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BERLIN (KOBINET) Die Plenarsitzung des Deutschen Bundestages beginnt heute um 9.00 Uhr mit einer vierstündigen vereinbarten Debatte zum Thema Sterbebegleitung, die auch im Parlamentsfernsehen unter www.bundestag.de verfolgt werden kann. Bei solchen Debatten, die ohne Fraktionszwang stattfinden, spricht man gerne von Sternstunden des Parlaments, was kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul in seinem Kommentar im Vorfeld der heutigen Debatte zum Nachdenken gebracht hat.
Vier Stunden nehmen sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestages heute Zeit, um über das viele Menschen bewegende Thema Sterbehilfe- und -begleitung zu diskutieren. Wer den Alltag der Abgeordneten mit ständigem Termindruck, den vielen Themen, die diskutiert und beschlossen werden und die zahlreichen Diskussionen, die sie zu den unterschiedlichen Themenbereichen führen müssen, kennt, weiß, dass eine vierstündige Debatte etwas besonderes im Alltag eines Abgeordneten ist. Und wenn es sich dabei um ein solch komplexes Thema und auch um persönliche Gewissensfragen handelt, bekommt dies noch einmal eine besondere Note. Man kann also auf die heutige Debatte im Deutschen Bundestag gespannt sein. Dies nicht zuletzt, weil diese die Grundlage für Gesetzesinitiativen zu diesem Thema sein wird, die voraussichtlich im nächsten Jahr im Deutschen Bundestag auf der Tagesordnung stehen.
Als jemand, der die Diskussionen in der Behindertenpolitik seit fast 30 Jahren verfolgt, frage ich mich allerdings, warum im Deutschen Bundestag meist so wenig Raum und Aufmerksamkeit für die Fragen des Lebens statt des Sterbens von Menschen zur Verfügung steht, die Unterstützung brauchen, um erst gar nicht sterben zu wollen. Debatten, in denen es darum geht, welche Hilfen und Strukturen verbessert werden können, um ein selbstbestimmtes Leben mit der nötigen Unterstützung zu ermöglichen, finden meist zu späterer Stunde und mit sehr wenigen ZuhörerInnen aus den Reihen des Parlaments statt. Auch die Bevölkerung und die Medien interessieren diese Themen kaum, sind sie doch meist sehr komplex und betreffen angeblich nur wenige. Das scheint bei der Sterbehilfe schon anders zu sein. Wie oft höre ich von Menschen, die mitbekommen, wie es in deutschen Pflegeheimen oder in Behinderteneinrichtungen zugeht, bzw. mit behinderten Menschen in Kontakt kommen, dass sie so nicht leben wollen und wenn es für sie so kommen sollte, sterben möchten. Unter anderem auch deshalb steht das Thema Sterbehilfe und -begleitung einmal wieder auf der Tagesordnung unserer Gesellschaft ganz oben.
Was persönlich noch verständlich scheint, ist politisch jedoch ein Armutszeugnis für unser Land und unsere Gesellschaft als Ganzes. Wir bejubeln die Raumfahrt auf Planeten und Kometen mit kahlen Steinen und Kratern hunderte Millionen Kilometer entfernt, wir entwickeln technische Möglichkeiten, die vor 20 Jahren an Zauberei hätten glauben lassen. Aber wir schaffen es nicht, vor Ort, da wo die Menschen, da wo unsere Eltern, unsere Familienmitglieder leben, menschenwürdige Bedingungen mit passgenauen Hilfen zu entwickeln und sicherzustellen. Lieber diskutieren wir darüber, dass wir so, wie viele heute leben müssen, nicht leben wollen und lieber sterben, wenn es einmal so weit sein sollte. So ist das Missverhältnis der Energie, die in die Diskussion zur Sterbehilfe läuft im Vergleich zu derjenigen, die für eine menschenwürde Unterstützung und schmerzfreie Sterbebegleitung fließt, erschreckend. Ein gutes Hospiz bzw. eine gute Sterbebegleitung zu Hause zu finden, ist oftmals ein Zufallstreffer. Möglichkeiten zum Leben Daheim statt im Heim sind rar gesäht und beschäftigt nur wenige. Vielmehr werden Angehörige, die viel Energie aufwenden, um ihre Angehörigen zu unterstützen, zusätzlich zur Kasse gebeten, um ihren Anteil an den Assistenz- und Pflegekosten zu leisten und müssen sich mit bürokratischen Hürden herum schlagen.
Gleichzeitig zur derzeitigen Diskussion zur Sterbehilfe und -begleitung wird auf Bundesebene die Schaffung eines Bundesteilhabegesetzes diskutiert. Hier geht es darum, wie die UN-Behindertenrechtskonvention endlich umgesetzt werden kann, wie behinderten Menschen die Unterstützung geleistet werden kann, die sie für ein selbstbestimmtes Leben brauchen. Es geht also schlichtweg um Inklusion, Menschenwürde und das gleichberechtigte Leben im Hier und Jetzt. Den meisten Bundestagsabgeordneten dürfte diese Diskussion nicht einmal bekannt sein, bzw. sie nur mäßig interessieren. Deshalb werden wir es wohl auch nicht erleben, dass diese Gesetzesinitiative so intensiv und unter solch großer Beteiligung und Medienaufmerksamkeit wie die heutige Diskussion stattfinden wird. Geschweige denn, dass es viele Fürsprecher für echte Gesetzesreformen für ein würdiges Leben und eine würdige Unterstützung von behinderten und älteren Menschen geben wird.
An Tagen wie diesen wird zudem deutlich, wie wichtig es wäre, dass auch behinderte Menschen im Deutschen Bundestag vertreten wären, die sich der Behindertenbewegung zugehörig fühlen und anhand ihrer persönlichen Situation schildern könnten, welche Hilfen notwendig sind und wie ein menschenwürdiges Leben garantiert werden kann. Sie könnten vielleicht auch deutlich machen, dass dem vermeintlichen Leid, das andere von außen sehen, viele Fähigkeiten und Lebensqualität entgegen stehen können, wenn entsprechende Hilfen zur Verfügung stehen. Doch der Slogan „Nichts über uns ohne uns“ ist in den Parteien und Parlamenten bisher noch kaum angekommen, wie die Anhörung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales am 10. November wieder einmal gezeigt hat. Nancy Poser war dort die einzige Sachverständige, die ihre Situation als behinderter Mensch konkret schildern konnte. Die Hilfe zum selbstbestimmten Leben hat für mich eindeutig Vorfahrt vor den ständigen Rufen nach einem selbstbestimmten Tod.