
Foto: Franz-Josef Hanke
Marburg/Lahn (kobinet) Die Zahl der Menschen mit mehr als einer Behinderung ist deutlich höher als angenommen. Das ist das Ergebnis einer Umfrage im Behindertenbeirat der Stadt Marburg. Darauf macht der Journalist Franz-Josef Hanke in seinem Beitrag deutlich, den er den kobinet-nachrichten zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat.
Bericht von Franz-Josef Hanke
Die Zahl der Menschen mit mehr als einer Behinderung ist deutlich höher als angenommen. Das ist das Ergebnis einer Umfrage im Behindertenbeirat der Stadt Marburg. Repräsentativ ist diese Erhebung natürlich nicht. Dennoch erlaubt sie Rückschlüsse auf den Anteil der Mehrfachbehinderten an der Gesamtbevölkerung. Stattgefunden hat die Umfrage anlässlich meines Vortrags über Mehrfachbehinderung bei der Sitzung des Marburger Behindertenbeirats am 12. Juni 2024.
„Jede zusätzliche Behinderung ist nicht etwa eine Addition zu den anderen Beeinträchtigungen, sondern eine Potenzierung“, hatte ich dabei erklärt. Zu diesem Ergebnis war die Arbeitsgruppe „LowVisionPlus“ im Deutschen Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS) bei den Diskussionen mehrfachbehinderter blinder und sehbehinderter Vereinsmitglieder gekommen. Oft können Menschen die Auswirkung einer Behinderung durch Einsatz anderer Fertigkeiten wenigstens teilweise ausgleichen. Kommt zu der Behinderung jedoch eine weitere hinzu, dann erschwert oder verhindert sie möglicherweise gerade diese Anpassungsleistung.
Erklärt hatte ich das am Beispiel meiner eigenen Behinderungen: Meine Fußlähmung wäre kein größeres Problem, könnte ich genau sehen, wo ich hintrete. Meine Blindheit gefährdet mich aber gerade dadurch noch stärker, dass ich im Falle eines Stolperns nicht in der Lage bin, mich aufzufangen und zu stabilisieren.
Noch stärker beeinträchtigt mich meine neurologische Zusatzbehinderung. Mit meinen zittrigen Fingern habe ich Mühe, Formulare im Internet zu bedienen.
Die Gefahr, durch zu viel Stress einen Epileptischen Anfall auszulösen, ist ein wichtiger Grund, mich nicht mit Ratschlägen zu befassen, die mir in wohlmeinender Absicht die Nutzung dieser oder jener Techniken, Verfahren oder Computerprogramme anraten, die mich nur auf gefährliche Weise stressen.
Leider musste ich immer wieder hören: „Als Blinder muss man das doch können!“ Gerade blinde und sehbehinderte Mitmenschen haben mir diese ableistische Aussage häufig entgegengebracht.
„Den Stand einer Demokratie erkennt man an ihrem Umgang mit den Schwächsten“, hatte der Lebenshilfe-Gründer Tom Mutters einmal gesagt. Mit diesem Zitat habe ich den Behindertenbeirat der Universitätsstadt Marburg aufgefordert, sich dem verbreiteten Schubladendenken vieler Behörden entgegenzustellen, dass diese oder jene Maßnahme doch durchaus vertretbar sei, weil die meisten Behinderten sich daran anpassen könnten.
Nullabsenkungen von Bordsteinkanten oder das Abschalten von Ampeltönen werden in Marburg mit solchen Argumenten gerechtfertigt.
Zum Abschluss habe ich eine „gesungene Abstimmung“ durchgeführt. Eingeteilt habe ich die Anwesenden bei der Sitzung im Marburger Stadtverordnetensaal in drei Gruppen: Die Nichtbehinderten sollten aufstehen und „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ von Franz Josef Degenhardt singen. Diejenigen mit nur einer Behinderung leben sollten eine Hand heben und „Hänschen klein“ singen. Mehrfachbehinderte wiederum habe ich aufgefordert, beide Hände zu heben und „Alle meine Entchen“ anzustimmen. Dann habe ich heruntergezählt von Drei auf Zwei, Eins und Null. Danach haben alle gleichzeitig gesungen. Die lauteste Gruppe war überraschenderweise diejenige, die „Alle meine Entchen“ sang.
Erklären kann ich mir das damit, dass die Mehrzahl der Mitglieder dieses Gremiums bereits im Rentenalter oder nahe daran ist. Zudem lösen manche Behinderungen auch Folgebeeinträchtigungen aus. Somit ist der Anteil mehrfachbehinderter Menschen an der Bevölkerung vermutlich weitaus höher als die – von mir zuvor geschätzten – 1 Prozent. Deutlich mehr als eine Million Menschen in Deutschland haben demnach mehr als nur eine einzige Behinderung.