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Leistungen individuell an den Menschen orientieren

Ulrike Bürgel
Ulrike Bürgel
Foto: Daniel Gollasch

BERLIN (KOBINET) In der Berichterstattung über den Bundesparteitag der Grünen vom Wochenende in Berlin ging es hauptsächlich um die Beschlüsse der Partei zur Steuerpolitik. kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul sprach mit der Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Behindertenpolitik von Bündnis 90/Die Grünen, Ulrike Bürgel, die beim Parteitag in Berlin dabei war, über ihre Eindrücke und weitere behindertenpolitisch interessante Themen.

kobinet-nachrichten: Sie waren bei der „Ochsentour“ mit ca. 2.600 Änderungsanträgen zum Bundestagswahlprogramm von Freitagabend bis Sonntag beim Bundesparteitag von Bündnis 90/Die Grünen in Berlin dabei. Wie hält man das durch?

Ulrike Bürgel: Einiges Sitzfleisch ist da schon gefordert, wobei ja schon im Vorfeld viel verhandelt wurde und viele Anträge übernommen wurden. Manche wurden sicherlich auch verändert ehe sie in das Wahlprogramm Eingang fanden. Aber das geschah stets in enger Rücksprache mit denjenigen, die die Anträge gestellt hatten. Und wie ich finde, haben alle beteiligten Menschen wirklich ganze Arbeit geleistet. Immerhin hieß es am Freitag noch, dass wir Samstag von 9:00 Uhr bis 1:30 Uhr sitzen sollten – zum Glück kam es nicht so und wir konnten den Samstagabend bei einer Party ausklingen lassen.

kobinet-nachrichten: Als Sprecherin der BAG Behindertenpolitik der Grünen hatten Sie sicherlich auch ein waches Auge auf die Diskussionen zur Behinderten- und Sozialpolitik. Welche von den Beschlüssen für das Wahlprogramm sind denn für behinderte Menschen besonders interessant?

Ulrike Bürgel: Ja, für uns in der Bundesarbeitsgemeinschaft Behindertenpolitik waren sozialpolitische Themen wichtig, aber wir haben uns auch in die Bildungspolitik eingebracht. Die inklusive Bildung zu gestalten ist zwar Aufgabe der Länder, aber viele von uns sind ja auch in den Ländern aktiv und meinen, dass der Bund den Rahmen vorgeben sollte. Wir als BAG streiten dafür, die Förderschulen langfristig abzuschaffen. Für uns steht dieses ausdifferenzierte Förder- und Sonderschulsystem in einem krassen Widerspruch zur UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

Wichtig für uns war es auch, die Forderung nach einem neuen Teilhabeleistungsgesetz in das Wahlprogramm zu schreiben. Wir wollen mit einem solchen Gesetz die Leistungen der Behindertenhilfe aus der Sozialhilfe herauslösen und so die selbstbestimmte Teilhabe in einem inklusiven Gemeinwesen umsetzen. Dafür sollen Leistungen für die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft einkommens- und vermögensunabhängig gewährt werden. Für uns ist es wichtig, dass Leistungen individuell an den Bedürfnissen der Menschen orientiert werden.

Wir wollen uns außerdem stark machen für mehr Alternativen neben den Werkstätten. Es gibt einige gute Modelle wie das Budget für Arbeit in Rheinland-Pfalz oder die unterstützte Beschäftigung, die es Menschen mit Behinderungen ermöglichen, selbstbestimmt am allgemeinen Arbeitsmarkt teilzuhaben. Hier braucht es eine bessere rechtliche Grundlage für die betroffenen Menschen, damit sie ihre Rechte auch wahrnehmen können.

Für mich ist auch wichtig, dass wir auf die mehrfachen Diskriminierungen von Frauen und Mädchen mit Behinderungen aufmerksam machen. Wir brauchen mehr Angebote und Schutz für behinderte Frauen und Mädchen vor (sexueller) Gewalt gerade in den Einrichtungen, in denen sie leben. Wir wollen Inklusion geschlechtergerecht gestalten und wollen das zum Beispiel durch veränderte Rahmenbedingungen in Ausbildungs- und Arbeitsstätten. Die Belange von Frauen, Mädchen und Mütter mit Behinderungen müssen auch im Arbeitsleben stärker berücksichtigt werden.

kobinet-nachrichten: Im Vorfeld des Parteitages wurde mitgeteilt, dass es dieses Mal nicht nur GebärdensprachdolmetscherInnen, sondern auch SchriftdolmetscherInnen gibt. Wie hat das funktioniert und wie war es mit der Barrierefreiheit auf dem Parteitag generell bestellt?

Ulrike Bürgel: Wir Grüne sprechen seit vier Jahren darüber, wie wir unsere Parteitage barrierefreier gestalten und bieten auch jedes Mal im Vorfeld an, dass Unterstützungsbedarfe wie diese Dolmetschformen angemeldet werden können. Die Hallen sind ja grundsätzlich baulich barrierefrei und unterscheiden sich dann eher in den Wegen, die vor Ort zurückzulegen sind. Teilweise sind die recht weit und dieses Mal wurde das sehr gut gelöst: Es gab zum Beispiel für Rollifahrende Leitstreifen zum Fahrstuhl, zur Halle und zur barrierefreien Toilette.

Schriftdolmetschung war jetzt in Berlin zum ersten Mal dabei und nach allem, was ich selbst mitbekommen und gehört habe, konnten die Dolmetscherinnen die Reden gut übersetzen. Politik ist ja doch auch ein Feld, in dem Menschen leidenschaftlich werden können und dann doch sehr schnell sprechen. Und das ist dann nicht immer einfach für die Schriftdolmetscherinnen mitzukommen. Aber, wie gesagt, es war insgesamt schon recht gelungen. Mit der Gebärdensprachdolmetschung haben wir ja schon öfter Erfahrungen auf unserem Parteitag gemacht und da sind wir sozusagen geübter.

Für mich ist es enorm wichtig, dass wir uns als Partei auch selbst fragen, wo wir eigentlich Barrieren haben und wie wir diese abgebaut bekommen. Die Forderung nach gesellschaftlicher Teilhabe ist schließlich eine, die auch den politischen Raum betrifft. Und damit meine ich dann auch ganz real die Versammlungsräume, in denen Menschen zusammen treffen.

Mir ist es dabei aber auch wichtig zu schauen, wie wir die Barrierefreiheit finanziert bekommen. Gerade die Dolmetschkosten sind teuer und bedeuten für unseren Haushalt eine große Herausforderung. Wir befinden uns da gemeinsam mit dem Bundesvorstand in einem internen Arbeitsprozess, um hier eine gute Lösung zu finden. Mir ist es ein Herzensanliegen zu schauen, wie wir Teilhabe sicher stellen können und das aber auch nachhaltig finanziert bekommen. Schließlich möchte ich gerne, dass wir die erreichten Ziele in der Barrierefreiheit auch dauerhaft halten.

kobinet-nachrichten: Wie stehen bei den Grünen derzeit die Chancen als behinderter Menschen in den Bundestag bzw. in einen Landtag einzuziehen. Gibt es Kandidatinnen und Kandidaten auf aussichtsreichen Listenplätzen?

Ulrike Bürgel: Nun ja, aus unserer Bundesarbeitsgemeinschaft haben wir einige Mitglieder, die in ihren Ländern auf Listenplätzen für den Landtag und Bundestag stehen, aber wirklich aussichtsreich ist davon leider (noch) niemand. Ich selbst stehe in Sachsen auf dem Listenplatz 11 für die nächste Bundestagswahl, also für diese Wahl eher wenig aussichtsreich. Dafür haben wir auf kommunaler Ebene etliche Mitglieder, die sich vor Ort einbringen und auf dieser Ebene grüne Behindertenpolitik umsetzen.

Ich bin sehr optimistisch, dass sich das allerdings in den kommenden Jahren verändern wird und wir ganz im Sinne des „Nichts über uns ohne uns“ in einigen Landtagen und im Bundestag wieder vertreten sein werden – und vielleicht schaffen wir es ja auch ins Europaparlament.

kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.