BERLIN (kobinet) Das Informations- und Zertifizierungssystem "Reisen für Alle" ist schon lange im Gespräch. Eine Zeit lang war zu befürchten, dass dieses System keine Perspektive mehr hat. Gegenwärtig ist gesichert, dass es im Jahr 2023 Bestand hat. Zur Zukunft von "Reisen für Alle" gibt es, neben den Aussagen vieler Politiker, dass es wichtig ist und unbedingt fortgeführt werden muss, nur wenige Monate vor dem Beginn des Jahres 2024 viele offene Fragen. Die kobinet-Redaktion hat deshalb kurz vor Behandlung dieses Themas im Tourismusausschuss des Deutschen Bundestages mit André Nowak, dem Sprecher der AG "Tourismus" des Deutschen Behindertenrates, über den Stand der Dinge gesprochen
kobinet: Am 2. September 2022 gründete sich die AG Tourismus beim Deutschen Behindertenbeirat. Was waren die Gründe dafür und wie ist Deine Bilanz nach diesem ersten Jahr?
André Nowak: 20 Jahre war die NatKo, der Zusammenschluss von mehreren Behindertenorganisationen, die gemeinsame Stimme von Menschen mit Behinderungen, wenn es um die Entwicklung des barrierefreien Tourismus in Deutschland ging. Mit der Auflösung der NatKo im Sommer 2019 war diese Stimme weg, es gab nur noch vereinzelte Aktivitäten von einigen Behindertenorganisationen und dazwischen auch keinerlei Abstimmung untereinander. Deshalb schlug ich dem Arbeitsausschuss des Deutschen Behindertenrates die Gründung einer DBR-AG „Tourismus“ vor. Der DBR stimmte zu und interessierte Vertreter aus Behindertenorganisationen, darunter auch mehrere Personen, die schon in der NatKo aktiv waren, fanden sich zu dieser neuen AG zusammen.
Inzwischen haben wir schon fünf Mal getagt, zuletzt am 22. September, haben ein Positionspapier zum barrierefreien Tourismus erarbeitet, welches der Arbeitsschuss des DBR im April 2023 bestätigte, und haben uns schwerpunktmäßig mit dem Kennzeichnungs- und Informationssystem „Reisen für Alle“ (RfA) beschäftigt. Hinzu kommen zahlreiche Gespräche und Vorträge von Mitgliedern der AG mit Vertretern aus der Politik und Tourismuswirtschaft bzw. auf deren Veranstaltungen.
kobinet: Spätestens mit seinem Brief an die DBR-Sprecherin Dr. Siegrid Arnade vom 23.12.2022 hat der für Tourismus zuständige Bundesminister Dr. Robert Habeck klar gemacht, dass angesichts der geringen Verbreitung von RfA mit 2.566 zertifizierten Objekten bei insgesamt zirka 650.000 tourismusrelevanten Einrichtungen das Projekt eine äußerst geringe Akzeptanz findet, es einer grundlegenden Neuausrichtung bedürfe und die Bundesregierung das Projekt nicht über 2023 hinaus weiter fördern wird. Wie habt Ihr darauf reagiert?
André Nowak: Diese grundlegende Neuausrichtung fordern die Behindertenverbände seit über fünf Jahren – nachlesbar u.a. in meinem Beitrag auf der Fachtagung zu RfA im Bundeswirtschaftsministerium am 12. Juli 2018. Leider wurden unsere Forderungen und Vorschläge vom Ministerium und den Tourismusverbänden schlichtweg ignoriert. Klare Worte seitens des DBR mit konkreten Vorschlägen gab es dann sowohl im Antwortbrief von Siegrid Arnade an den Minister am 02.03.2023 und in dem Gespräch im BMWK mit dem Tourismusbeauftragten Dieter Janecek und dem DBR am 31. März. Stets haben wir unsere aktive Einbeziehung angeboten bzw. eingefordert. Tatsache ist, dass man uns im Ministerium aufmerksam zugehört hat, aber wie schon zuvor wurden alle weiteren Schritte und Entscheidungen getroffen, ohne uns zu beteiligen.
kobinet: Was sind die zentralen Forderungen des Deutschen Behindertenrates und wie sind sie derzeit in der Arbeit des BMWK berücksichtigt?
André Nowak: „Reisen für Alle“ als flächendeckendes Informations- und Kennzeichnungssystem ist für Menschen mit Behinderungen elementar wichtig. Menschen mit Behinderungen, aber auch viele andere gesellschaftliche Gruppen, sind im Alltag und auf Reisen mit einer Vielzahl an Barrieren konfrontiert. Gesicherte Informationen über die Ausstattung zum Beispiel von Gaststätten, Hotels oder Freizeiteinrichtungen sind eine wichtige Voraussetzung, um gesellschaftliche Teilhabe zu sichern. Damit dies erfüllt wird, sind flächendeckende und nach einheitlichen Kriterien überprüfte Informationen von allen (rund 650.000) tourismusrelevanten Objekten über bestehende Barrieren und den Grad der Barrierefreiheit von Orten unabdingbar. Und nach unserer Auffassung wird das nur gelingen, wenn es eine gesetzlich geregelte Informationspflicht gibt. Auch muss man überlegen, inwieweit das System RfA für die gesamte öffentliche Infrastruktur genutzt werden kann. Hier gibt es derzeit zu viele parallele Entwicklungen (u.a. für öffentliche Gebäude wie Ministerien, Verwaltungsgebäude, aber auch Arztpraxen oder Sportstätten), obwohl das RfA-System als Baukastensystem für alle diese Objekte geeignet ist.
Fakt ist, dass das Ministerium bis heute jede Antwort verweigert, was sie unter „flächendeckend“ versteht, dass die Frage einer gesetzlichen Informationspflicht unter fadenscheinigen Gründen strikt abgelehnt wird und es scheinbar unmöglich ist, dass die verschiedenen Bundesministerien die Frage eines gemeinsamen Informationssystems mal gemeinsam (mit dem DBR) erörtern.
kobinet: Das BMWK hat in einer Pressemitteilung am 14. September verkündet, dass die nahtlose Fortführung des bundesweiten Kennzeichnungs- und Informationssystems „Reisen für Alle“ auch nach dem 31.12.2023 gesichert sei. Seid Ihr über diese Entscheidung froh?
André Nowak: Wir haben in unserer AG-Sitzung am Freitag die „Gemeinsame Absichtserklärung des Bundes, der Länder und der Deutschen Zentrale für Tourismus e.V. (DZT)“ vom 06.09.2023 sowie diese Pressemitteilung zu Kenntnis genommen. Wir sind befremdet darüber, dass die dort dargestellten Entscheidungen ohne Beteiligung des DBR und seiner Mitgliedsverbände getroffen wurden. Nach unserer Beurteilung sind die nun vorgestellten Pläne von Bund und Ländern nicht dazu geeignet, dieses System im Sinne der Betroffenen und der ursprünglichen Zielsetzung weiterzuentwickeln. Der Ansatz, die organisatorischen Pläne, die Betreuung des Systems langfristig in die Hände einer Koordinierungsstelle der Länder zu geben, gefährdet aus unserer Sicht einen wesentlichen Kern des Kennzeichnungs- und Informationssystems: die einheitliche Bereitstellung von Informationen für die Nutzerinnen und Nutzer.
Wir halten es für unerlässlich, die Verwaltung des Systems in einer Hand sicherzustellen, um den Status der Barrierefreiheit bundesweit einheitlich zu erheben sowie die Informationen bzw. Daten zu kommunizieren. Bei einer Kompetenzübergabe an die Länder und zum Teil auch an die DZT droht nach unserer Erfahrung ein Flickenteppich an Informationen, der die Verlässlichkeit des Systems in Frage stellt.
Wir nehmen außerdem zur Kenntnis, dass die derzeit beteiligten Akteure offensichtlich nicht willens sind, sich gleichzeitig mit der inhaltlichen Weiterentwicklung von „Reisen für Alle“ zu beschäftigen. Deshalb fordern wir Bund und Länder dazu auf, die inhaltliche Weiterentwicklung des Systems nicht weiterhin von organisatorischen Entscheidungen abzukoppeln. Die Entwicklung einer gemeinsamen Zielsetzung von Bund, Ländern und Betroffenen bestimmt aus unserer Sicht die organisatorischen Anforderungen, die an die Administration von „Reisen für Alle“ in Zukunft gestellt werden.
Ich kann es auch drastischer formulieren: Während die Bundesregierung ständig beteuert, wie wichtig für sie die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Tourismus und die dafür erforderliche Schaffung von Barrierefreiheit ist, fährt das zuständige Bundeswirtschaftsministerium das RfA-System vorsätzlich gegen die Wand, sucht dabei Schuldige außerhalb ihres Ministeriums und stiehlt sich regelrecht aus der Verantwortung. Wir werden, wenn es hier nicht kurzfristig grundlegende Änderungen gibt, im nächsten Jahr vor einem Scherbenhaufen stehen.
kobinet: Wie geht es weiter?
André Nowak: Notwendig ist meines Erachtens eine bundesweit einheitliche Lösung in den Händen des Bundes oder eines übergeordneten Trägers, mit der eine verbindliche Mitwirkung aller Akteure – die Behindertenorganisationen eingeschlossen – gewährleistet wird. Ich hoffe, dass auch der Tourismusausschuss bei dem Thema mit der Faust auf den Tisch haut. Und es müssen endlich mal alle Akteure an einen Tisch und miteinander beraten, statt sich häppchenweise in Informationsveranstaltungen wie die Videokonferenz am 19. September von den Aktivitäten des Ministeriums berichten zu lassen. Die einzige dafür geeignete Plattform- der Beirat Reisen für Alle (angebunden beim derzeitigen Träger DSFT) – tagte das letzte Mal am 7. Oktober 2021. Weitere Sitzungen unterband trotz meiner Forderungen auf Einberufung das Bundeswirtschaftsministerium.
kobinet: Mit einer „Bundesinitiative Barrierefrei“ soll laut Bundesregierung Deutschland barrierefrei werden. Zuständig ist hier das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Und das BMWK hat unlängst eine „Nationale Plattform Zukunft Tourismus“ gegründet, mit der die Nationale Tourismusstrategie fortgeschrieben werden soll. Ist hier das Thema des barrierefreien Tourismus gut aufgehoben?
André Nowak: Das System „Reisen für Alle“ ist ja nur die eine Seite der Medaille, hier bekommen Interessierte lediglich die für sie notwendigen Informationen zu bestehenden Barrieren bzw. zum Grad der Barrierefreiheit für ihre Reiseplanung. Die andere Seite ist die Schaffung von Barrierefreiheit in den vielen bestehenden tourismusrelevanten Objekten und auch die Verhinderung von neuen Barrieren beim Neubau. Ich hoffe, dass wir hier, auch im Rahmen der anstehenden Novellierung des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG), vorankommen. Vorschläge haben wir hierfür im o.g. Positionspapier unterbreitet. Mitglieder der AG Tourismus sind in Gremien beider Bundesinitiativen drin, aber in beiden Initiativen steht das Thema des barrierefreien Tourismus eher am Rand als im Mittelpunkt. Hier Fortschritte zu erreichen, wird also kein Selbstläufer, zumal ich auch hier das bei Bundesbehörden beliebte Ping-Pong-Spiel erlebe.
kobinet: Vielen Dank für die ausführlichen Antworten auf unsere Fragen. Die kobinet-Redaktion wünscht der Arbeitsgruppe viel Erfolg dabei, „Reisen für Alle“ so fortzuführen wie es den Ansprüchen und Bedürfnissen aller Menschen mit Behinderungen entspricht.