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Zwei Stunden früher oder zwei Stunden später?

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Foto: kobinet

Erfurt (kobinet) Welches Glück und welche Anstrengungen damit verbunden waren, dass die Reisegruppe Niemand letzte Woche ihre Tour durch alle 16 Landeshauptstädte von und nach Berlin in 76 Stunden geschafft hat, zeigte sich bereits am Wochenende, an dem es einige Probleme bei der Bahn gab. In Teilen Bayerns stand am Samstagnachmittag der Bahnverkehr still und Jana Petersen von Selbstbestimmt Leben Hannover musste wegen Personalproblemen beim Mobilitätsservice zwei Stunden früher von der Mitgliederversammlung der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) zurück nach Hannover fahren.

Man stelle vor, der Vorstandsvorsitzende von VW erhält während der Aktionärsversammlung einen Anruf von der Bahn, dass es Personalprobleme gäbe und er jetzt entscheiden müsse, ob er zwei Stunden früher oder zwei Stunden später als geplant mit dem Zug fahren wolle. Daraufhin verlässt er hektisch die Veranstaltung, denn er hat noch wichtige Anschlusstermine, die er unbedingt wahrnehmen muss. So etwas würde Schlagzeilen machen und der ohnehin schon gebeutelten Bahn noch zusätzlichen Imageschaden beifügen.

Aber in einem solchen Fall würde sicherlich ein Hubschrauber oder schneller Flitzer für den Vorstandsvorsitzenden zur Verfügung stehen, um den wichtigen Herren von A nach B zur rechten Zeit zu bringen. Für Jana Petersen von Selbstbestimmt Leben Hannover war dies am Samstagvormittag nicht so, als sie den Anruf von der Mobilitätszentrale entgegennahm. Wegen Personalproblemen könne sie leider nicht mit dem geplanten Zug fahren. Es ginge nur zwei Stunden vorher oder zwei Stunden später. Um sicher zu gehen, dass sie rechtzeitig in Hannover ist, musste sich Jana Petersen schweren Herzens für den früheren Zug entscheiden und verpasste so den entscheidenden Teil der Mitgliederversammlung der ISL. Ärgerlich für sie, ärgerlich für die anderen, die sich mit ihr austauschen wollten und ärgerlich für ein System, bei dem mobilitätsbehinderte Menschen immer noch auf Sonderlösungen und Sonderunterstützungen angewiesen sind.

Das war auch eine Lehre aus der Bahntour der Reisegruppe Niemand, die bei ihren 28 Umstiegen erlebt hat, dass nach Voranmeldung stets genügend Personal zur Verfügung gestellt wurde und sich die Mitarbeiter*innen der Bahn richtig ins Zeug gelegt hatten. Es ging dabei natürlich auch um einen Weltrekordversuch. Auch wenn es beim Einsatz von Personal wie fast in jedem Bereich noch Verbesserungsbedarf gibt, wurde deutlich, dass es am System der Barrierefreiheit der Bahn krankt, das durch das Personal immer wieder repariert werden muss. Wenn die Hardware sich immer noch am jungen, fitten und flexiblen Reisenden ausrichtet, kann mit der Software nicht viel daran geändert werden. Die Realität und das Glück der Reisegruppe Niemand auf ihrer Tour mit dem Nahverkehr durch Deutschland kann also nicht als Gradmesser für die Alltagsprobleme mobilitätsbehinderter Menschen bei der Nutzung der Deutschen Bahn herhalten. Hier muss grundsätzlich – und vielleicht ist jetzt gerade die Zeit dafür – an einer Bahn der Zukunft für alle Menschen gearbeitet werden und natürlich die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, so der Tenor der Reisegruppe Niemand. Der Fokus müsse hier also auf das Management und die Politik gelegt werden, die einzelnen Mitarbeiter*innen müssten demgegenüber viel zu oft als Sündenböcke herhalten, wenn es Probleme gäbe.