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Berlin (kobinet) "Sehr geehrte Frau Bas, bitte greifen Sie meinen Appell auf und helfen Sie mit, daß unsere Bundesrepublik ein inklusionspolitisches Vorbild in Europa wird." Mit diesem Appell schließt Wilfried Windmöller seinen Brief vom 24. Juli 2024 an Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, in dem er die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland anmahnt. Dabei weist er auf Alternaitven hin, die in dem im September 2024 erscheinenden und von ihm mit herausgegebenen Buch "Von Behinderung befreit. Inklusive Alternativen zur Sonderwelt bei Bildung, Arbeit und Wohnen" hinweist. Wilfried Windmöller war der erste gewählte ehrenamtliche Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der "Werkstätten" und ein entscheidender Mitgestalter des deutschen Werkstättenrechts. Im folgenden dokumentieren die kobinet-nachrichten den Brief von Wilfried Windmöller an Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, den dieser aus dem Senior*innenheim in Osnabrück geschrieben hat:
Trotz der zahlreichen Zuschriften, die Sie und Ihr Büro täglich erreichen, wird es nicht so oft vorkommen, daß Sie einen Brief aus einem Alten- und Pflegeheim erhalten. Vermutlich wird es noch seltener geschehen, daß Ihnen ein Mensch schreibt, dessen Leben sich im neunten Jahrzehnt dem Ende zuneigt. Vielleicht ist der Sachverhalt noch ungewöhnlicher, daß ich mit meiner Parkinson-Herausforderung zu der Bevölkerungsgruppe gehöre, die man landläufig als „Behinderte“ bezeichnet und aus ihrem gewohnten Lebenskontext in ein eher isoliertes Umfeld einlogiert.
Um diesen Aspekt geht es mir bei meinem Versuch, Sie als Bundestagspräsidentin dafür zu gewinnen, auf die Abgeordneten einzuwirken: Unsere Politiker·innen müssen gerade wegen der wachsenden Anforderungen und Probleme dem einen Bevölkerungsteil viel mehr Aufmerksamkeit widmen − den Menschen mit Beeinträchtigungen, besonders jenen mit erschwerenden Lebensbedingungen.
Mein gesamtes berufliches und das darauf folgende Leben (siehe unten) habe ich mich gemeinsam mit meiner Ehefrau und einer Gruppe couragierter Mitstreiter·innen für Menschen mit erschwerenden Beeinträchtigungen eingesetzt, besonders für die mit kognitiven Eigenheiten. Während meiner aktiven Zeit als Funktionsträger im Bereich diakonischer Sozialpolitik konnte ich auf Bundes− und Länderebene mit zahlreichen Politiker·innen zusammenarbeiten. Sie bestätigten, daß Menschen mit kognitiv erschwerenden Beeinträchtigungen gleichwürdige, gleichberechtigte und gleichgestellte Mitbürger·innen wären. Doch gerade für sie hat sich in den letzten sechzig Jahren wenig Grundsätzliches geändert. Darum wurde das „Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezem-ber 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ vom 21. Dezember 2008 so dringend notwendig. (Der Bundestag hatte es einstimmig beschlossen. Seit dem 26. März 2009 ist es geltendes innerstaatliches deutsches Recht.)
Die Auffassung des UN-Kontrollausschusses über die ungenügende Verwirklichung dieses so grundlegenden Gesetzes brauche ich nicht darzulegen. Sie ist vielfach publiziert worden, nicht zuletzt vom Deutschen Institut für Menschenrechte. Mit zahlreichen außerparlamentarischen sozialpolitischen Fachleuten teile ich die Kritik des Sozialethikers Uwe Becker, der in Vorträgen vor „Werkstatt“-Belegschaften die unzureichende inklusionspolitische Dynamik in der Bundesrepublik mißbilligend und enttäuscht bewertete:
„Während wir bezüglich der bildungspolitischen Inklusion wie auch der Inklusion in den Arbeitsmarkt eine weitgehende Bestandsstarre verzeichnen, wird das Thema diskursiv zunehmend auf den Radius des ‘Machbaren‘ reduziert“ (2018).
Auf die beeinträchtigten Menschen in den „Werkstätten“ trifft nicht einmal diese pessimistische Einschätzung zu: Die vom Gesetzgeber schon 1986 als „machbare“ Verpflichtung der Erwerbswirtschaft zum verbindlichen Recht erklärte Schuldigkeit, auch Menschen mit erschwerenden Beeinträchtigungen auf Erwerbsarbeitsplätze einzustellen, ist bis heute politisch nicht eingelöst worden. Die gesetzliche Beschreibung der einzustellenden Personengruppen ist seit nunmehr 38 Jahren die gleiche und dekliniert eine der größten Menschengruppen in den „Werkstätten“ (siehe § 5 SchwbG 19862, heute § 155 SGB IX).
Angesichts dessen appelliere ich an Sie, sich in Ihrem Präsidium und gegenüber den Abgeordneten im Deutschen Bundestag nachdrücklich dafür einzusetzen, daß auf der Basis der vier Grundsteine im Gesetz zum UN-Übereinkommen (s.o.) die Sonderwelten bei Bildung, Arbeit und Wohnen in echte inklusive Angebote zur Einbeziehung und Teilhabe der Menschen mit Beeinträchtigungen transformiert werden:
• „die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft“ (Artikel 3a);
• „dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, vom Gesetz gleich zu behandeln sind und ohne Diskriminierung Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz und gleiche Vorteile durch das Gesetz haben“ (Artikel 5 Abs. 1);
• dass Menschen mit Beeinträchtigungen „ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen“ können und daß
• ihr Recht konkretisiert wird, „den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, integrativen und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommen wird“ (Artikel 27 Abs. 1).
Vor drei Jahren hatte ich der interessierten Öffentlichkeit konkrete Vorschläge zur inklusiven Transformation der „Werkstätten“ vorgelegt. Sie sind als Buch im Kohlhammer-Verlag erschienen. Im vorigen Jahr hatte ich einen Kreis von Fachleuten versammelt, um für die menschenrechtswidrigen Sonderwelten politisch „machbare“ Alternativen aufzuschreiben. Sie erscheinen als Buch im vierten Quartal d. J. Gemeinsam mit dem Handbuch des Bundestages von 2008 „Von Ausgrenzung zu Gleichberechtigung. Verwirklichung der Rechte von Menschen mit Behinderungen“ bieten unsere Vorschläge zur inklusiven Umgestaltung des deutschen Sonderweltsystems eine solide Arbeitsbasis für unsere Parlamentarier·innen in den Fraktionen der demokratischen Parteien.
Sehr geehrte Frau Bas, bitte greifen Sie meinen Appell auf und helfen Sie mit, daß unsere Bundesrepublik ein inklusionspolitisches Vorbild in Europa wird. Unsere Vorschläge stelle ich Ihnen auf Wunsch gern zur Verfügung.
Wilfried Windmöller
Einige Hinweise in Fußnoten:
Siehe Windmöller, Wilfried (2021): „Ein jegliches hat seine Zeit …“, in: Greving, Heinrich / Scheibner, Ulrich (2021): Werkstätten für behinderte Menschen. Sonderwelt und Subkultur behindern Inklusion. Kohlhammer-Verlag, Stutt-gart, S. 319 ff.
Der Buchtitel lautet: Von Behinderung befreit. Inklusive Alternativen zur Sonderwelt bei Bildung, Arbeit und Wohnen. Kohlhammer-Verlag, Stuttgart, 280 Seiten.
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