kobinet) "Auch wir Menschen mit Behinderungen, mit Lebenslaufmaschen, wie ich sie liebevoll nenne, stehen in erotischer Hinsicht nicht im Dunkeln, wenn ich das als blinde Frau mal so sagen darf. Deshalb möchte ich heute auf ein Buch hinweisen, was wahrlich nicht nur meine Lese-Lust weckte", so beginnt die Rezension der Inklusionsbotschafterin Jennifer Sonntag des Buches "FUCK(dis)ABILITY" von Franziska Appel und Benjamin Schmidt.
Buchrezension von Jennifer Sonntag
Die AutorInnen Franziska Appel und Benjamin Schmidt bieten mit „FUCK[dis]ABILITY“ eine lustbetonte Möglichkeit, Berührungsängste, hier im wahrsten Wortsinn, zu durchbrechen und sich an ein Themenfeld heranzutasten, welches auf diese Weise literarisch und illustratorisch bislang ungesehen, ungelesen blieb.
Ich erlebe die künstlerische Annäherung der beiden an die Thematik „Sexualität und Behinderung“ als selbstbestimmt und empowernd. Spartanisch hat sich die Fachliteratur in der Vergangenheit über uns ohne uns Gedanken über unsere Sexualität gemacht, was ich selbst als erblindete Sozialpädagogin häufig anmaßend und befremdlich fand. Hinzu kam, dass Literatur zur „Sexualerziehung Behinderter“ mir zum Beispiel als Studentin und Fachbuchautorin häufig nicht ausreichend barrierefrei zugänglich war. Ein großer Teil unseres Personenkreises konnte also nicht einmal nachlesen, was sich für uns unzugänglich über unser sexuelles Dasein pädagogisch zusammengedacht wurde. Wie wunderbar, dass wir inzwischen Ausdrucksformen finden, nicht nur fachliche, auch kreative, uns selbst zu unseren Bedürfnissen zu äußern; mal lauter, mal leiser, so vielfältig wie wir eben sind und auch mit nichtbehinderten Menschen gemeinsam, wenn sie uns auf Augenhöhe begegnen.
Franziska Appel und Benjamin Schmidt statten ihre ProtagonistInnen bewusst schriftstellerisch und zeichnerisch mit ganz unterschiedlichen Behinderungen, nein, besser mit Markenzeichen aus. Als Makel erscheinen sie uns nicht. Interessant ist, für uns Betroffene ist es selbstverständlich – für die Umwelt noch nicht -, dass beide im echten Leben inklusive Beziehungen führen. Franziska kennt innerhalb ihrer Partnerschaft den Blickwinkel der Nichtbehinderten, Benjamin in seinen Begegnungen und Beziehungen die andere Sichtachse. Dadurch entstehen auch innerhalb der künstlerischen Prozesse vielseitige Perspektiven, konventionelle Konstellationen werden erfrischend umgestaltet, ungeeignete Rollenmuster und Glaubenssätze über Bord geworfen.
„FUCK[dis]ABILITY“ macht Einzigartiges und Eigenartiges spür-, schmeck-, sicht-, erlausch-, spannungsvoll erlebbar. Der Körper, der Geist, alles beginnt, sich neu zu verlieben. Da ist diese Aufregung, etwas zu kosten, was sich jenseits abgedroschener Gewohnheiten entspinnt. Die Behinderung wird nicht als Einschränkung wahrgenommen, sondern überhaupt erst als Möglichkeit betrachtet, einen Zugang zu echter erotischer Kreativität, tiefem Fallenlassen, wahrer Orgasmusfähigkeit zu schaffen. Viele vermeintlich freie Menschen erreichen das schwerlich, weil sie sich selbst nicht kennenlernen (müssen), keinen Weg der ehrlichen Kommunikation finden (müssen), keine echte Nähe aufbauen (müssen) und ihre inneren Lichtschalter nicht entdecken (müssen). Das Buch zeigt auf aufregende Art, was alles möglich ist und wer wir sein können, wenn der simple Weg mal nicht befahrbar ist. Geht nicht, gibt’s hier wirklich nicht.
Nach dem Lesen der Lektüre möchte ich fast fragen: „Wie ist denn erfüllender Sex ohne Behinderung überhaupt möglich?“ Viel mehr aber verschwimmt dieses übliche Sortieren in Perfekt und Unperfekt in einem Schmelztiegel aus gegenseitigem Begehren und Bereichern. Dieses Buch spricht Menschen an, die wachsen möchten, an sich, an ihrer Lust, an der Lust der/des Anderen. Ich bin dankbar für das Sichtbarmachen wichtiger Rollenmodelle, denn leider gibt es Menschen mit und ohne Behinderungen, die aus den verschiedensten Gründen „noch“ keine befriedigende Sexualität erleben. Folgen wir Franziska und Benjamin in ihre Geschichten und Bilder, werden wir selbst erfinderisch, finden wir unsere Liebeskunst, alles beginnt mit unserem persönlichen Blickwinkel, mit eigenen Gefühlen und Gedanken und dem, was wir daraus entwickeln.
Infos zum Buch:
FUCK[dis]ABILITY – Erotische Kurzgeschichten, verführerisch illustriert
Edition Outbird, 184 Seiten, Softcover
Printversion erhältlich überall, wo es Bücher gibt oder direkt beim Verlag: https://shop.outbird.net/produkt/benjamin-schmidt-franziska-appel-fuckdisability/
Als E-Book erhältlich auf folgenden Plattformen: https://www.feiyr.com/y/M4XWF
Bildbeschreibungen zu den Illustrationen unter: http://www.franziska-appel.de/Projekte/Fuck-Dis-ability/
Bei Fragen und Problemen rund um die Zugänglichkeit des Buches, gerne direkt an Franziska Appel wenden: E-Mail: [email protected]