Staufen (kobinet) In Berlin, letzten Samstag, am 9.9. Passende Schnapszahl zum Ereignis. Endlich bekam die Hauptstadt und ihre Öffentlichkeit Behinderte nicht lediglich vereinzelt, tröpfchenweise, sondern in der Breite und Fläche zu Gesicht. Massenhaft, hätten wir Altachtundsechziger damals gesagt. Sichtbar werden, sich zeigen in bester Feierlaune, laut und ausgelassen. tanzend, singend, rezitierend, kabarettierend. „Oh my god, how wonderful all these beautiful cripples, amazing!“ So eine Berlinerin US-amerikanischer Abstammung am Rande der Kundgebung. Begeisterung auf allen Faces und auf Social Media sowieso. Und was die Presse meint und Gott (seinerseits behindert) dazu sagt, darüber gleich mehr.
Volle Sichtbarkeit
Darum vor allem geht es, so ist dem Podcast-Gespräch zwischen Inklusator Sascha Lang und einer Mitinitiatorin der Parade zu entnehmen, um Sichtbarkeit. Nicht bloß medial, sichtbar auch dadurch, dass man den öffentlichen Raum wieder einnimmt. Gerade nach der von den Pandemiemaßnahmen erzwungenen Abwesenheit jetzt wieder physische Präsenz zeigen. Sich nicht verstecken, nicht klein machen, sondern selbstbewusst, demonstrativ und offensiv Aufmerksamkeit erregen, keine skandalisierende, vielmehr eine lebensbejahende.
Das Podcastgespräch war vor ein paar Tagen. Heute, da ich die Kolumne schreibe, ist Montag nach der Parade. Und, liebe Leute, das schönste wäre, ich wäre als blinder Augenzeuge dabei gewesen. Dann könnte ich hier meine direkten Eindrücke schildern von der stolzen Behindertensichtbarkeit bei der Parade. Von der angekündigen Verleihung der Glitzerkrücke an Inklusionsmuffel, freundlich ausgedrückt. Doch mit Zweiundsiebzig eigne ich mich nicht zum rasenden Reporter, auch nicht zum reisenden, bahnreisenden. Ich verweise daher auf das, was Otmar Miles-Paul (unser „Hans-Dampf“ bei allen behindertenpolitischen Dringlichkeiten, wäre dies kein carbonzeitalterlicher Ehrentitel) im Kobinet-Nachrichtenteil vom Schauplatz berichtet.
Vielleicht folgt auch noch eine „Manöverkritik“ von Seiten der VeranstalterInnen. Immerhin kam das Event schon einmal in der Abendschau des rbb-Regionalfernsehens. Der Ultrakurzbericht beginnt mit dem Veranstaltungsmotto, „Behindert und verrückt auf die Straße zurück“ und endet mit den Worten, der Protest „behinderterpolitischer und queerer Einzelpersonen“ habe sich „gegen die Diskriminierung behinderter Menschen“ gerichtet, „was vom Grundgesetz her an sich ausgeschlossen sein sollte“. Dem möchte man ebenso knapp hinzufügen „na so was“!
Ein „Tiergarten Street Day“?
In der medialen Öffentlichkeitswirksamkeit hinkt der Behindertenaktivismus beträchtlich hinterher, verglichen mit dem Medienecho queerer Events, insbesondere von Lesben und Schwulen. Deren Manifestationen, Proteste und Forderungen werden auch von der Politik sehr viel ernster genommen. Als beim diesjährigen Christopher Street Day in der Hauptstadt Performer und Performerinnen aus der feiernden Community einen Tanz am Mahnmal für die vom Nationalsozialismus ermordeten Homosexuellem aufführten, war auch der regierende Bürgermeister Kai Wegener zur Stelle, legte einen Kranz an der Gedenkstätte nieder und war um pathetische Worte des Angedenkens und der Mahnung nicht verlegen. Öffentlich und medienwirksam gesprochene Worte, wie sie mir von prominenter Politikerseite mit Blick auf die dem nationalsozialistischen Terror zum Opfer gefallenen Psychiatriepatienten und Behinderten bis dato nicht bekannt sind. Eine Feststellung, die kein Schüren von Opferkonkurrenz bedeutet, sondern mit dem Wunsch nach gleicher Anerkennung und Gerechtigkeit für sämtliche Opferkollektive der NS-Zeit verbunden ist.
Keine Ahnung, wie viele Pride Parades von „behindert und verrückt feiern“ noch stattfinden müssen, bis diese öffentliche, mediale und politische Gleichbehandlung erreicht sein wird. Ob ein „Tiergaten Street Day“ diesen Prozess beschleunigen könnte, weiß ich nicht. Aber Symbole sind nun mal wichtig. Und vielleicht sollte auch der Behindertenaktivismus erinnerungspolitisch offensiver in Erscheinung treten. Nachdem es nun endlich – seit 2014, also gut 70 Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft – die „Zentrale Gedenkstätte für die Euthanasie-Mordopfer“ in der Berliner Tiergartenstraße 4 gibt. Gedacht wird hier der an die 300 000 Ermordeten, so die jüngst errechnete Zahl, eine dieser entsetzlichen Zahlen, die zunächst einmal nur sprachlos machen.
Was für ein quälend langer Weg bis zu diesem öffentlichen Gedenkort. Die ersten Jahrzehnte nach Kriegsende und dem von außen erzwungenen Abschalten auch der Tötungsmaschinerien für Psychiatrieinsassen und Behinderte herrschte Verdrängung und Vergessen im Land der Täter. Die aktiv beteiligten am Mordprogramm wurden nicht zur Rechenschaft gezogen. Die Köpfe der breiten Bevölkerungsmasse füllten sich mit Wirtschafts-Wunder-Plunder und das Bildungsbürgertum schwelgte in Karajan-Seligkeit. Deren Tempel war die neue Berliner Philharmonie. 1963 fertig gestellt und eingeweiht, schloss ihr Grundstück unmittelbar an dasjenige der 1957 gesprengten Villa Tiergarten-Straße 4 an, wo die Nazi-Bürokraten zwischen 1939 und 1945 ihr „Euthanasie-Programm“ planten und in Teilen auch durchführten. – Auch ich trampelte 1969 als Schüler mit der Abiturklasse unwissend und unwissentlich über dieses Gelände, sozusagen im Anmarsch auf das imposante Bauwerk der Philharmonie, in der uns Tchaikowskis Schwanensee als Bildungsgut erwartete. Der Weg ins Allerheiligste der höheren Bildung führte also gewissermaßen über ein Leichenfeld. Erst 1989 beginnt vor Ort mit einer vom Historiker Götz Aly und dem Journalisten Klaus Hartung (zwei Altachtundsechzigern) in den Boden eingelassenen Gedenkplatte die Erinnerungskultur. 2008 wurde in der Nähe zusätzlich eine Stele mit Gedenktafel aufgestellt. Bis dank einer Vereinsinitiative 2014 der Platz schließlich mit Ausstellungsvitrinen als offizielle Gedenkstätte gestaltet wurde. An welcher seither jährlich am zweiten Samstag im September eine Gedenkfeier stattfindet.
Der vergangene Samstag ist wieder der zweite im September gewesen. Und just an ihm fand zusätzlich auch die Pride Parade statt. Haben die Medien, die politische und die kulturelle Berichterstattung, etwas darüber verlauten lassen? Wurde das Ereignis gewürdigt? Gab es eine Meldung in der Tagesschau? Leider nein. Die öffentliche und mediale Anteilnahme hat sich in Grenzen gehalten, wird man wohl zurückhaltend konstatieren müssen. Und auch diese Kolumne, die es nochmal rausreißen könnte, dürfte wohl nur in den kobinet-nachrichten zu lesen sein.
Himmlischer Applaus
Dagegen kommt Anerkennung und Beifall von gewöhnlich unerwarteter Seite. Von ganz oben, von keinem geringeren als Gott. Nachdem er in der Kobinet-Kolumne vom 15.07.2023 – „Gott ist behindert“ – bereits sein coming out als kosmischer Krüppel hatte. Sein Daumen ging als erstes hoch, als die Pride-Parade letzten Samstag am Hermannsplatz gestartet ist, bei strahlend blauem Himmel. „Weiter so“, postet er auf der Stelle, „von nun an geht’s bergauf“, im Hintergrund hat er „Stairway to heaven“ von Led Zeppelin laufen. Von seinem Tribünenplatz droben hat er eine super Sicht. Das bunte Treiben zwischen Hermannsplatz und Cottbuser Tor war ihm dermaßen wohlgefällig, gottgefällig, dass er anschließend mit dem Rollstuhl einige Runden über die Milchstraße gedreht hat. Wobei er der Gottesmutter versehentlich über den großen Zeh gefahren ist, die schläfrig in ihrem Ohrensessel extra an der Rand der Galaxie gerückt war.
Auch davon ist nichts in den Mainstreammedien gestanden. Um aber die Kolumne nicht mit einer Defizitmeldung zu beschließen, sondern mit einer positiven Nachricht: Im Himmel sieht man mit freudiger Erwartung dem in Bälde bevorstehenden Besuch von Papst Franziskus entgegen. Wenn es soweit ist, soll es eine gemeinsame Rollstuhl-Ralley von Papst und Gott Vater geben. Franziskus wird seine weiße Daunenjacke überziehen, denn seit das Höllenfeuer erloschen ist, wird auch im Himmel aus Energiespargründen nicht mehr geheizt und es ist ganz schön zugig da oben, um nicht zu sagen eiskalt.
P.S. Ehrlich Leute, jetzt fragt mich bloß nicht, denn ich weiß es selber nicht, worin Gottes Behinderung genau besteht. Dass unsereins, die Spezies Mensch, ihn behindert, ihm ins Handwerk pfuscht, seine Schöpfung verhunzt, so viel steht fest. Und dass er, wie auf dem zurückliegenden Evangelischen Kirchentag verlautet ist, überdies „queer“ ist, macht es weiß Gott nicht unkomplizierter. Bis wir darüber endgültigen Aufschluss erhalten, dürfte dann auch die Karawane der Behinderten im Himmel der Inklusion angekommen sein.