
Foto: ht
Berlin (kobinet) Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat die INTERVAL GmbH in Kooperation mit Rechtsanwalt Prof. Dr. Oliver Tolmein mit einer Erforschung des Persönlichen Budgets beauftragt. Hierfür werden noch behinderte Menschen, die ein Persönliches Budget nutzen, als Interviewpartner*innen gesucht. "Mit Einführung des SGB IX zum 1. Juli 2001 wurde für Leistungsberechtigte die Möglichkeit geschaffen, Teilhabeleistungen auch in Form eines Persönlichen Budgets (§ 29 SGB IX) statt, wie bis dahin, nur in Form von Dienst- oder Sachleistungen zu erhalten. Das Persönliche Budget verfolgt das Ziel, Selbstbestimmung zu ermöglichen, indem Leistungsberechtigte in der Rolle als Käuferinnen und Käufer von (Dienst-) Leistungen oder als Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber von Assistenzkräften ihrem Wunsch- und Wahlrecht nachkommen können. Auf die zögerliche Inanspruchnahme des Persönlichen Budgets wurde u. a. mit Beratungsangeboten, Öffentlichkeitsarbeit, Weiterbildungen oder zielgruppenspezifischen Angeboten, zum Beispiel in Werkstätten für Menschen mit Behinderung, reagiert. Die Zahlen sind auf solche Initiativen hin teils deutlich angestiegen, verbleiben aber dennoch auf insgesamt niedrigem Niveau", heißt es zur Ausgangssituation für die Evaluation.
Weiter heißt es auf der Internetseite der INTERVAL GmbH zum Forschungsvorhaben: „Aus den wissenschaftlichen Begleitungen und davon unabhängigen Studien liegen Erkenntnisse über Inanspruchnahmen, Motive, Zufriedenheit und individuelle ebenso wie verwaltungsbezogene Herausforderungen vor. Eine jüngste Studie bestätigt diese Zusammenhänge und arbeitete differenziert heraus, dass auch innerhalb verschiedener Ebenen einer Verwaltung Vor- und Nachteile von persönlichen Budgets sehr unterschiedlich bewertet werden. Als Stand des Fachdiskurses ergibt sich u. a., dass die Möglichkeit einer Leistungserbringung in Form des Persönlichen Budgets nicht allen potenziell Leistungsberechtigten bekannt ist. Auch in den Verwaltungen der Leistungsträger fehlten und fehlen Kenntnisse und Erfahrungen im Umgang mit Persönlichen Budgets. Manche Leistungsberechtigte befürchten wiederum, von der Verwaltung des Budgets oder den Anforderungen an die Qualitätssicherung der Leistungen überfordert zu sein. Dass dennoch das Potenzial für das Persönliche Budget nicht ausgeschöpft ist, zeigen repräsentative Daten aus dem Jahr 2022: Die deutliche Mehrheit der Menschen mit Behinderungen und jener mit Beeinträchtigungen geben an, gerne Verantwortung zu übernehmen – und gerade im Fall des Wohnens in Einrichtungen im Sinne des § 103 Abs 1 SGB IX oder in Formen des betreuten Wohnens ist der Wunsch nach mehr Selbstbestimmung groß (vgl. BMAS-Forschungsbericht 598). Vor diesem Hintergrund soll die Evaluation Erkenntnisse liefern, ob bzw. auf welcher Ebene und in welcher Art Umsetzungshemmnisse bestehen und welche Verbesserungs- und Weiterentwicklungsansätze vorliegen.“
Ein wesentlicher Teil der Evaluation wird auf insgesamt 50 Einzel- und Gruppeninterviews mit Menschen mit Beeinträchtigungen und ihren Verbänden, Verwaltungsfachkräften der Reha- und Leistungsträger sowie weiteren Expertinnen und Experten im Feld Persönlicher Budgets basieren. Die unterschiedlichen Perspektiven dieser Akteure auf die Vor- und Nachteile Persönlicher Budgets, die Bekanntheit, Vorbehalte, Ansätze zur Optimierung und die noch ungenutzten oder ausgeschöpften Potenziale sind im Rahmen der Evaluation herauszuarbeiten. Dazu werden auch der Stand der sozialwissenschaftlichen und juristischen Forschung sowie die Rechtsprechung ausgewertet, heißt es weiter in der Beschreibung von der INTERVAL GmbH.
Link zu weiteren Infos zur Evaluation
Interessierte Budgetnutzer*innen, die an der Evaluation für Interviews zur Verfügung stehen, können sich an folgende Telefonnummer 030 397 797 0-36 oder par E-Mail an [email protected] melden.
Persönliches Budget – Ohne verpflichtende Begleitung und strukturelle Veränderungen bleibt es eine theoretische Option
Das Persönliche Budget wurde als Instrument zur Selbstbestimmung geschaffen. Doch obwohl es seit über 20 Jahren existiert, bleibt die Nutzung verschwindend gering. Die Ursachen dafür sind keine Zufälle oder mangelndes Interesse von Menschen mit Behinderung – das Problem liegt im System selbst.
Ein zentraler Punkt ist, dass weder die Leistungsträger noch die etablierten Leistungsanbieter ein echtes Interesse daran haben, das Persönliche Budget zu fördern.
Leistungsträger: Bürokratie statt Selbstbestimmung
Leistungsträger wie Krankenkassen, Rentenversicherung oder Eingliederungshilfe haben sich an das alte System aus festgelegten Dienstleistungen und Sachleistungen gewöhnt. Für sie bedeutet das Persönliche Budget:
Statt aktiv für das Persönliche Budget zu werben, erschweren oder verzögern viele Leistungsträger die Beantragung. Die Beratung ist oft unzureichend oder wird bewusst in eine Richtung gelenkt, die das Budget unattraktiv erscheinen lässt.
Leistungsanbieter: Gefahr für ihr Geschäftsmodell
Noch problematischer ist die Rolle der etablierten Leistungsanbieter – also großer Wohlfahrtsverbände, Werkstätten für behinderte Menschen, ambulante Dienste oder Pflegeeinrichtungen.
Es gibt zahlreiche Berichte darüber, dass Menschen, die ein Persönliches Budget beantragen wollen, von bestehenden Dienstleistern aktiv entmutigt oder sogar falsch informiert werden. Ihnen wird gesagt, es sei „zu kompliziert“, „zu riskant“ oder „würde nicht funktionieren“.
Die Lösung: Eine verpflichtende Begleitstruktur für das erste Jahr
Das erste Jahr der Nutzung des Persönlichen Budgets muss – wenn gewünscht – durch eine verpflichtende Begleitstruktur seitens der Leistungsträger unterstützt werden.
Diese Begleitung sollte beinhalten:
Warum ist diese Begleitstruktur notwendig?
Ohne eine solche Unterstützung bleibt das Persönliche Budget nur eine Option auf dem Papier, aber nicht in der Praxis. Die Verwaltung ist für viele ein Hindernis, nicht weil sie es nicht können, sondern weil sie sich von Anfang an allein durch ein intransparentes System kämpfen müssen.
Viele Menschen, die sich eigentlich für das Persönliche Budget interessieren, verzichten darauf, weil sie Angst vor Fehlern oder der bürokratischen Last haben. Das kann nicht der Sinn eines Instruments sein, das Selbstbestimmung fördern soll.
Die Verantwortung der Leistungsträger und Leistungsanbieter: Nicht nur genehmigen, sondern aktiv begleiten
Derzeit besteht keine Verpflichtung für Leistungsträger, Budgetnehmer:innen aktiv und nachhaltig zu unterstützen. Die Praxis zeigt, dass sie oft eher abschrecken als ermutigen. Wenn das Persönliche Budget wirklich eine Alternative sein soll, müssen die Leistungsträger dazu verpflichtet werden, den Prozess nicht nur zu verwalten, sondern aktiv zu begleiten.
Gleichzeitig müssen Leistungsanbieter daran gehindert werden, Menschen mit Behinderung aus wirtschaftlichen Eigeninteressen an bestehende Strukturen zu binden.
Das bedeutet:
Fazit: Ohne verpflichtende Begleitung und Kontrolle bleibt das Persönliche Budget für viele unerreichbar
Das Persönliche Budget darf kein Privileg für eine kleine, gut informierte Minderheit bleiben. Wenn echte Selbstbestimmung das Ziel ist, dann muss das System dafür sorgen, dass alle Menschen die Möglichkeit haben, es zu nutzen – ohne Angst vor Bürokratie und ohne das Risiko, bei Problemen alleine dazustehen.
Eine verpflichtende, unterstützende Begleitstruktur für das erste Jahr muss gesetzlich festgelegt werden. Ebenso müssen Leistungsträger und etablierte Anbieter dazu verpflichtet werden, das Persönliche Budget als gleichwertige Alternative anzuerkennen – und nicht aus Eigeninteresse zu behindern.
Ohne diese Maßnahmen bleibt das Persönliche Budget eine gut gemeinte Idee, die aber weiterhin kaum genutzt wird – weil das System nicht für die Betroffenen arbeitet, sondern für die Institutionen, die ihre Kontrolle nicht verlieren wollen.