Bremen (kobinet) Elke Gerdes engagiert sich seit 20 Jahren für Inklusion. Zuerst im schulischen Bereich und nun verstärkt auch im Bereich des Übergangs behinderter Jugendlicher auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Ottmar Miles-Paul vom Projekt Gute Nachrichten zur Inklusion hat die engagierte Bremerin auf einen Kaffee getroffen und mit ihr folgendes Interview über ihr Engagement und ihre Ziele geführt.
kobinet-nachrichten: Sie setzen sich schon seit vielen Jahren für Inklusion ein. Was haben Sie genau gemacht und was treibt Sie dabei an?
Elke Gerdes: 2004 ist unsere Tochter Amelie mit Trisomie 21 zur Welt gekommen. Wir haben dann schon sehr schnell realisiert, dass wir als Eltern richtig viel dafür tun müssen, dass unsere Tochter nicht in die vorhandenen Sondersysteme geschoben wird. Das betraf zunächst vor allem den Zugang zur gleichen Grundschule in unserem Stadtteil, die auch unser Sohn schon besucht hatte. Zusammen mit anderen Eltern, die vor ähnlichen Herausforderungen standen, habe ich 2007 zunächst die Initiative „Eine Schule für Alle Jetzt!“ gestartet und daraus schließlich 2011 den Verein „Eine Schule für Alle Bremen e.V.“ gegründet.
Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention und dem neuen Bremer Schulgesetz, in dem seit 2009 steht, dass alle Schulen in Bremen sich zu inklusiven Schulen entwickeln müssen, hatten wir gute Ausgangsvoraussetzungen, um politischen Druck auszuüben. Bremen war sehr im Aufbruch was die Entwicklung von schulischer Inklusion betraf. In unserem Verein geht es uns darum, bei der Umsetzung von Inklusion auf die Qualität zu achten: wo Inklusion draufsteht, muss Inklusion drin sein. So haben wir u.a. 2016 das „Bremer Memorandum für schulische Inklusion“ gemeinsam mit dem Landesbehindertenbeauftragten initiiert und organisiert. Das Memorandum wurde von 30 Bremer Organisationen, Verbänden und Vereinen unterzeichnet und unterstreicht die Notwendigkeit für eine gute Umsetzung von Inklusion in Schulen.
Und seit 2011 führen wir auch 1 bis 2 mal im Jahr unsere Veranstaltungsreihe „Pfeiffer mit 3f! – Die Bremer BildungsMatinee“ als Familien-Sonntagsbrunch durch, mit der wir Impulse für die Weiterentwicklung von Inklusion geben möchten und ein Austauschforum anbieten. Wir arbeiten ausschließlich politisch und in Netzwerken und fordern u.a. die konsequente Umsetzung von Inklusion – das beinhaltet auch die Abschaffung der Gymnasien zugunsten eines Schulsystems, das die Bedarfe und Bedürfnisse von allen Schüler:innen im Blick hat, egal ob mit Behinderung, Hochbegabung, Migrationshintergrund oder „normal“ – was auch immer das heißt.
kobinet-nachrichten: Seit geraumer Zeit sind Sie nun auch mit dem Thema Arbeit für behinderte Menschen befasst. Wo engagieren Sie sich genau und was ist Ihnen dabei wichtig?
Elke Gerdes: Wir haben das Thema „Übergang von der Schule in den Beruf“ schon seit einigen Jahren am Wickel. Für Schüler:innen mit kognitiven Beeinträchtigungen wird in der Regel schon in der Schule der Trampelpfad in die Werkstatt bereitet. Gesetzlich ist das zwar anders vorgesehen, aber die Zahlen sprechen da eine deutliche Sprache. Eigentlich sind wir mit dem Interesse herangegangen, in dem bestehenden System die Stellschrauben so weit zu drehen und in Gang zu setzen, dass es zu wirklichen Veränderungen in Richtung inklusiver Übergang in den allgemeinen Arbeitsmarkt kommt.
Das vorhandene System ist aber sowohl in Schule, als auch bei denen, die beraten, sehr schwerfällig und festgefahren. Zumal ja das riesige, gut ausfinanzierte und gewohnte Werkstattsystem zur Verfügung steht und mit offenen Armen die Schulabgänger:innen empfängt. An der Stelle sind wir bisher nicht gut vorangekommen. Vor allem wollten wir aber auch Angebote finden, wo den Schulabgänger:innen mit kognitiven Beeinträchtigungen nicht von vornherein gesagt wird, was sie auf keinen Fall können und in denen sie sich interessengeleitet und unabhängig von der Höhe ihres Unterstützungsbedarfs Richtung allgemeiner Arbeitsmarkt entwickeln können.
Wir haben so etwas leider nicht gefunden und uns dann überlegt, selber ein Modellprojekt dazu zu entwickeln. Gemeinsam mit dem Bildungsträger „Aböe e.V.“ haben wir uns 2020 auf den Weg gemacht und dabei ist „AdeA – Auf den ersten Arbeitsmarkt“ (www.adea-bremen.de) heraus gekommen. Das Projekt wird seit Beginn des Jahres von Aböe konkret umgesetzt und durch ESF-Mittel und aus Mitteln der Ausgleichsabgabe von Bremen gefördert. Die ersten Teilnehmenden sind im Mai gestartet, im August kommt die nächste Gruppe hinzu. Wir binden sowohl Betriebe als auch Eltern für das Gelingen ein und lassen das Projekt von der Uni Bremen evaluieren, damit die Erkenntnisse hoffentlich ins bestehende System einfliessen.
kobinet-nachrichten: Gerade wenn behinderte Menschen die ausgetretenen Pfade verlassen, treten erhebliche Schwierigkeiten für ein inklusives Arbeiten auf. Welche Hürden beobachten Sie?
Elke Gerdes: Oh jeeh, da gibt es leider noch jede Menge. „Ausgetretene Pfade“ bedeutet ja auch, dass sich viele sehr gut damit auskennen und sie deshalb auch gerne weiter begehen möchten. Veränderungen machen vielen Angst. Für neue Pfade muss die Bereitschaft bei allen Beteiligten da sein, Neues zu erlernen, offen zu sein und auch Scheitern als Teil eines Lernprozesses zu begreifen. Das betrifft die Menschen mit Behinderungen, deren Familien, die Betriebe, die Behörden und alle Unterstützungssysteme, die es braucht und die zum Teil noch gar nicht gedacht und vorhanden sind. Gerade Menschen mit kognitiven Behinderungen sind nach wie vor häufig von Beginn an mehr oder weniger in Sondersystemen. Das heißt, dass es viel zu wenige Begegnungen und Erfahrungen miteinander gibt und dadurch viele Berührungsängste, die sich natürlich im Erwachsenenalter nicht einfach auflösen.
Im allgemeinen Arbeitsmarkt zählt das ökonomische Interesse – das wird häufig überhaupt nicht in Verbindung mit den Möglichkeiten von Menschen mit Behinderungen gebracht, die fast immer über ihre Defizite definiert werden. Es gibt mittlerweile zum Glück eine Vielzahl von Möglichkeiten, durch die Betriebe, die Menschen mit Behinderungen einstellen wollen, unterstützt werden können. Häufig werden aber sogar willige Betriebe allein gelassen und scheitern im Antrags- und Genehmigungsdschungel. Und wer einmal gescheitert ist, versucht es kein zweites Mal.
kobinet-nachrichten: Welche Möglichkeiten sehen Sie und wofür setzen Sie sich ein?
Elke Gerdes: Auch dazu gibt es eine lange Liste. Besonders wichtig: die Berufsorientierung in der Schule muss für Schüler:innen mit Beeinträchtigungen konsequent in Richtung allgemeiner Arbeitsmarkt ausgerichtet werden. Betriebspraktika bedeuten nicht nur für die Schüler:innen Interessensklärung und das Wissen darum, was ich kann und möchte, sondern auch Begegnung und gegenseitiges Kennenlernen – also Abbau von Berührungsängsten. Die vorhandenen Unterstützungsmöglichkeiten für den Weg auf den ersten Arbeitsmarkt müssen verständlich, transparent und übersichtlich zugänglich sein und an allererster Stelle stehen, wenn es um die Beratung für den beruflichen Weg geht. Und Betriebe müssen jede Unterstützung erhalten, die sie benötigen, damit ein Mensch mit Behinderung dort gut, langfristig und auskömmlich arbeiten kann.
kobinet-nachrichten: Wenn Sie zwei Wünsche in Sachen Inklusion frei hätten, welche wären dies?
Elke Gerdes: Eigentlich hätte ich da nur einen, weil damit mein „Nordstern“ erreicht wäre: wir brauchen das Wort „Inklusion“ nicht mehr, weil dies durch gelebte tatsächlich inklusive Praxis in allen Bereichen überflüssig geworden ist.
kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.