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Sorge vor Rückschritten der Selbstbestimmung

Zwei Frauen auf ihren Rollstühlen vor dem Rednerpult. Im Hintergrund der Plenarsaal des Landtages
Die Netzwerksprecherinnen Gertrud Servos (links) und Claudia Seipelt-Holtmann im Landtag von Nordrhein-Westfalen
Foto: NetzwerkBüro

MÜNSTER (kobinet) Das "Netzwerk Frauen und Mädchen mit Behinderung / chronischer Erkrankung NRW" feiert in diesem Jahr sein 30-jähriges Bestehen. Doch statt des Feierns von Erfolgen steht kurz vor der Bundestagswahl die Sorge um das politische Klima im Mittelpunkt. Wenn Unterschiede betont statt Gemeinsamkeiten gesucht werden, wenn Sparzwänge wichtiger werden als Menschenrechte, seien schnell auch grundlegende Rechte von Frauen, Mädchen und anderen behinderten Menschen erneut in Frage gestellt, warnt das Netzwerk.

Trotz klarer Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und der Aufforderung des UN-BRK-Komitees an Bundesregierung und Bundesländer, den erheblichen Nachholbedarf anzugehen, gebe es zu wenig Fortschritte. Oft dient als Begründung der Verweis auf die Kosten. Netzwerk-Sprecherin Claudia Seipelt-Holtmann fragt: „Wofür haben wir die letzten 30 Jahre gekämpft? Selbstbestimmung und Teilhabe von Frauen und anderen behinderten Menschen darf nicht aus Kostengründen wieder eingeschränkt werden.“

Ein Beispiel für drohende Rückschritte im Land NRW ist die Wohnungsbauförderung der Landesregierung. Künftig sollen nur noch Wohneinrichtungen mit mindestens 24 Plätzen gefördert werden. Zusammen mit weiteren Selbsthilfe-Verbänden und den Sozialverbänden hatte das Netzwerk NRW in einem offenen Brief diesen Schritt entschieden kritisiert. Seipelt-Holtmann betont die Bedeutung kleiner Wohneinheiten für Gewaltschutz und Selbstbestimmung: „Frauen und Mädchen mit Behinderung müssen selbst entscheiden dürfen, wie und mit wem sie wohnen wollen. Gerade für Frauen mit komplexem Unterstützungsbedarf fehlen in großen Einrichtungen oft die Ressourcen, um ihnen einen selbstbestimmten Alltag zu ermöglichen.“

Die Rahmenbedingungen für Inklusion und Barrierefreiheit auf Landesebene hängen auch von der Bundespolitik ab, allerdings werden sie von den Parteien kaum mitbedacht. Auch im gerade angelaufenen Wahl-O-Mat werden sie nicht abgefragt. Das Netzwerk NRW hat deshalb die wichtigsten Aussagen von sechs Parteien zu Inklusion in den Bereichen Gesundheit, Arbeitsmarkt, Gewaltschutz sowie Selbstbestimmung zusammengestellt und geprüft, ob die Programme in Leichter Sprache oder Gebärdensprache vorliegen.

Das Netzwerk ruft Frauen und Männer mit Behinderung gezielt zum Wählen auf. „…denn wir wollen erstens nicht in einem Klima der Angst leben und fordern zweitens Inklusion
und Barrierefreiheit in allen Lebensbereichen!“, so Netzwerk-Sprecherin Gertrud Servos

Lesermeinungen

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M. Guenter
13.02.2025 19:31

Hmm,
ich mache mich mal unbeliebt:
„Wofür haben wir die letzten 30 Jahre gekämpft? Selbstbestimmung und Teilhabe von Frauen und anderen behinderten Menschen darf nicht aus Kostengründen wieder eingeschränkt werden.“
Gegenfrage: Warum müssen sich diejenigen dann einschränken, die nicht zum genannten Personenkreis gehören? Ist vielleicht blöd, aber die Hälfte eines Euros sind nunmal 50 Cent…
Wir brauchen mehr Kontrolle im System der Sozialausgaben, insbesondere im Rahmen der Eingliederungshilfen – dies heißt aber auch, dass diejenigen, die etwa persönliche Budgets beziehen, ebenso hinsichtlich der Mittelverwendung geprüft werden müssen,auch wenn das nervt.

„Seipelt-Holtmann betont die Bedeutung kleiner Wohneinheiten für Gewaltschutz und Selbstbestimmung“. Woher kommt diese Aussage, auf welcher Datenlage basiert sie? Faktisch „passieren“ die meisten Übegriffe, insbesondere diejenigen sexueller Natur, im häuslichen Umfeld. Sorry, da beist die Maus keinen Faden ab. Hier wird aber behauptet, dass Frauen/Mädchen für solchen Übergriffen besser geschützt seien, wenn sie möglichst in kleinen Gruppen oder alleine wohnen. Mir geht es hier rein um den Aspekt des Gewaltschutzes: Sorry, aber das ist schlichtweg auf dem Niveau von Fake-News! Ein in einem Unterstützungssetting immer nur das gleiche Mitarbeitende auftaucht, ist solchen „Angelegenheiten“ Tür und Tor geöffnet. Wohin soll sich das Mädchen, die Frau -und das Thema betrifft auch Männer und sonstige Formen die sexuellen Selbstwahrnehmung – denn wenden?

Thema Selbstbestimmung: Auch das hat erstmal nichts mit dem Setting zu tun! Die Frage ist doch, wie wichtig ist mir áls Dienstleister dieses Thema! Wenn die „Haushaltskraft“ in einer 4er-WG entscheidet, was gut für die „Behinderten“ ist hinsichtlich der Ernährung – im besten Fall noch getriggert von den Vorstellungen der Eltern/Angehörigen („der Jörg muss abnehmen“), dann ist doch nichts gewonnen. Wenn Jörg aber in einer WG wohnt, wo dies anders gehandhabt wird – ich habe jahrelang meine „Bewohner“ zum Einkaufen mitgenommen und sie entscheiden lassen,was sie essen wollen – dann hat er doch hier mehr Selbstbestimmung erfahren, oder?

Klar kann man sich andere „Zustände“ wünschen, aber realsitisch: Wer erbringt dann diese Leistungen? Nur weil man etwas finanzieren kann, bedeutet dies noch lange nicht, dass es jemand erbringt!

Eben aus dem genannten Gründen kann ich damit nichts anfangen:

„Das Netzwerk ruft Frauen und Männer mit Behinderung gezielt zum Wählen auf. …denn wir wollen erstens nicht in einem Klima der Angst leben und fordern zweitens Inklusion
und Barrierefreiheit in allen Lebensbereichen!
, so Netzwerk-Sprecherin Gertrud Servos“

Prima, nur ist nicht klar, worum es geht! Den Kuchen essen und ihn behalten geht einfach nicht…

Ralph Milewski
Antwort auf  M. Guenter
14.02.2025 13:27

Ihr Kommentar enthält eine Reihe unbelegter Behauptungen, fragwürdiger Vergleiche und Annahmen, die zentrale Aspekte der Debatte übergehen. Sie fragen, warum sich „diejenigen einschränken müssen, die nicht zum genannten Personenkreis gehören“, als wäre Inklusion ein einseitiges Privileg. Tatsächlich geht es um die Umsetzung von Menschenrechten, nicht um Sonderwünsche. Niemand spricht davon, dass sich Männer „einschränken müssen“, wenn Frauen Gleichberechtigung fordern, oder dass sich Nichtbehinderte „einschränken müssen“, wenn Barrierefreiheit geschaffen wird. Ihre Annahme, Gleichberechtigung sei ein Nullsummenspiel, bei dem der eine verliert, wenn der andere gewinnt, ist unzutreffend. Vielmehr geht es darum, bestehende strukturelle Benachteiligungen abzubauen.

Ihre Forderung nach „mehr Kontrolle“ über persönliche Budgets basiert nicht auf belastbaren Daten, sondern auf der Annahme eines möglichen Missbrauchs. Menschen mit persönlichem Budget unterliegen bereits strengen Nachweispflichten. Sie müssen regelmäßig detaillierte Abrechnungen vorlegen und jede Ausgabe belegen. Es gibt bislang keine Studien oder Statistiken, die auf einen Missbrauch in diesem Bereich hinweisen. Trotzdem wird hier nach zusätzlichen Kontrollen gerufen, während Schätzungen zufolge der finanzielle Schaden durch Abrechnungsbetrug und Korruption im Gesundheitswesen zwischen 5 und 10 Prozent der Gesamtausgaben betragen könnte. Bei jährlichen Leistungsausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung von über 270 Milliarden Euro würde dies einem potenziellen Schaden in zweistelliger Milliardenhöhe entsprechen. Dort gibt es zwar Prüfungen, aber längst nicht die engmaschige Überwachung, die Budgetnehmer durchlaufen müssen. Warum liegt der Fokus auf vermeintlichem Missbrauch in einem kleinen Bereich, während nachweisliche finanzielle Verluste in großem Umfang weniger kritisch hinterfragt werden?

Auch Ihre Kritik an der Bedeutung kleiner Wohneinheiten für Gewaltschutz und Selbstbestimmung greift zu kurz. Institutionelle Gewalt in großen Einrichtungen ist ein bekanntes, gut dokumentiertes Problem. Gerade dort, wo Menschen weniger Kontrolle über ihre Lebensumstände haben, ihre Assistenzkräfte nicht selbst wählen können und Teil starrer Hierarchien sind, kommt es häufiger zu Übergriffen. Ihr Verweis auf häusliche Gewalt als Gegenargument greift zu kurz, da Gewalt in familiären Strukturen nicht mit den systemischen Problemen großer Einrichtungen gleichgesetzt werden kann. Die entscheidende Frage ist nicht, ob Gewalt in kleineren Wohneinheiten ausgeschlossen ist, sondern ob Menschen mit Behinderung die Möglichkeit haben, selbstbestimmt zu entscheiden, wie und mit wem sie leben. Wahlfreiheit ist ein zentraler Schutzfaktor – und genau diese fehlt in vielen großen Einrichtungen.

Ihre Darstellung von Selbstbestimmung verdeutlicht ein Verständnis, das primär an betreuten Strukturen orientiert ist. Sie führen an, dass Sie Bewohner „zum Einkaufen mitgenommen haben und sie entscheiden lassen, was sie essen wollen“. Das mag nach Autonomie klingen, ist jedoch in Wahrheit eine Form kontrollierter Freiheit. Wer bestimmt, wann und wo eingekauft wird? Wer entscheidet über die Rahmenbedingungen? Wenn eine Person nur innerhalb eines vorgegebenen Rahmens wählen kann, ist das keine echte Selbstbestimmung, sondern eine begrenzte Entscheidungsfreiheit. Wahre Selbstbestimmung bedeutet, dass Menschen nicht darauf angewiesen sind, dass eine Betreuungsperson ihnen Freiheiten „einräumt“, sondern dass sie ihre eigenen Strukturen gestalten können.

Besonders problematisch wird es, wenn Inklusion als eine Frage der Machbarkeit dargestellt wird. Sie schreiben, dass es nicht reicht, etwas zu finanzieren, wenn es niemanden gibt, der die Leistungen erbringt. Damit wird Menschenrechten eine rein praktische Dimension zugeschrieben, als wären sie nur dann umsetzbar, wenn sie logistisch einfach zu realisieren sind. Doch Rechte stehen nicht zur Disposition. Niemand würde ernsthaft behaupten, dass das Recht auf Bildung oder auf Schutz vor Diskriminierung nur dann gilt, wenn es sich problemlos organisieren lässt. Wenn es zu wenige Assistenzkräfte gibt, ist das ein politisches Problem, das gelöst werden muss – nicht ein Argument, um Menschen mit Behinderung Selbstbestimmung zu verweigern. Ihre Argumentation läuft darauf hinaus, bestehende Missstände als unveränderlich hinzunehmen, anstatt Lösungen zu diskutieren.

Zusammenfassend basiert Ihr Kommentar auf falschen Gleichsetzungen, unbelegten Annahmen und einer Sichtweise, die das Maß an Kontrolle über Menschen mit Behinderung weiter erhöhen würde, anstatt ihre Eigenständigkeit zu fördern. Sie setzen Selbstbestimmung mit einer „gewährten“ Entscheidungsfreiheit gleich und hinterfragen, ob Menschen mit Behinderung überhaupt in vollem Umfang ihre Rechte einfordern sollten. Gleichzeitig ignorieren Sie die realen finanziellen Probleme im Gesundheitssystem und konzentrieren sich auf einen Bereich, in dem bereits strenge Kontrollmechanismen existieren.

Selbstverständlich kann man über verschiedene Wege zur Umsetzung von Inklusion und Unterstützung diskutieren. Doch die Forderung nach zusätzlicher Kontrolle über persönliche Budgets bleibt unbegründet und lenkt von größeren Problemen ab.

Die eigentliche Frage sollte nicht sein, ob Menschen mit Behinderung zu viel fordern – sondern warum ihnen ihre Rechte nach wie vor nur eingeschränkt zugestanden werden.