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Selbstvertretung wird erwachsen

Stefan Göthling am Telefon
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LEINEFELDE (KOBINET) Für Stefan Göthling ist der 19. April ein besonderer Tag. Denn heute vor 18 Jahren ist er mit einer Gruppe von SelbstvertreterInnen und engagierten UnterstützerInnen in die USA geflogen. Dort lernte er die Selbstvertretungsbewegung von Menschen mit Lernschwierigkeiten, People First, kennen. Dies war für ihn ein Schlüsselerlebnis, denn damals wurde hierzulande noch vielen Menschen, die geistig behindert genannt werden, die Selbstvertretung abgesprochen. Die deutsche Selbstvertretungsbewegung von Menschen mit Lernschwierigkeiten kann heute also nach Ansicht des Geschäftsführers von Mensch zuerst ihren 18 Geburtstag feiern und ist somit erwachsen.



„Der Austausch mit People First, der damals von Uli Niehoff von der Bundesvereinigung Lebenshilfe und von Susanne Göbel initiiert wurde, war für mich ein Schlüsselerlebnis“, erklärte Stefan Göthling gegenüber den kobinet-nachrichten. „Damals wurden mir sozusagen die Augen geöffnet. In Oregon in den USA konnte ich nämlich live und in Farbe erleben, dass vieles von dem, was uns hier immer wieder eingeredet wird, nicht stimmt. Denn mit einer guten Unterstützung ist es sehr wohl möglich, dass Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden und zum Teil sehr hohen Unterstützungsbedarf haben, sich in vielen Bereichen selbst vertreten können“, erklärte Stefan Göthling. Dies reiche vom Mitmischen bei politischen Entscheidungen, bis hin dass die Willensbekundungen von Menschen mit sehr hohem Unterstützungsbedarf erkundet und ernst genommen werden.

„In den USA haben wir gelernt, dass die Worte, die genutzt werden, sehr wichtig sind. ‚People First‘, also dass wir zuerst Menschen sind, statt nur ‚Behinderte‘ oder gar ‚geistig Behinderte‘ ist für sich schon eine starke Botschaft. Aber gerade Begriffe wie ‚geistig behindert‘ stören uns gewaltig, deshalb haben wir den Begriff ‚Menschen mit Lernschwierigkeiten‘ genommen“, betont Stefan Göthling. Aber auch die Leichte Sprache, die in den USA schon lange vor Deutschland genutzt wurde, sei ganz wichtig für die deutsche Selbstvertretungsbewegung von Menschen mit Lernschwierigkeiten. „Denn wie sollen wir uns für unsere Rechte einsetzen, wenn wir nicht verstehen können, worum es geht. Das merken wir auch jetzt bei den Diskussionen zum Gleichstellungsgesetz. So wichtig es ist, dass dort nun auch die Leichte Sprache rein kommt, so ärgerlich ist es, dass die Diskussionen über das Gesetz in einer sehr schweren Sprache geführt werden“, betonte Stefan Göthling. Deshalb sei es auch ein gutes Zeichen gewesen, dass die Parlamentarische Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller ihre Rede zum Behindertengleichstellungsrecht im Bundestag in einfacher Sprache gehalten hat. „Auch wenn es große Unterschiede zwischen einer ‚einfachen‘ und ‚Leichten Sprache‘ gibt, war dies ein wichtiges Zeichen. Wir hoffen nun, dass wir auch ein Klagerecht bekommen, wenn die Leichte Sprache nicht für uns wichtige Informationen genommen wird.“

Aus den USA hat Stefan Göthling vor 18 Jahren auch mitgebracht, wie wichtig es ist, dass behinderte Menschen nicht in Sonderwelten, sondern mitten in der Gesellschaft leben, lernen und arbeiten. „In Oregon wurden schon Anfang der 90er Jahre die letzten großen Heime geschlossen. Kleine Wohngruppen mit höchsten fünf bis sechs BewohnerInnen sind dort das höchste der Gefühle. Da sind wir hierzulande noch im Mittelalter stehen geblieben, denn so heimelig ist es in den Heimen meist nicht“, so Stefan Göthling. „Wer will schon in großen Gruppen von sechs und mehr Leuten zusammen leben, wenn es schon beim Zusammenleben von zwei bis drei Menschen oft Ärger gibt.“

Vor allem hat Stefan Göthling vom damaligen Besuch in den USA und den vielen Treffen mit Menschen mit Lernschwierigkeiten gelernt, wie wichtig es ist, dass sich Menschen mit Lernschwierigkeiten selbst in die Politik einmischen. „Mit Politik meine ich hier alle Bereiche, in denen es wichtig ist, dass wir für unsere Rechte kämpfen. Deshalb haben wir uns als Mensch zuerst immer für die Gleichstellung und Selbstbestimmung stark gemacht. Dabei war es für uns wichtig, dass wir auch mit Menschen mit anderen Behinderungen zusammen arbeiten. Vor allem hat sich gezeigt, wie wichtig es ist, dass wir für uns selbst sprechen und dass bei uns Menschen mit Lernschwierigkeiten selbst das Sagen haben. Denn viel zu oft wird zwar angeblich in unserem Sinne gesprochen, die Interessen sind aber oft ganz andere. Deshalb müssen wir uns gegenseitig auch stark machen, denn wir erleben immer wieder, das kritische Geister schnell Gefahr laufen, klein gemacht zu werden“, weiß Stefan Göthling aus seiner langjährigen Erfahrung als Geschäftsführer von Mensch zuerst.

Wo die Selbstvertretungsbewegung von Menschen mit Lernschwierigkeiten jedoch noch besser werden muss, ist die Geldbeschaffung, wie Stefan Göthling aus leidvoller Erfahrung weiß. „Wir haben nicht die reichen Mitglieder, denn unsere Mitglieder dürfen meist nicht mehr als 2.600 sparen und verdienen in Werkstätten zum Teil gerade einmal 100 bis 200 Euro im Monat. Und es ist für uns auch nicht so einfach, schwierige Anträge zu stellen und die Formulare auszufüllen. Dazu kommt noch, dass wir nicht nur Geld für unsere Arbeit, sondern vor allem auch für eine gute Unterstützung brauchen. Das sind massive Benachteiligungen. Und Einrichtungen, mit denen viel Geld verdient werden kann, betreiben wir im Gegensatz zu so manchen anderen Verbänden natürlich und zum Glück nicht“, so Stefan Göthling. „Denn dann wären wir wahrscheinlich auch keine ehrlichen und guten Interessenvertreter mehr. Trotz der Tatsache, dass Mensch zuerst derzeit keine Förderung mehr bekommt, arbeiten die Aktiven weiter im Kasseler Büro. Doch das schaffen wir nicht mehr so lange, so dass ich hoffe, dass ein Antrag, den wir gestellt haben, bald bewilligt wird und es bald Geld von der Bundesregierung gibt. Im neuen Gleichstellungsgesetz ist eine Förderung zur ‚Partizipation‘ vorgesehen. Wir hoffen, dass dieses schwere Wort und vor allem die Antragsmöglichkeiten für uns verständlich gemacht werden. Sonst laufen wir Gefahr, dass die Gelder wieder an der Selbstvertretungsbewegung vorbei bewilligt werden.“

Am heutigen Tag wird Stefan Göthling auf jeden Fall viel an den Abflug vor 18 Jahren denken, als er sich mit Uli Niehoff von der Bundesvereinigung Lebenshilfe und anderen SelbstvertreterInnen auf den Weg in die USA gemacht hat, wo er sich mit Susanne Göbel und der US amerikanischen Selbstvertretungsbewegung traf. Eine Reise, die auch sein persönliches Leben stark verändert hat, denn damals war er noch Mitarbeiter in einer Werkstatt für behinderte Menschen und man traute ihm vieles nicht zu, was er als Geschäftsführer von Mensch zuerst schon seit fast 15 Jahren macht.