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Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen vermeiden

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Foto: ht

HANNOVER (kobinet) Nach den Attentaten von Magdeburg und Aschaffenburg ist die aktuelle Debatte emotional aufgeladen: Es wurde gefordert, dass die Gesellschaft vor Menschen mit psychischen Erkrankungen geschützt werden müsse. Die Innenministerinnen und Innenminister möchten prüfen lassen, wie Sicherheitsbehörden leichter Informationen zu Menschen mit psychischen Erkrankungen abfragen können. Der Landesfachbeirat Psychiatrie Niedersachsen (LFBPN) ist ein Gremium von weisungsungebundenen Expertinnen und Experten aus den Bereichen Psychiatrie, Psychologie, Psychotherapie, Politik, Psychiatrieerfahrenen und Angehörigen von Menschen mit psychischen Erkrankungen sowie der Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderungen, äußert sich zu der aktuellen Debatte über psychische Erkrankungen im Zusammenhang mit den Attentaten und der bevorstehenden Bundestagswahl.

Der bayrische Ministerpräsident will das Gesetz verschärfen, das die Unterbringung von Menschen mit psychischen Krankheiten regelt. Und der CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann fordert gar ein Register für psychisch kranke Gewalttäter.

Diese Debatte ist nach Einschätzung des LFBPN von populistischen Instrumentalisierungen und verzerrten medialen Darstellungen geprägt. Ein sachlicher Blick auf die Geschehnisse verbietet diese unreflektierten politischen Forderungen. Bereits 2022 hat beispielsweise die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie in einer Übersicht dargelegt, dass nach der Studienlage entgegen der öffentlichen Wahrnehmung Menschen mit psychischen Erkrankungen nicht per se gewalttätiger sind als die Allgemeinbevölkerung.

Gewalt entsteht nach wissenschaftlich fundierten Analysen immer im Zusammenwirken mehrerer Faktoren. Traumatische Erlebnisse, Missbrauchserfahrungen und Armut gefährden die psychische Gesundheit vieler minderjähriger Geflüchteter, haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universitätsmedizin Göttingen bereits 2020 beschrieben. Eine unbehandelte psychische Erkrankung in Verbindung mit Substanzkonsum stellt häufig ein höheres Risiko für Gewalt dar. Daneben spielen soziale Faktoren eine Rolle. Eine fehlende familiäre Anbindung, soziale Randständigkeit oder Wohnungslosigkeit können den Weg zu gewaltsamen Handlungen verstärken. Insofern ist es sachlich falsch, so wird von den Expertinnen und Experten betont, Gewaltkriminalität ausschließlich mit Migration zu verknüpfen.

Die Einführung eines Registers zur Erfassung von Menschen mit psychischen Erkrankungen, so  dieser Fachbeirat für Psychiatrie, wird die Stigmatisierung dieser Gruppe erheblich verstärken. Dies kann dazu führen, dass sich Betroffene noch ausgegrenzter fühlen und weniger professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund und Menschen mit Behinderungen wären von dieser Entwicklung besonders betroffen.

Die aktuelle Diskussion macht nach Meinung der Experten die eklatante Unterversorgung von Geflüchteten, Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit Behinderungen im Bereich der psychischen Gesundheitsversorgung deutlich. In der stationären psychiatrischen Versorgung und insbesondere in der Psychotherapie besteht ein großer Nachholbedarf.

Der LFBPN fordert unter diesem Gesichtspunkten die Politik auf, die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen und sich für folgende Punkte einzusetzen:

  • Aufklärung: Die Bevölkerung ist über psychische Erkrankungen und deren Zusammenhang mit Gewalt aufzuklären.
  • Prävention: Es müssen mehr Maßnahmen zur Prävention von psychischen Erkrankungen ergriffen werden.
  • Gegensteuerung: Der Stigmatisierung von psychisch kranken Menschen muss entgegengewirkt werden.
  • Verbesserung der Versorgung: Die Versorgung von Geflüchteten, Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit Behinderungen im Bereich der psychischen Gesundheit muss verbessert werden.
  • Deeskalation: Die seelische Verfasstheit der Menschen mit psychischen Erkrankungen ist in allen Verfahrensschritten zu berücksichtigen.
  • Kooperation zwischen Polizei, Verwaltung und Expertinnen und Experten: Es ist eine enge Kooperation aller genannten Akteurinnen und Akteure erforderlich.
  • Partizipation: Menschen mit psychischen Erkrankungen oder Behinderungen müssen als Expertinnen und Experten in eigener Sache bei Diskussionen und Vorhaben einbezogen und angehört werden.