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Ist das Teilhabe oder kann das weg?

Roland Frickenhaus
Roland Frickenhaus
Foto: Rolanf Frickenhaus

Jessen-Elster (kobinet) Was hat eigentlich das Bundesteilhabegesetz mit Teilhabe zu tun, wo es doch offensichtlich um die Beteiligung des Bundes geht?

Diese Frage stellt man sich, wenn man das Bundesteilhabegesetz (BTHG), das wohl treffender „Bundesbeteiligungsgesetz“ heißen müsste, genauer betrachtet. Keine vierundzwanzig Monate und erst ein Reparaturgesetz* später, stellt sich die Frage, wer denn dem Kaiser endlich sagt, dass er keine Kleider anhat.

*= Weil Sprache Denken ist, sei angemerkt, dass die Bezeichnung „Reparatur“ falsch ist, denn „repariert“ wird etwas, das zuvor intakt war. „Unter Reparatur (von lateinisch reparare „wiederherstellen“) bzw. Instandsetzung wird der Vorgang verstanden, bei dem ein defektes Objekt in einen funktionsfähigen Zustand zurückversetzt wird“ (WIKIPEDIA). Der Begriff „Reparaturgesetz“ soll also implizieren, dass etwas wiederhergestellt wurde, das zuvor bereits schon funktioniert hat. Dem ist aber nicht so. Ja, wenn man nicht genau wüsste, mit wem man es zu tun hat, könnte man das als kleine Unachtsamkeit durchgehen lassen.

Da haben unsere Damen und Herren MdB im Jahr 2016 ein Gesetz über’s politische Knie gebrochen, das die Eingliederungshilfe reformieren sollte und bei dem sich aber nun immer deutlicher zeigt, dass es dazu gar nicht das Zeug hat. Schadenfreude und hämisches Grinsen allerdings verbieten sich, denn das Thema der Teilhabe ist zu wichtig, auch wenn noch gut erinnerlich ist, wie ignorant und getrieben von der Angst vor der nächsten Wahl nahezu sämtliche Bedenken beiseite gewischt wurden.

Das, was sich aktuell vor unser aller Augen abspielt, hat nichts mit den üblichen Anlaufschwierigkeiten, die bei „Systemwechseln“ dieser Größenordnung zwangsläufig auftreten, zu tun, sondern das, was wir aktuell erleben, ist das Versagen eines Gesetzes, dem man von Anfang an zu viel zugemutet hat.

Die Länder, die eigentlich sparen wollen, reiben sich ungläubig die Augen: Die Bedarfsermittlung, das Erstellen (Überprüfen und Fortschreiben) von Gesamt- und Teilhabeplänen ist mit dem aktuellen Personalbestand in den Behörden gar nicht zu schaffen. Da müssen jede Menge Stellen ausgeschrieben und Mitarbeiter*innen zusätzlich eingestellt werden. Da sind Schulungen zu den jeweiligen Bedarfsermittlungsinstrumenten durchzuführen, da ist Geld für Beratung und Geld für Lizenzen auszugeben, da müssen Büros eingerichtet und da muss Software angeschafft werden. Da fallen Fahrtkosten und sonstige Aufwendungen an, die erhebliche Mehrkosten verursachen.

Wenn die Sozialhilfeträger merken, dass es statt Einsparungen sogar Ausgabensteigerungen gibt, dann dürfte klar sein, in wessen Portemonnaie da auf Suche gegangen werden wird, um sich diese Mehrausgaben zu „refinanzieren“.

Für Leistungsberechtigte wird es aber auch nicht besser. Denn nach wie vor ist es als Skandal zu bezeichnen, wenn im unmittelbaren Bezug zur UN-BRK formuliert wird, dass Leistungen zur Teilhabe künftig nur auf Antrag gewährt werden, während bisher die Kenntnisnahme der Behörde ausreichte. Das hat mit Teilhabe nun wirklich gar nichts zu tun. Vielleicht kommt ja die Feuerwehr irgendwann auch nur noch „auf Antrag“.

Und wer nach 65 Jahren erstmals an die Tür eines Sozialhilfeträgers klopft, wird direkt an die Pflegekasse durchgereicht. Schöne neue Welt.

Ja, und was der Mehrkostenvorbehalt in der Praxis bedeutet, kann sich die freundliche Sachbearbeiterin, die für die Buchstaben „A-I“ oder das Postleitzahlengebiet xy zuständig ist, gern einmal von Menschen wie Markus Igel erklären lassen.

Während in „Brexitannien“ der Spruch „my home is my castle“ gilt, lautet er in Good old Germany: „my home is my besondere Wohnform“. Vorwärts und nicht vergessen, woher unser Heimwesen kommt. Fachlich ist alles erforscht, gesagt niedergeschrieben und gepowerpointet, aber die Verwaltung hält nach wie vor an „Gruppen von Hilfeempfängern mit vergleichbarem Hilfebedarf“ fest und denkt sich lieber neue Begriffe für alte Kamellen aus, als gäbe es auf dem Weg zu einer echten gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung irgendwie eine Abkürzung.

Wohnformbetreiber werden durch das BTHG über Nacht zu immobilienverwaltenden Finanzdienstleistern, die die BAFIN und das Finanzamt fürchten müssen, weil sie für erbrachte Verpflegungsleistungen umsatzsteuerpflichtig werden und ihre Gemeinnützigkeit verlieren könnten. Auch das hat nichts mit Teilhabe zu tun. Und wem es nicht gelingt, Leistungen anzubieten, die mindestens 66% unter dem Höchstpreis liegen, kann einpacken und für diejenigen, die bei ihm Leistungen beziehen, war es das dann.

Die stufenweise Umstellung auf das BTHG ist mittlerweile so komplex, dass den Leistungserbringern BTHG-Zuschläge gezahlt werden, damit sie die zusätzlichen Aufgaben, die sie nun zu leisten haben und die weder ihrem Kerngeschäft noch ihrer Kernkompetenz entsprechen, überhaupt schaffen.

Künftig wird man sich auch noch zur Wirksamkeit von Leistungen vereinbaren. Für denjenigen, für den der Mensch lediglich ein Ding ist, ist das sicher easy, für alle anderen aber ein schwieriges Thema und ein verdammt dünnes Eis.

Nachdem sich ganze Heerscharen in kostenintensiven Seminaren zu ICF-Experten haben qualifizieren lassen, stellt man mit Verwunderung fest, dass nicht in allen Teilhabebereichen Hilfebedarfe ermittelt und Leistungen quantifiziert werden sollen.

Man, ist das schlecht gemacht! Vielleicht hilft es, sich noch einmal kurz daran zu erinnern, dass Menschen mit Behinderungen den Anspruch auf eine bedarfsgerechte Hilfe/ Leistung haben.

Und vor der Bescheidung von Leistungen kommt die Ermittlung des Bedarfes. Soweit so gut und soweit die Theorie. Welchen ICF-Bedarf wird man wohl bei einer Person ermittelt haben, der man als „bedarfsgerechte Leistung“ einen „Arbeitsplatz“ in einer Werkstatt für behinderte Menschen finanziert, auf dem sie Nistkästen zusammenleimt?

Seit nun fast zwei Jahren haben Menschen mit Behinderungen einen Anspruch auf eine ICF-basierte Feststellung ihres Bedarfes, während Sachsen-Anhalt noch nicht mal ein Verfahren hat, um Bedarfe überhaupt feststellen zu können. Da wird Recht gebeugt, weil man einfach nicht hinterherkommt und die Latte höher gehängt hat, als man tatsächlich springen kann.

Auch die gesetzlichen Betreuer*innen stöhnen unter den zusätzlichen Aufgaben, die ihnen von den BTHG-Macher*innen übergeholfen wurden: Sie müssen Konten anlegen, Leistungen bei unterschiedlichen Leistungsträgern zu beantragen, Überweisungen zu tätigen, Verträge unterschreiben und haben jede Menge zusätzlichen Papierkram zu erledigen. Es wundert daher nicht, dass es eine stattliche Zahl von ehrenamtlichen Betreuer*innen gibt, die hinschmeißen, weil das alles nichts mehr mit dem zu tun hat, wofür sie angetreten sind.

Nein, das BTHG, wie gesagt: „Bundesbeteiligungsgesetz“ wäre zutreffender, hat nicht wirklich das Zeug, Teilhabe zu sichern. Aus den Paragrafen weht der Geist von Misstrauen, gepaart mit Sparwillen und einem antiquierten Beamtendünkel. Mit diesen Eigenschaften kriegt man weder die Steuererklärung auf einen Bierdeckel oder die angeschaffte Sommerzeit wieder abgeschafft. Und etwas ethisch so Anspruchsvolles, wie „gesellschaftliche Teilhabe“, gelingt gleich gar nicht.

Schließlich ist doch die Frage von Teilhabe die Frage nach unserem gesellschaftlichen Zusammenleben. Es geht um Werte, nicht um Geld. Es geht um Ethik, Menschenbild und um Moral, aber nicht um Moneten. Ist das die Gesellschaft, in der wir leben wollen? Ist das der Teilhabe-Platz, den die Menschen, die wir als „behindert“ bezeichnen, „verdient“ haben und den wir, eine der reichsten und fortschrittlichsten Nationen der Erde, für sie als „angemessen“ erachten? Ist das tatsächlich unser Verständnis der UN-Behindertenrechtskonvention?

Seit nun fast zwei Jahren läuft der Kaiser nackt durchs Dorf und seine Untertanen haben nicht den Mumm, ihm das zu sagen. Stattdessen wird kollektiv ein totes Pferd geritten, weil niemand als Spielverderber dastehen will. Hier sind es Insbesondere die großen Wohlfahrtsverbände in der Pflicht, die sich im Spagat zwischen Markt und Mildtätigkeit regelmäßig überdehnen und die man am liebsten mal schütteln möchte, damit ihnen ihre eigenen Leitbilder wieder in den Sinn kommen.

Es ist höchste Zeit, die Bremse zu ziehen. Noch kann umgesteuert werden, noch bleibt ein gutes Vierteljahr, bis die entscheidende Stufe des BTHG in Kraft treten wird. Dieser Zeitraum ist für das, was zu regeln ist, eindeutig zu kurz.

Es fehlt Zeit. Zeit für Gespräche und Gutachten, Zeit für Verfahrensanweisungen, Empfehlungen und Handreichungen. Zeit zum Nachbessern des Gesetzestextes, Zeit für Fort- und Weiterbildungen, Zeit zur Personalgewinnung, Zeit für Informationsveranstaltungen und Zeit zur Umstellung in Verwaltung, Behörden und Ämtern.

Es müssen sich nur ein paar Mutige finden, die dem Kaiser den Applaus verwehren. Es braucht dazu etwas, das in unserer neoliberalen Glubberwelt allerdings selten geworden ist: Courage.

DAS jedenfalls ist keine Teilhabe, DAS kann weg!

Lesermeinungen

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2 Lesermeinungen
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Sven Drebes
29.09.2019 18:21

Das BTHG hat hochproblematische Teile – etwa den Mehrkostenvorbehalt und die Preisdrücker-Klausel. Da hat Herr Frickenhaus Recht. In anderen Punkten widerspreche ich aber.
Die Trennung in Lebensunterhalt und „Fachleistung“ ist ein wichtiger Baustein für (zumindest etwas) mehr Selbstbestimmung in den Einrichtungen. Warum soll man das Mittagessen nicht mal am Freitag anders regeln, wenn man keinen Fisch mag? Wenn man das anerkennt, gehört dazu auch, dass Umsatzsteuer für das fällig wird, was man auch woanders bekommen kann. Und mir kann niemand erzählen, dass es die Buchhaltungen der Träger vor anspruchsvolle oder gar unlösbare Aufgaben stellt, die Umsatzsteuer für Essen und Klopapier zu berechnen.

Auch das Jammern darüber, dass jetzt Bankgeschäfte nötig wären, wird schnell verfliegen. Andere Betreuer schaffen das schließlich auch.
Wer Schwierigkeiten mit Bedarfsermittlungs-Instrumenten hat, die wirkllch danach fragen, was der behinderte Mensch braucht, sollte sich fragen, wie er die Leistungen bisher festgelegt hat. Auch hier gilt, einige Behörden nutzen solche instrumente seit Jahren.
Und leider wird der Satz mit den Gruppen mit vergleichbarem Bedarf wieder mal in den falschen Zusammenhang gebracht. Dieser bezieht sich nicht auf die Leistung an sich, sondern auf die Vergütungssätze (!) dafür. Wäre es nicht absurd, für jeden Kunden extra Stunden- oder Tagessätze zu errechnen oder zu verhandeln?

Schließlich hätte auch eine längere Vorbereitungsphase nichts gebracht. Behörden Träger und (einige) Länder hätten auch fünf oder zehn Jahre nur dazu genutzt, zu hoffen, dass der Bund doch noch „zur Besinnung“ komme doch noch und alles so bequem (und fremdbestimmend) lasse wie bisher.
Hinter vielen Klagen steckt wohl eher die berechtigte Sorge, dass das BTHG doch mehr Potenzial zur Deinstitutionalisierung in sich hat, als es zunächst schien…

rgr
16.09.2019 12:33

Orientierung am ICD-10 – ein Fortschritt der Diagnostik?

Hospitalismus begleitet das gepoolte Sein seit es Hospitäler, Sanatorien, Heime und Knäste gibt. Diese Erkrankung wird mit Vernachlässigung in Verbindung gebracht. Diese Einrichtungen folgen in ihrer Rationalität Vorbildern, welche aus Fabriken und Schlimmeren entlehnt sind, ohne reflektiert zu Verantworten, das es um Leben und Gesundheit geht. Der Begriff Hospitalismus ist griffig, da er die Lebensstruktur mit der Struktur von Einrichtungen in einem ursächlichen Zusammenhang fasst.

Doch was geschieht, wenn Untersuchungen des Hospitalismus diese Strukturen nicht mehr hinreichend in eine kritische Betrachtung nehmen?

Nach Klassifikation des ICD-10 soll Hospitalismus folgendermaßen erhoben werden:
F43 Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen
F94.1 Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters
F94.2 Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung
(Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Hospitalismus)

Was geschieht, wenn Hospitalismus nurmehr ‚Depression‘ genannt wird und als Depression womöglich medikamentös behandelt wird? Ich denke es ist ein Verbrechen.