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Barrierefreiheit und soziale Teilhabe im ländlichen Raum

Weitläufige Mittelgebirgslandschaft.
Weitläufige Mittelgebirgslandschaft. Felder mit angrenzendem Wald. Horizont mit beeindruckendem Wolkenspiel. Perspektive: Seitenfenster Rücksitz PKW. Schwarzweiß Fotografie
Foto: Ralph Milewski

Villmar - Weyer (kobinet) Barrierefreiheit und soziale Teilhabe werden im ländlichen Raum noch mehr vernachlässigt als in mittleren und großen Städten. Deshalb richtet sich Stephan Laux mit einem offenen Brief an Landrät*innen, Bürgermeister*innen und Gemeindevertreter*innen.



Offener Brief an Landrät*innen, Bürgermeister*innen und Gemeindevertreter*innen:

Zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) und der UN Behindertenrechtskonvention (UN – BRK) auf kommunaler und Gemeinde – Ebene.

Sehr geehrte Landrät*innen, Bürgermeister*innen und Gemeindevertreter*innen!

Das BTHG selbst zu studieren ist mühsam, da es 370 Din A 4 Seiten umfasst, im Wesentlichen das Sozialgesetzbuch IX (SGB 9) ersetzt und vor allem die Finanzierung der Eingliederungshilfe regelt. Manche Kritiker sprechen von einem Einsparungsgesetz.

Die UN BRK (2006) beschreibt die Haltung und die Verpflichtung zur Umsetzung hinter diesem Gesetz; zu der sich die 185 Staaten durch die Ratifizierung verpflichtet haben (Deutschland 2009). D.h. die Konvention hat Völkerrechtsstatus noch vor EU oder deutschem Recht.

Das gilt auch und vor allem auf kommunaler Ebene.

Wie zu oft bei Versuchen der Umsetzung solcher Konventionen reagiert die Politik, im speziellen die deutsche, darauf mit der Bildung sogenannter Experten Kommissionen und dem Erstellen von „Aktionsplänen“.

In Hessen gibt es einen solchen Aktionsplan seit 2012, mit etlichen Grußworten diverser Würdenträger (u.a. vom damaligen Ministerpräsidenten Volker Bouffier) und umfasst 217 Seiten.

Der rheinlandpfälzische Aktionsplan für Gemeinden von 2014 ist mit 28 Seiten übersichtlicher und aussagekräftiger.

Dabei gibt es an der UN BRK wenig zu deuteln. Denn im Wesentlichen geht es darum Barrieren für Beeinträchtigte Menschen zu beseitigen, respektive abzuschaffen und Förderfaktoren auszubauen; respektive zu schaffen (siehe International Classification of Functioning, Disability and Health – Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit – ICF) .

Dafür ist die Unzugänglichkeit zu Ausschuss und Gemeindevertretersitzungen für Beeinträchtigte Menschen ein Paradebeispiel. Barrieren für Rollstuhlfahrer*innen und körperlich beeinträchtigte Menschen sind meistens am offensichtlichsten. Mir persönlich geht es aber auch um die Zielgruppe: Menschen mit kognitiven Einschränkungen, geistig und psychisch Beeinträchtigte. Für diese Menschen stellt u.a. das BTHG eine Barriere dar, weil es, selbst für nicht beeinträchtigte Leute, nicht zu verstehen ist (ganz abgesehen von Steuerformularen oder Anträgen).

Gemeinden und Kommunen scheuen sich davor, diese Probleme anzugehen. Selbst etablierte Sondereinrichtungen wie die Lebenshilfe, die Caritas oder die Vitos Teilhabe entwickeln absurd anmutende Umsetzungskonzepte.

Dabei besteht in Gemeinden und Kommunen die Chance hier einen Anfang zu machen. Neoliberal würde man von Synergieeffekten sprechen. Ein Ausbau des Radwegenetzes bedeutet auch einen Ausbau des Rollstuhlfahrerinnennetzes. Abgesenkte Bordsteine kommen auch Kinderwagen zugute. Eine Gemeindewebseite und ein Formularwesen in „leichter Sprache“ erleichtern auch dem „Normalbürger“ den Zugang. Usw., usw….

Meiner Meinung nach wird die Auseinandersetzung mit dem Thema und die (völker-) rechtliche geforderte Umsetzung in den Kommunen auf die Dauer nicht alleine durch ehrenamtliches Engagement zu lösen sein, wie z.B. auch bei der Flüchtlingshilfe. Darauf können sich Bürgermeister*innen und Gemeindekremien nicht verlassen.

Es ist an der Zeit in der Kommunal- und Gemeindepolitik endlich einen Perspektivwechsel vorzunehmen. Das bedeutet Gemeindepolitik vom Schwächsten her zu denken. Eine zutiefst soziale Denkweise.

Alleine der Gedanke heute Abend, an einer öffentlichen Sitzung teilnehmen zu wollen und dabei auf einen Rollstuhl angewiesen zu sein, kann einen solchen Perspektivwechsel anstoßen. Dabei wird auch deutlich, dass Inklusion und die Umsetzung der BRK auf natürliche Grenzen stoßen kann. Denn die Mitglieder der Finanz-, Bau- und Umweltausschüsse werden sich schwer damit tun, eine gesamte Gemeinde ebenerdig umzugestalten.

Solch eine Denkweise bzw. solch ein Perspektivwechsel wird aber in Zukunft allen alteingesessenen, wie künftigen Bürgerinnen und Bürgern mehr Teilhabe am öffentlichen und gesellschaftlichen Leben im Sozialraum der Gemeinde ermöglichen.

Stephan Laux Januar 2024