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Das Soziale in der Ökonomisierungsfalle: „Nach Möglichkeit bitte wenden!“

Roland Frickenhaus
Roland Frickenhaus
Foto: Roland Frickenhaus

Jessen (Elster) (kobinet) Neben der Klimafrage ist die Sicherung des Sozialen die zweite gesamtgesellschaftliche Herausforderung unserer Tage. Auch hier haben wir Fakten zur Kenntnis zu nehmen, die uns sagen, dass ein "weiter so" nicht weiter so gehen kann. Uns steht eine unbequeme Diskussion bevor -ob wir das wahrhaben wollen oder nicht.

Da macht uns aktuell ein schwedischer Teenager klar, dass es scheißegal ist, ob wir in Nordkorea oder Hollywood leben, weil es ein größeres Ganzes gibt, das uns alle betrifft. Es spielt einfach keine Rolle, wo man im Boot sitzt. Die unser Über- und Zusammenleben betreffenden Fragen machen nicht dann Halt, wann wir es wollen und sie lassen sich nicht nach Lust und Laune an- und/oder ausknipsen.

Während das Thema „Klima“ es endlich auf die (globale) Agenda geschafft hat, steht das dem zweiten wichtigen Thema, nämlich dem Bereich des Sozialen, noch bevor.

Denn auch hier hat das System seinen maximal möglichen Punkt der Expansion erreicht und schon seit Jahren beschäftigen uns die Nebenwirkungen mehr als die Wirkungen. Hier reichen als Stich- bzw. Reizworte schon die Begriffe „Pflegenotstand“ oder „Fachkraftmangel“.

Wie kann man ernsthaft davon überzeugt sein, dass wir dann keine Probleme mehr haben werden, wenn es uns gelingt, mexikanische Ärztinnen und Ärzte und Pflegerinnen und Pfleger aus Vietnam zu uns zu holen? Besteht dort ein solches Überangebot an Fachkräften, dass wir den Ländern geradezu einen Gefallen tun, wenn wir ihnen einige Fachkräfte abnehmen? Wie wird sich die Versorgungslage in diesen Ländern entwickeln?

Das ist ebenso naiv wie seinerzeit der „Blaue Umweltengel“.

Im Bereich der Diskussionen um das Klima hat es Jahre gedauert, bis man sich traute, zu sagen, was alle wussten. Dieses unselige Getue sollten wir uns bei der nun zu führenden Sozialdebatte schenken und lieber einstimmig konstatieren, dass das System von sich aus nicht in der Lage ist, sich so radikal zu ändern, wie es aufgrund der Faktenlage sein müsste.

Pflege-TÜV, Qualitätssicherung, das Dokumentieren bis zur eigenen Persiflage und das „Fachkraft-Mantra“ sind beileibe nicht der große Wurf, der bisher zur Erholung des Systems geführt hat. Dieses System hat die Grenzen des Möglichen erreicht und die Nebenwirkungen übersteigen die Wirkungen.

Und, Hand auf’s Herz, das hochgeschätzte BTHG hat schließlich genau aus diesem Grund nur „Licht der UN-BRK“ abbekommen, weil es mehr nicht gibt und mehr nicht geht. Anders würde es gehen, aber das ist so unpopulär, wie Diesel mit Add-blue oder Fahrverbote in Großstädten.

Es hat Nachteile, wenn man das Soziale so sehr professionalisiert, dass die sozialen Kompetenzen in der Fläche verschwinden und selbst wieder soziale Bedarfe generiert. Es ist höchste Zeit, in den Kindergärten und Schulen Dinge wie Demut, Ehrlichkeit und Hilfebereitschaft zu unterrichten. Kann denn dem Nachbarn, der Geldsorgen hat, tatsächlich nur eine Schuldnerberatungsstelle helfen, braucht die Familie, die einen internetsüchtigen Filius hat, ausschließlich ein professionelles Beratungsangebot? Können wir einander nicht helfen oder dürfen wir nicht können?

Wie wichtig ist eigentlich noch, dass wir aufeinander achten, wenn doch für jeden und jede Lebenslage irgendwo ein professionelles Angebot existiert? Der Mensch als soziales Wesen vermarktwirtschaftlicht seinen Wesenskern: Das Soziale und schlingert derweil fremd durch sein eigenes Leben, das so lange gut zu ihm ist, wie er niemanden „zur Last“ fällt und er sich finanziell gegen das „Risiko Leben“ absichert.

Wer hat denn die Lüge in die Welt gesetzt, dass das Leben autark zu leben geht und dass wir einander nicht auch zur Last fallen dürfen? Gelingendes Leben bedarf der Last!

Die Professionalisierung des Sozialen hat parallel zur Industrialisierung stattgefunden. Menschen, die sich gegenseitig umeinander kümmern, sind nicht gut für das kapitalistische System, das auf Ausbeutung und Gewinnmaximierung ausgelegt ist. Der Mensch hat störungsfrei zu funktionieren und für die Minimierung von Störungen und Störanfälligkeiten sind dann die Profis, die Ärzte, Apotheken, Psychologen Sozialarbeiter und Pflegekräfte da.

Seit Jahren haben wir keine Vollbeschäftigung mehr, der Arbeitsmarkt braucht gar nicht mehr so viele „störunanfällige“ Menschen, wie ihm zur Verfügung stehen. Und trotzdem gehen das Professionalisieren und das Ökonomisieren weiter. Da stehen Betten in Pflegeheimen leer, da unterlaufen Einrichtungen die vorgegebenen Fachkraft-/Personalschlüssel aber alle machen weiter, als sei das lediglich eine Episode und eine Talsohle, aus der uns Pflegeroboter und sonstige technische Assistenzsysteme retten werden.

In Einrichtungen der Altenhilfe arbeiten Menschen, die nach wenigen Jahren ausgebrannt und körperlich kaputt sind. Die Quote von Abbrechern*innen in Sozialberufen ist besonders hoch. Burnout und sonstige psychischen Erkrankungen sind nahezu so etwas wie eine Berufserkrankung geworden, wie seinerzeit die Staublunge bei den Bergleuten.

Wenn wissenschaftliche Studien belegen, dass Altenpfleger*innen mehrheitlich nicht selbst einmal in einem Heim gepflegt werden wollen, dann stimmt was nicht und da dürfen die „Big Five“ (die großen Wohlfahrtsverbände), nicht so tun, als sei alles paletti. Wir haben Hausaufgaben zu erledigen und Diskussionen zu führen, die nicht einfach sein werden.

Auch die Autoindustrie redete sich bis zuletzt alles schön und war aber schon vor zwanzig Jahren in der Lage, ein 3-Liter-Auto zu bauen. Wenn die großen Verbände eine zunehmende Verrohung der Gesellschaft kritisieren, dann hängt das das sicher auch mit dem vielbeklagten „Werteverlust“ zusammen. Wohin aber sind denn die (verlorenen) Werte gegangen? Sicherlich auch in professionelle Sorge- und Kümmerstrukturen. Macht Euch stark, dass Soziale Themen in Stundenplänen auftauchen und betont die Notwendigkeit des Ehrenamts!

Die Menschen können viel mehr und sind in der Lage, mehr zu können, als jeder für sich zu leben, um dann irgendwann in irgendeine Beratungsstelle zu gehen, um sich professionelle Hilfe zu holen, weil Alleinsein auch keine Lösung ist. Das Fördern und Entwicklen sozialer Kompetenzen ist dringend notwendig.

Wir müssen einander wieder zur Last fallen dürfen können! Und wenn wir dabei nicht so perfekt sind, wie es vielleicht in professionellen Strukturen der Fall ist, dann können die Profis ja immer noch assistieren.

Oma Klawuttke will doch nicht deshalb ins Pflegeheim, weil es da so toll ist, sondern weil sie niemanden zur Last fallen will! Damit sie in ihrer vertrauten Umgebung bleiben kann, muss Hilfe so organisiert werden, dass sie keine Last ist, bzw. die Hilfe nicht als Last empfunden wird.

Fachkräfte könnten helfen, soziale Netze aus Familie, Nachbarschaft und Freunden zu knüpfen, damit individuelle Hilfesettings entstehen und dann diese Hilfenetzwerke beraten und coachen.

Bei den Diskussionen rund um das Klima wird deutlich, dass es sich um ein Thema handelt, das alle angeht und dass deshalb auch alle mitspracheberechtigt sind und mitsprechen. Noch befindet sich die Soziale Frage im Dornröschenschlaf und Jens Spahn und der gemischte Wohlfahrtschor singen ihr monotones Wiegenlied. Es wird uns ähnlich kalt erwischen, wenn wir nicht bereit sind, alles infrage zu stellen und radikal und ohne Denkverbote nach neuen Antworten zu suchen. In der „Ökonomisierungsfalle des Sozialen“ sitzt nämlich nicht die Ökonomie sondern der Mensch.

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sellemo
25.10.2019 21:34

Sehr gut geschriebener Artikel. Und vor allem absolut zutreffend.

Ich würde sogar sagen, dass „die soziale Frage“ eigentlich die Hauptfrage ist, mit der wir uns beschäftigen sollten.

Wenn wir auf einer weltweiten Ebene miteinander wertschätzend, fair und respektvoll umgehen, dann werden wir gleiches wahrscheinlich auch im Umgang mit Tieren, Pflanzen und mit der Erde an sich tun.

Und die meisten der Schwierigkeiten, denen wir im Zusammenhang mit der Klimakrise gegenüberstehen, rühren ja zum großen Teil aus der komplett unfairen Art und Weise des globalen Wirtschaftens.