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Für einen guten Zug ist es niemals zu früh

Harald Reutershahn
Harald Reutershahn
Foto: hjr

UNBEKANNT (KOBINET) Manche halten es für erstrebenswert, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Züge kommen an, und Züge fahren ab. Solange kein Krieg ist und keine alleinstehenden Koffer in Bahnhöfen abgestellt sind. Wie unsäglich dumm ist es, in schwieriger Zeit von Egoshootern regiert zu werden, die an der Spirale von Horror und Terror drehen? Für wen der Geist eine erogene Zone ist, der versucht, kluge Schachzüge zu entdecken.

Während ich über die Themenlage meiner Kolumne nachdachte, stieß ich auf ein Zitat des US-amerikanischen Historikers George Frost Kennan, der als Diplomat die Erkenntnis hinterlassen hatte: „Mancher, der sich für einen Schachspieler der Weltpolitik hält, ist in Wirklichkeit bloß eine Schachfigur.“ So kam es dazu, dass ich mich am Ostermontag seit längerer Zeit mal wieder mit Schach beschäftigte.

Und das war ein großes Glück. Denn an diesem Tag wurde eine großartige und mitreißende Schachpartie gespielt in der Begegnung zwischen dem russischen Großmeister Sergej Alexandrowitsch Karjakin und dem US-amerikanischen Großmeister Fabiano Caruana. Karjakin ist 25 Jahre alt und wurde bereits im Alter von zwölf Jahren Schachgroßmeister. Der jüngste Großmeister aller Zeiten. Der 23-jährige Caruana wurde mit 14 Jahren Schachgroßmeister. Bereits vier Jahre zuvor hatte er als jüngster Schachspieler aller Zeiten in den USA gegen einen Großmeister gewonnen. „Einige seiner Pokale sind größer als er„, hatte die „New York Times“ berichtet.

Die Brisanz dieses Spiels: Es ist die letzte Partie in der 14. Runde des Kandidatenturniers in Moskau, bei dem der Sieger im November in New York als Herausforderer des 25-jährigen Norwegers Magnus-Carlsen gegen den amtierenden Weltmeister zum Titelkampf antreten wird. Ich war per Schach-Liveticker im Internet dabei und fieberte mit bei dem, was dort geschah.

Karjakin und Caruana lagen in der Turnierwertung vor ihrer Partie gleichauf. Beide hatten 7,5 Punkte auf ihrem Konto. Bei einem Remis hätte Karjakin das Turnier trotz Gleichstandes gewonnen, weil er trotz gleicher Punktzahl in der Feinwertung mehr Partien gewonnen hatte. Caruana musste also diese Partie gewinnen. Und gleich vom ersten Zug an hatte er deshalb eine verwegene Eröffnung gewählt. Der Russe musste sich mit großer Mühe und Konzentration gegen die geschickten Offensivzüge des US-Amerikaners verteidigen. Zug um Zug schien es in den vier Stunden des Partieverlaufs eine Frage der Zeit zu sein, bis sich Karjakin dem mächtigen Druck seines Kontrahenten Caruana beugen musste.

Konzentration! Karjakin stützt seinen Kopf in beide Hände. Nur ein Ohr, halb eingeklemmt, schaut noch hervor. Es leuchtet rot in Richtung Publikum. Er tauscht ein paar Figuren ab, um den schwarzen Angriff zu bremsen. Caruana tut, was er kann, um ihn am Laufen zu halten„, beschreibt einen Tag danach die ZEIT in fiebriger Spannung das aufregende Spiel. Ab dem 30. Zug geht es rund. Karjakin versucht alles, um ein Remis zu halten. Unter großem Druck gibt er Caruana einen Bauern hin, und der Amerikaner schlägt diese Figur, weil er sonst in einen Stellungsnachteil gerät. Und dann kommt der Hammer. Karjakin opfert im 37. Zug einen Turm!

Was macht er denn da? – fragen sich Millionen, die weltweit gebannt im Internet dieser aufregenden Partie zuschauen. Wenn dieser tollkühne Opferzug gelingt, dann ist Caruana völlig unerwartet erledigt. Wenn nicht, dann hat Karjakin alles verloren. Caruana hat nur noch 8 Sekunden auf der Uhr, als er das Turmopfer annimmt. Jetzt gibt es für beide keinen Weg mehr zurück. Karjakins weiße Figuren scheinen plötzlich alle in Bewegung geraten zu sein, drohen dem schwarzen König mit Matt, und Caruana findet in seiner Überraschung keinen Ausweg mehr. Im 42. Zug gerät sein König in Schach, es gibt keine vernünftige Fluchtmöglichkeit, und Caruana gibt auf.

Sergej Alexandrowitsch Karjakin ist der Herausforderer des Weltmeisters Magnus-Carlsen. Die Schachwelt darf gespannt sein auf eine hochspannende WM-Begegnung der beiden jungen Super-Großmeister am 11. bis 30. November 2016.

Im Schach ist jetzt die Generation 1990 an der Macht. Jetzt fehlen nur noch die jungen Frauen, dann kann vielleicht eine alte Welt zu Ende gehen, und die junge Welt ist am Zug. Jugendstil. Hoffentlich nicht nur in der Schachwelt.

Hier die Notation des Spiels:

14. Runde des Kandidatenturniers
Moskau
28. März 2016

Weiß: Sergej Alexandrowitsch Karjakin
Schwarz: Fabiano Caruana

1. e4 c5 2. Sf3 Sc6 3. d4 cxd4 4. Sxd4 Sf6 5. Sc3 d6 6. Lg5 e6 7. Dd2 a6 8. O-O-O Ld7 9. f4 h6 10. Lh4 b5 11. Lxf6 gxf6 12. f5 Db6 13. fxe6 fxe6 14. Sxc6 Dxc6 15. Ld3 h5 16. Kb1 b4 17. Se2 Dc5 18. Thf1 Lh6 19. De1 a5 20. b3 Tg8 21. g3 Ke7 22. Lc4 Le3 23. Tf3 Tg4 24. Df1 Tf8 25. Sf4 Lxf4 26. Txf4 a4 27. bxa4 Lxa4 28. Dd3 Lc6 29. Lb3 Tg5 30. e5 Txe5 31. Tc4 Td5 32. De2 Db6 33. Th4 Te5 34. Dd3 Lg2 35. Td4 d5 36. Dd2 Te4 37. Txd5 exd5 38. Dxd5 Dc7 39. Df5 Tf7 40. Lxf7 De5 41. Td7 Kf8 42. Td8

Wer kein Schachbrett zuhause hat, der kann diese Partie im Internet nachspielen unter:

https://de.chessbase.com/post/karjakin-wird-carlsens-herausforderer

oder im Schach-Liveticker unter:

http://www.spox.com/de/liveticker/schach-live-ticker/fabiano-caruana-sergey-karjakin-2016-03-28.html

Schon Albert Einstein wusste: „Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt.“ Und wenn sie nichts Vernünftiges zu tun hatten, ist den Schachfiguren langweilig geworden und sie sind weggehüpft.