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Let`s talk about sex! Oder besser nicht?

Flyer
Bekanntmachung der Dialogveranstaltung am 13.9.24 in Limburg
Foto: Peter Kunz

Villmar - Weyer (Kobinet) In seiner neuen Kolumne sieht sich Stephan Laux gezwungen, ein Thema aufzugreifen, über das er eigentlich nicht gerne spricht: Sexualität. Er fragt sich, warum dieses Thema auch in der Behindertenhilfe immer noch ein Tabu zu sein scheint.



Manchmal begegnen einem Ereignisse, die man auf den ersten Blick nicht einzuordnen weiß. Noch vor Monatsfrist wusste ich nicht, wohin ich meine Empörungspriorität richten sollte. Dann ereilte uns die tragische Nachricht vom Tod Andreas Vegas. Ich habe ihn leider nur 2-mal während des Kobinet Stammtisches kennengelernt. Damals hat er mich eindringlich vor einem Engagement bei einem kommunalen Beirat für behinderte Menschen gewarnt. „Gut gemacht, Andy! Danke!“

Nach diesem wertvollen Tipp habe ich Andreas Vega gegoogelt. Neben seinem fast unersetzbaren Aktivismus in der Behindertenszene hat Andy auch über Sexualität und im Speziellen über Sexualität und Behinderung geredet. U.a. zusammen mit seiner vertrauten Freundin Deva Busha in einem wunderbaren Artikel der OVB Heimatzeitung.

Nicht reißerisch, sondern über Sexualität als menschliches Grundbedürfnis, das ihm von der Gesellschaft nicht zugestanden und über Sexualität als Menschenrecht, das ihm in Sondereinrichtungen verwehrt wurde.

Ich tue mich schwer beim Thema Sexualität. Das liegt wahrscheinlich an meiner schambehafteten, katholischen Kindheit. Aber wir sind ja hier bei Kobinet unter uns und da kann ich Ihnen, liebe Leser*innen gestehen: Etwa zwischen meinem 15. und 30. Lebensjahr, habe ich genau genommen an kaum etwas anderes als an Sex gedacht! Das hätte ich damals nie zugegeben (auch weil ich es hätte beichten müssen), aber als ich mir in der Pubertät meiner Sexualität allmählich bewusst wurde, leitete mich ein starkes Verlangen, sie auszuleben. Viel weniger direkt als heutzutage. Es gab ja kein Internet (einige von uns werden sich erinnern).

Ich wollte Mädchen berühren, sie küssen … Na ja und dann mal sehen, was noch so passieren konnte. Ich war ausgeprägt schüchtern. Vor alledem wollte ich Mädchen ins Kino einladen oder zum Essen. Ich wollte tolle Gespräche bis tief in die Nacht mit ihnen führen und dabei noch einigermaßen attraktiv und originell rüberkommen. Eine der Angebeteten konfrontierte ich einmal mit dem Satz: „Sexualität ist für mich die Vervollkommnung guter Kommunikation!“ Der Satz war damals nicht zielführend, aber eigentlich finde ich ihn immer noch ganz gut. Die Jahre meines Erwachsenwerdens waren eigentlich unbeschwert. Es gab nur einen wirklichen Kummer. Den Liebeskummer (Sie dürfen mich ruhig etwas bedauern!).

Während meiner Umschulung zum Heilerziehungspfleger erklärte mir dann meine Lehrkraft in Psychologie, in einem anderen Zusammenhang, dass diese Erfahrungen, negative, wie positive, einer der wesentlichen, wenn nicht der wesentliche Baustein bei der Entwicklung einer Persönlichkeit darstellen. Und dass das Fehlen solcher Erfahrungen bzw. Bausteine zu einer instabilen Persönlichkeit führen kann. Warum dann das Thema „Sexualpädagogik“ keinen Raum in der Ausbildung einnahm, hinterfragte ich damals nicht.

Auch nicht als in der Einrichtung, in der ich anschließend tätig war, erste zaghafte Versuche unternommen wurden, sich dem Thema anzunähern.

Dort war es zu Übergriffen unter den Bewohner*innen und durch Außenstehende gekommen. Allem Anschein nach hatten sich u.a. Bewohnerinnen der Sondereinrichtung prostituiert und sich für einen geringen Geldbetrag zu sexuellen Handlungen an Männern aus der Umgebung überreden lassen. Anstatt die Fälle öffentlich zu machen und zur Anzeige zu bringen, entschied man sich, die vermeintlich betroffenen Frauen sexualpädagogisch aufzuklären. Dazu wurden Bildmaterialien aus dem Sexualunterricht für Kinder beschafft, die, in für mein ästhetisches Empfinden, schrecklichen Zeichnungen etwa die primären Geschlechtsorgane oder die Handhabung und den Sinn von Kondomen zu erklären versuchten. Ich beteiligte mich damals nicht an der in bester Absicht gegründeten Arbeitsgruppe. Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob meine Begründung für die Ablehnung berechtigt war. Ich stellte die Herangehensweise an das Thema infrage.

· Geht es beim Thema Sexualität nicht in erster Linie um eine selbstbestimmte Entscheidung?

· Fängt diese Selbstbestimmung nicht schon bei ganz alltäglichen Entscheidungen, die in Sondereinrichtungen oft von Betreuer*innen und Institutionen getroffen werden, an?

· Geht mich, als Betreuer und Teil dieser Institution, das Sexualleben anderer überhaupt etwas an?

· Ist es nicht notwendiger, Bewohner*innen zu ermutigen, schon bei alltäglichen Entscheidungen „Nein!“ zu sagen?

· Und ist deswegen die Forcierung der Selbstbestimmung nicht der grundsätzlichere Ansatz, auch in Bezug auf Sexualität in Sondereinrichtungen?

In unregelmäßigen Abständen versuche ich „Altherrengeschichten“ aus meiner beruflichen Biografie, wie diese, mit der aktuellen Realität der Behindertenhilfe abzugleichen. Erschreckend, wie aktuell und unbearbeitet Themen, wie „Sexualität in der Behindertenhilfe“ immer noch sind!

Mitte der 80er-Jahre sprachen manchen Einrichtungen Ihre Befürchtungen im Umgang mit dem Thema, hinter vorgehaltener Hand, noch aus: „Sie wollten keine schlafenden Hunde wecken…“

Ich erinnere mich auch an Medizinpläne, in denen ein „trieb hemmendes Medikament“ namens „Androcur“ vornehmlich für männliche Klienten aufgeführt war. Auch eine Art des Umgangs.

Heute bin ich der Meinung, dass sich einige sogenannte Verhaltensauffälligkeiten von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen eindeutig auf die Verweigerung sexueller Selbstbestimmtheit und Entwicklung zurückführen lassen. Diesen Menschen, vor allem jenen, die in Sondereinrichtungen leben müssen, wird mitunter eine gewisse Distanzlosigkeit unterstellt. Ist dieses Verhalten nicht einem „Bedürfnis nach Nähe“ geschuldet???

Die Toleranz der Bevölkerung gegenüber verschiedenen Geschlechteridentifizierungen und sexuellen Orientierungen lag, laut Wikipedia 2019, in Deutschland bei 73 %. Das ist ausbaufähig! Noch ausbaufähiger scheint das Zugeständnis an Menschen mit Beeinträchtigung für eine selbstbestimmte Sexualität.

Einrichtungsträger der Behindertenhilfe befassen sich auch heute noch, nur am Rande, meist im Rahmen der gesetzlich vorgeschriebenen Gewaltpräventionskonzepte mit Sexualität. Dabei wird sexuelle Selbstbestimmung weitestgehend auf die Vermeidung sexueller Übergriffe reduziert. Nach sexuellen Bedürfnissen wird nicht gefragt. Auch die Frage, ob die Verweigerung dieser Bedürfnisse ein Teil von institutioneller Gewalt beinhaltet, wird nicht beantwortet.

Eine Veranstaltung, die bezeichnenderweise nicht von Einrichtungsträgern initiiert wird, macht allerdings Hoffnung.

Die Initiative „Dannmachdoch“ veranstaltet in Limburg am 13.09.2024 einen Dialog mit dem Titel:

Wie machst Du’s?

Wir reden über Sexualität, Liebe, Sex und Partnerschaft.

Ein Gespräch für Menschen mit oder ohne Behinderung.

Ein unbedingt empfehlenswerter Einstieg in das Thema Sexualität in der Behindertenhilfe, den ich jeder und jedem nur empfehlen kann. Auch den Verantwortlichen und Entscheidungsträger*innen aus Einrichtungen und Politik. Damit „sexuelle Selbstbestimmung“ kein Tabuthema bleibt.

Ich gehe bestimmt hin!

Stephan Laux August 2024