
Foto: Kathina Schubert
BERLIN (KOBINET) Matthias Vernaldi (Jahrgang 1959) sieht das Engagement behinderter Menschen für ihre gesellschaftliche Teilhabe verhöhnt. Der einstige Kommunarde von Hartroda, wo sich zu DDR-Zeiten eine Wohngemeinschaft junger Leute mit und ohne Behinderung durchs Leben kämpfte, wohnt seit 1995 in Berlin und engagiert sich für ein selbstbestimmtes Leben mit persönlicher Assistenz. Im Gespräch mit dem Berliner kobinet-Korrespondenten sagt heute Vernaldi: "Wir müssen sagen, wo es weh tut, wo wir nicht dazu gehören, wo wir zu Menschen 2. Klasse degradiert werden. Mein ganzer Alltag ist voll davon."
kobinet: Kampf für Behindertenrechte hat dein Leben geprägt. Wie fühlst du dich heute?
Matthias Vernaldi: Wenn wir von Behindertenrechten reden, ist das ein Zeichen davon, dass es neben uns Behinderten (ich lass jetzt mal das „Menschen“ weg, weil ich finde, dass sich das von selbst versteht) kaum eine Gruppe gibt, die so stark und weitreichend diskriminiert wird. Es gibt nämlich gar keine speziellen Rechte behinderter Bürger. Wir kämpfen um Menschen- und Bürgerrechte, darum, dass sie auf alle anwendbar sind. Das müsste eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, weil die gleichen Rechte für alle die Grundlage eines demokratischen Staates bilden.
kobinet: Dann kam die UN-Behindertenrechtskonvention …
Matthias Vernaldi: … als die immer mehr zum Thema wurde, wurde mir erst klar, wie empörend es ist, dass ein halbes Jahrhundert vergehen musste, dass eine solche Erklärung auf die UN-Menschenrechtskonvention folgte. Normalerweise hätte sie ein Anhang oder eine Fußnote zur Menschenrechtskonvention sein müssen. So aber mussten und müssen wir unsere Rechte einfordern und erkämpfen – als gesellschaftliche Gruppe und seit Jahren auch politische Größe, aber eben auch als einzelne Bürger, die für eine Bedarfsdeckung der Assistenz, Schulhelfer für ihr behindertes Kind oder Kfz-Beihilfe vom Sozialamt ringen, oft erfolglos. Und nun wird es also ein Gesetz geben, was von uns seit Jahren eingefordert wurde und zu dem wir uns vielfältig, eifrig und dezidiert positioniert haben. Und dieses Gesetz schreibt in seiner jetzigen Form die Diskriminierung fest und verschärft sie an manchen Punkten sogar noch! Unsere Anliegen wurden weitgehend einfach ignoriert.
kobinet: Du sprichst vom Bundesteilhabegesetz, dessen Entwurf in der Ressortabstimmung ist.
Matthias Vernaldi: Unser Engagement wird damit offen verhöhnt. Das Zustandekommen dieses Gesetzes mit diesen Inhalten ist ein schlechtes Zeichen für die demokratische Kultur unseres Landes. Besser gar kein Gesetz, als dieses! Sehr viel ehrlicher und unschädlicher wäre es gewesen, wenn seitens der Regierung gesagt worden wäre: „Tut uns leid. Was ihr fordert, hat seine Berechtigung. Aber wir werden es gesetzgeberisch nicht umsetzen. Uns fehlen die Mittel und der Mut.“
kobinet: Was kann eine emanzipatorische Behindertenbewegung an diesem Punkt noch bewirken? Lassen sich die befürchteten Verschlechterungen bei der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben noch abwehren?
Matthias Vernaldi: Ich bin da ratlos. Eigentlich wurde alles getan, was getan werden konnte – und es wurde von den Verantwortungsträgern ignoriert. Vielleicht hätten wir weniger freundlich sein müssen. Dieses ganze Sich-mit-Politikern-Filmen-lassen, diese Tralala-Inklusions-Schlager und Fackelübergaben sind und waren ja auch schon immer zum Fremdschämen. Ich finde, wir müssen sagen, wo es weh tut, wo wir nicht dazu gehören, wo wir zu Menschen 2. Klasse degradiert werden. Mein ganzer Alltag ist voll davon. Den Politiker sollten vielmehr die Stresshormone einschießen, wenn sie uns auch nur von weitem sehen.
kobinet: Mehr jüngere Leute als sonst waren beim Europäischen Protesttag zur Gleichstellung behinderter Menschen und den Aktionen danach dabei. Wie steht es um den Nachwuchs in den Selbstvertretungsorganisationen?
Matthias Vernaldi: Es gibt hier die selben Probleme wie bei anderen emanzipatorischen Bewegungen auch. Die Aktionsformen von damals passen nicht mehr so richtig und die kreativen (oder ehemals kreativen) und verantwortungsvollen Positionen sind von den alten Säcken besetzt. Viele der „alten Kämpfer“ sind ja selbst Teile des Systems geworden und arbeiten jetzt mehr oder minder gut bezahlt in Vorständen, Beratungsstellen oder Ministerien.
kobinet: Und die nächste Generation?
Matthias Vernaldi: Die heute 30- bis 40-jährigen nutzen ganz selbstverständlich die neue Netzöffentlichkeit. Daraus ergeben sich neue Formen der Teilhabe und des Einforderns von Rechten. Allerdings ist noch nicht klar, was das bezüglich der politischen Kultur bedeutet. Die Entwicklung des Bundesteilhabegesetzes bestätigt mich da eher in meinen Vorurteilen. Die Krüppel bloggen mehr oder weniger originell, stellen Selfies von sich, ihren Katzen und Rollstühlen ein und betonen, dass sie genauso gern vögeln wie alle anderen und dabei auch genauso wählerisch sind; und die Politiker machen eben einfach ein Gesetz, das selbst die stärksten Kerle aus ihren aufgepimpten Rollstühlen haut.
kobinet: Aktionen?
Matthias Vernaldi: Jetzt erst kommt man wieder zu Aktionsformen ohne Schlagermusik und Luftballons. Leider bin ich auch schon zu weit ins System eingewachsen (ich sitze in einer Menge ehrenamtlicher Gremien, Beiräten und Betroffenenvertretungen), als dass mir noch viele Ressourcen blieben, dabei mitzumachen, zumal ich körperlich in den letzten 10 Jahren enorm abgebaut habe. Ich freue mich jedenfalls darüber, was seitens der engagierten Behinderten gerade abgeht. Schade nur, dass es einen solchen Anlass braucht.