
Foto: Hans-Willi Weis
Berlin (kobinet) Die Rammelschweine sind los. Oder waren es. Vor dem Sommerloch. Da war auch das mit dem Riesenschwein, das man mit einer streunenden Löwin verwechselt hat. Interessanter und ergiebiger sind aber die rockenden Rammelschweine, geben sie doch der Nachsommerlochzeit noch ein Rätsel auf. Vorneweg das Frontschwein, die sprichwörtliche Rampensau. Erst waren nur lyrische Pfeiftöne medial zu vernehmen, sexistische Gewaltphantasien in literarisch sublimierter Form. Inzwischen ist man über deren rohe, entsublimierte Äußerungsweise im Bild und rätselt, wie es sein kann, dass die Fans noch immer jubeln und ihre schweinischen Idole anhimmeln. Folgendes ist mir nachsommerlöchrig dazu eingefallen.
Des Rätsels Lösung ist narzisstische Exaltation, selbstverliebter Überschwang
Warum stört der Sexismus ihrer Idole die Fans nicht? Die von sich behaupten, selber nicht sexistisch zu sein. Wieso halten sie ihnen die Treue, sehen über die sexistische Gewalt hinweg. Relativieren sie – wo gehobelt wird, fallen Späne – als Kollateralschaden von „Sex & Drugs & Rock n` Roll“. – Des Rätsels Lösung oder den Schlüssel dazu entdecke ich bei der Lektüre von Isolde Charims Buch über „Narzissmus“. Darin erkennt die Soziologin jenen Kitt, der uns als gegeneinander konkurrierende Einzelne unter neoliberalen Wettbewerbsbedingungen dennoch gesellschaftlich zusammenhält. Es sind ihre „Stars“, um die sie sich scharen, was die total vereinzelten Konkurrenzsubjekte sich wieder als gesellschaftlich miteinander Verbundene fühlen lässt. Und zwar auf positive, geradezu euphorische Art und Weise sozial vereint.
Was ist narzisstisch daran, wenn wir uns heute über unsere Zugehörigkeit zu Fan-Gemeinschaften vergesellschaften? Jede Fangemeinde hat ihren „Star“, ihren bewunderten Fixstern, um den sie sich wie um einen Kristallisationspunkt versammelt. Wir himmeln diese vergötterten Lieblinge an, jubeln ihnen auf Rock-Konzerten zu, folgen ihren Tweets oder sonstigen Performances auf Social Media und finden uns selber dabei toll. Und so auch alle die, die gemeinsam mit uns die gleichen Helden anbeten. Kollektiv schwelgen wir in selbstverliebter Euphorie. Und vergessen vorübergehend im andern oder der anderen die Konkurrentin und den Konkurrenten, fallen einander um den Hals, statt uns die Ellbogen in die Rippen zu rammen, wie sonst beim Business as usual im neoliberalen Rattenrennen. Im Starkult vereint, geben wir uns wechselseitig narzisstische Bestätigung, genießen den Abglanz jener narzisstischen Bestätigung, mit der wir das Idol überhäufen.
Nicht wie früher primär durch moralische Gebote und Verbote (du sollst, du sollst nicht) werden trotz radikaler Individualisierung und totaler Konkurrenz gesellschaftliche Verbindlichkeiten und sozialer Zusammenhalt einigermaßen gewährleistet. Vielmehr durch schmeichelhafte Versprechungen und Adressierung der individuellen Eitelkeit: Du selbst kannst erfolgreich sein, mit deinen Fähigkeiten und Talenten schaffst du es spielend. Und diejenigen, die sich aus irgendeinem Grund im Nachteil oder Hintertreffen wähnen – etwa weil sie behindert sind oder behindert werden –, sind aufgefordert, sich selber zu empowern und schon sind auch sie imstande, den bereits Erfolgreichen nachzueifern. Dabei empfiehlt es sich, „Quotenstars“ und InfluenzerInnen zum Vorbild zu nehmen, sie zu meinem „Ich-Ideal“ oder „Ideal-Ich“ zu machen, psychoanalytisch gesprochen. Die Eigenliebe nicht beschränken, mir nichts verbieten oder verbieten lassen, der Weg zu Aufstieg und Glück bzw. zur Respektierung und Bewunderung von Seiten der anderen ist die ungebremste Zurschaustellung meines Narzissmus. Die neoliberale Wettbewerbsgesellschaft ist, so drückt es die Soziologie Charim mit den Worten des französischen Staranalytikers Lacan aus, nicht „verbietend“, sondern „exaltierend“. Das heißt, mein eigenes sternchenhaftes Reüssieren hängt von meiner Überschwänglichkeit ab.
Doch wir Behinderten eher nicht oder?
Werden wir Behinderte nicht allein durch unsere Behinderung, die ja gesellschaftlich wie selbstverständlich als Makel, Mangel, Manko bewertet wird, daran gehindert, am narzisstischen Trubel teilzunehmen? Bei diesem Theater mitzumachen und irgendwie mithalten zu können? Die fürs erste vielleicht überraschende Antwort lautet, durchaus nicht. Wir strengen uns eben besonders an und versuchen, ein Mehrfaches besser zu sein, um unter der nichtbehinderten Mehrheit im Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit und Anerkennung bestehen zu können. Was neulich Thema gewesen ist bei Sascha Lang und Jennifer Sonntag in ihrem Gesprächs-Podcast. Wer auf dem narzisstischen Markt der Eitelkeiten „Inklusion ganz einfach leben“ möchte, sollte eine betont narzisstische Performance an den Tag legen und nicht, wovon Inklusator Sascha Lang dringend abrät, um erlittene Verletzungen oder Kränkungen gar Aufhebens machen. Ein solcher Podcast verkaufe sich nicht, den wolle niemand hören.
Nun könnte man sagen, die Bearbeitung persönlicher Leiderfahrung gehört ohnehin in den geschützten Raum einer Psychotherapie und nicht an die Öffentlichkeit. Und trotzdem bleibt ein Dilemma, nämlich zwischen der überall in der Luft hängenden Aufforderung zur narzisstischen Selbstinszenierung einerseits und andererseits der Notwendigkeit einer gewissen Realitätsprüfung wie auch einer halbwegs authentischen Selbstwahrnehmung. Ohne die keine wirksame Interessenvertretung möglich ist und man Gefahr läuft, sich tatsächlich zum Narren zu machen. – Medial ergeht die narzisstische „Anrufung“ (so nennt es Isolde Charim) ganz besonders nachdrücklich. Die „High Performer“ erleben und deuten diesen enormen Druck als ihren ureigenen subjektiven Antrieb, das Müssen wird ihnen zum persönlichen Wollen, der Systemzwang zur freiwilligen Unterwerfung. Selbstzweifel und die Frage nach dem Sinn ihres Tuns lassen sich dennoch nicht völlig verdrängen, egal wie zahlreich die Followerschaft ist, ihre Anzahl wird nie groß genug sein.
Und so hört es sich an, wenn Promis unter sich über ihren täglichen Stress mit der an sie ergehenden narzisstischen Anrufung plaudern. „Mehr Reichweite, mehr Anfragen“, so Aljosha Muttardi, Aktivist für Veganismus und queere Aufklärung, dessen Anhängerschaft auf Social Media via Netflix unlängst „krass nach oben ging“. Beim Podcast-Plausch mit Raul Krauthausen kreist das Gespräch der beiden Prominenzgeplagten um das „nie genug“ und „nie zufrieden“, um „die Angst irrelevant zu werden“ und infolgedessen um das Nicht-Aufhören-Können. „Die Dinge, nach denen man strebt in dieser totalen Medienwelt, Social-Media-Welt, ist noch mehr Likes, noch mehr Reichweite“, bestätigt Raul Krauthausen. „Ich meine, wir alle haben einmal mit 5000 Followern angefangen“, was an sich schon ziemlich viel sei, „aber nach 20000 und dann nach 80000 ist es auch nicht genug …“
Ich frage mich, was ist ihre Botschaft an die Podcast-Konsumenten? An all die nicht prominenten Habenichtse an Likes und Reichweite. Offenbar dies, dass man so zwar „Bestätigung“ kriege und das „eigentlich immer ganz nett“ sei, draußen entdeckt werden, strahlend angesprochen, um ein Selfie und so fort – „super lieb und nett und süß“. Aber eben doch nicht das Wahre, weil es sich bloß um „leere Umarmungen“ handle, so Aljosha Muttardi. Und dabei gebe es, so Raul Krauthausen, „Dinge, von denen man genug haben kann, Freunde oder Zeit“ etwa. – Überzeugend? Abstrakt oder kopfmäßig vielleicht schon. Nur, so fürchte ich, ändert es nichts am Verhalten, weder der Social-Media-Promis, noch ihrer Follower, das narzisstische „im Hamsterrad gefangen“ (Krauthausens Formulierung) dreht sich unbeeindruckt weiter.
Die „Qualen des Narzissmus“ führen gesellschaftlich in die Sackgasse
Das narzisstische Rollenmodell des Social-Media-Stars zelebrieren, Klickzahlen generieren, bekennen, nicht mehr aufhören zu können, weil man bereits süchtig ist. Und dann den narzisstischen Jackpot-Gewinn relativieren, die Attraktivität dieses Rollenmodells herunterspielen, beteuern, das im Leben wirklich Befriedigende läge woanders, persönliche Freunde und Zeit für sich haben. Solch eine Relativierungsakrobatik geht nicht auf, bewirkt keinen Sinneswandel. Umso weniger, als gerade diskriminierte Minderheiten und marginalisierte Gruppen in ihrem Kampf um mehrheitsgesellschaftliche Anerkennung und Inklusion vom narzisstischen Aufmerksamkeits-generator „digitale Sichtbarkeit“ profitieren. Ohne das identitätspolitisch unverwechselbare Gesicht, ohne Netz-Ikone, läuft nichts, Greta Thunberg lässt grüßen. Wir Behinderten haben Raul Krauthausen und untereinander empowern wir uns narzisstisch durch „Body Positivity“ und durch „Disability Pride“.
„Narzissmus ist die Art, wie wir uns heute freiwillig unterwerfen“, schreibt Isolde Charim. Weder schnöder Egoismus, noch pathologische Eigenliebe ist mit Narzissmus gemeint, wenn er die Form der Vergesellschaftung bezeichnet. Vielmehr die unsere Eitelkeit triggernde Aufforderung bzw. Anrufung, jeder und jede möge ein unbedingt positives Selbstgefühl von sich entwickeln und außenwirksam darstellen. Nicht messbare Leistung ist gefragt, sondern die gute Performance, eine perfekte Show. Was man dafür an Bestätigung und Bewunderung seitens anderer einheimst, bestärkt und befestigt das imaginäre Selbstbild von der eigenen Großartigkeit (unbegrenztes Potential an Möglichkeiten, Aufstiegschancen aller Art). Es kommt nicht darauf an, wie man sich wirklich fühlt und was der reale Platz und Rang ist, den man gesellschaftlich einnimmt. – Die Einzelnen bei ihrer sozusagen gesunden Eigenliebe zu packen (dem schmeichelhaften Ideal-Ich, dem sich anzuverwandeln sie bestrebt sind), ist psychologisch so raffiniert wie gesellschaftlich effektiv. Ein besseres Schmiermittel reibungslosen gesellschaftlichen Funktionierens gibt es nicht. Wir tun gefühlt aus freien Stücken und mit Enthusiasmus, was der neoliberale Wachstumswahn und ein für wenige Hightech- und Plattformkapitalisten exorbitant profitabler Konsumismus von uns erwartet.
Also strampeln wir uns bis zur Erschöpfung ab wie die Hamster im Rad, einen Tracker am Fuß und die Smartwatch am Handgelenk. Arbeiten uns Schritt für Schritt voran in die Bestform unserer Einzigartigkeit. Dem Soziologen Andreas Reckwitz zufolge besteht unsere heutige Gesellschaft aus lauter „Singularitäten“, die als UnternehmerInnen ihrer selbst ihr Alleinstellungsmerkmal ausreizen, ihren „unique selling point“. Und das ist nicht nur ganz schön anstrengend, nein, es beschert uns Tag und Nacht Die Qualen des Narzissmus (so Charims Buchtitel). Qualen, die sogar noch die Erfolgreichen heimsuchen (siehe Muttardi und Krauthausen), die überdies den Absturz von einem Spitzenplatz in die Bedeutungslosigkeit fürchten müssen, falls ihnen die Fans ihre Gunst entziehen. – Passen überhaupt Starkult und Fangemeinden zur Behauptung der Einzigartigkeit eines jeden und einer jeden von uns? Ja, wir identifizieren uns mit den vor allem über ihren Netzauftritt groß gewordenen Stars nämlich lediglich modellhaft, sie sind uns Vorbild einer beispielhaften Performance. Wir müssen unsere Einzigartigkeit genauso geil performen, dann werden auch wir es schaffen. Und bis dahin versorgen wir uns mit einem Minimum an narzisstischer Bestätigung, indem wir uns wechselseitig in unserer Fangemeinde als die Supercoolen feiern.
Solange bis wir merken, in welcher Sackgasse wir stecken. Die Ranking-Spitzenplätze der Aufmerksamkeitsökonomie sind zu rar, als dass nicht die Masse der nach dem narzisstischen Aufstieg Strebenden schlussendlich am breiten Sockel der Pyramide herumdümpelt. Viele von ihnen ausgebrannt und in ihrem Selbstwertgefühl am Boden zerstört. Die aufmerksamkeits-ökonomische Prekarisierung gleicht einer an persönliche Vernichtung grenzenden Kränkung. Noch einmal Isolde Charim: „Das Damoklesschwert der narzisstischen Moral ist nicht Schuldbewusstsein, sondern die Scham, das Ideal nicht zu erfüllen. Dieses Schwert trifft uns als Ganzes, denn die Scham beschränkt sich nicht auf einzelne Taten, sie gilt der gesamten Person.“
Hey, fans and followers, leave your net kids alone …
Die Älteren unter uns erinnern sich gewiss an The Wall von Pink Floyd, das gigantomanische Rockspektakel aus der zweiten Hälfte der 1970-er Jahre. „Hey!Teacher! Leave them kids alone, all in all its just another brick in the wall.“ Rockmusikalischer Antitotalitarismus, wenigstens der Intention nach. Bräuchten wir so etwas nicht wieder, um uns aus der gesellschaftlichen Sackgasse des narzisstisch befeuerten Social-Media-Totalitarismus zu befreien? Indem die Follower ihre Net Kids, die Quoten-Kings und Ranking-Stars, die sie mit ihren Klicks und Likes groß gemacht haben, alleine lassen. Sie nicht länger liken und auch nicht disliken und ihnen einfach den süchtig machenden Saft abdrehen. Und statt dessen sozialmedial ihre Aufmerksamkeit und Anerkennung untereinander gerechter verteilen. Keine und keiner wird mehr mit narzisstischer Bestätigung überfüttert, aber es muss auch niemand verhungern. Und deswegen am Ende fürchterlich böse werden, auf Social-Media Gift und Galle versprühen.
Nicht nur materiell, d.h. ökonomisch und finanziell, hat sich die Schere zwischen Reichtum und Armut immer weiter geöffnet, auch anerkennungs- und aufmerksamkeitsökonomisch. Und gilt mit Blick auf die Aufmerksamkeitsökonomie und deren himmelschreiend ungerechte Verteilung von sozialer Anerkennung und narzisstischer Bestätigung nicht dasselbe, was die Millionenerbin Marlene Engelhorn von Tax me now über die materielle Vermögensungleichheit gesagt hat? Wer die Armut überwinden will, muss den Reichtum abschaffen!
Darum lasst uns zum Kolumnenabschluss nach der Melodie von The Wall gemeinsam die Hymne anstimmen: Hey, Fans and Followers, leave your Net-Kids alone, every feed is just another step in a dead end street… Influencer und Sinnfluencer, Böhmermänner und -frauen, Netz-Heroes und -Sheroes, die ihr durch uns reich geworden seid, wir fangen jetzt mit der Umverteilung an, entziehen euch die übertriebene Aufmerksamkeit und verteilen sie unter uns, den 99 Prozent, die bisher so gut wie leer ausgegangen sind.
P.S. Über diesem uns selbstermächtigenden Tamtam sind mir die Rammelschweine, mit denen ich die Kolumne begonnen habe, vollkommen aus dem Blick geraten. Was nicht schlimm ist, denn auch ihre Fans sollten sie nicht länger bejubeln und ihnen die Aufmerksamkeit entziehen. Und wer trotzdem noch näheres in Sachen Rammstein-Konzerte und Vergewaltigungsvorwürfe gegen Till Lindemann wissen will, findet eine ausführliche und scharfsinnige Kommentierung auf dem Blog des Marburger Ohrenfunkers Jens Bertrams. Überhaupt empfiehlt es sich, in das Ohrfunk-Programm reinzuhören! Um hier also gleich mal mit der Aufmerksamkeitsumverteilung zu beginnen.