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Zwischen den Stühlen oder irgendwo im Nirgendwo

sitzt auf einer Bank am Wald
Hans-Willi Weis
Foto: Hans-Willi Weis

Staufen (kobinet) Weite Landesteile der Ukraine sind vermint, ist aus den Nachrichten zu erfahren, auch nach dem Ende der Kampfhandlungen bzw. dem Rückzug der russischen Besatzer bleibt für Zivilpersonen, die das Gebiet wieder betreten, die Gefahr tödlicher Sprengfallen bestehen. Das eigene Land in Teilen ein vermintes Gelände. In einem übertragenen Sinne hat hierzulande der Ukraine-Krieg – wie zuvor bereits die Pandemie – die politisch-publizistische Landschaft in ein Minenfeld verwandelt, das tödliche Folgen haben könnte für eine freie und demokratische Öffentlichkeit. Dies betrifft auch marginalisierte Öffentlichkeiten wie die der Behinderten. Ich will einmal zusammentragen, was ich von hier aus, also vom Rand dieses publizistischen Geschehens aus, derzeit beobachte. Ein sporadisch „teilnehmender Beobachter“, wer weiß, für wie lange noch.

Wenn Mainstreammedien und Alternativmedien die Scheuklappen aufsetzen

Was geschieht dann? Wenn sowohl bei Mainstreammedien als auch bei alternativen Medien die Scheuklappen heruntergehen? Wenn Journalismus vor gewissen Informationen die Augen verschließt und Nachrichten unterbleiben und wenn Meinungsbeiträge nicht veröffentlicht werden, weil sie nicht auf Linie sind, weder bei den einen noch bei den anderen. Dann zeigt sich, hier wie dort gibt es selektive Wahrnehmung und einen Informationsfilter. Von einem „Meinungskorridor“ muss nicht nur bei den Leitmedien, sondern auch auf Seiten der Alternativmedien gesprochen werden.

Und folgerichtig mache ich selbst als randständiger Beobachter dann die entsprechende Erfahrung, sobald ich mit einem Meinungsbeitrag bei den professionellen Gatekeepern vorstellig werde, der in den ebenso engen wie starren Meinungskorridor nicht nicht passen will bzw. die erwartete Linientreue vermissen lässt. Zur Illustration zwei „Ablehnungsbescheide“, die mir symptomatisch erscheinen, zum einen für die hegemoniale Wächterattitude seitens des Leitmedienjournalismus, zum anderen für das publizistische alternative Gesinnungsmilieu, das sich auf seine Weise borniert und rigide einer Veröffentlichung dessen verschließt, was nicht ins Schema passt oder einen nochmals anderen, sozusagen anders alternativen Ansatz verfolgt.

Zunächst exemplarisch meine Begegnung mit dem Leitmedienbetrieb. Beispiel Deutschlandfunk. Dessen Sendereihe Aus Religion und Gesellschaft biete ich einen Gastbeitrag an, Kein Platz für die biblisch Sanftmütigen, Friedfertigen und Ihresgleichen, so der Titel, der im Zusammenhang des Ukraine-Kriegs die Haltung des Pazifismus thematisiert und zuletzt auch auf die Bergpredigt Bezug nimmt. Auf diesem Sendeplatz war schon einmal ein redaktionell als Standpunkt ausgewiesener Beitrag von mir gesendet worden, ein politischer Kommentar, der lediglich am Ende auf Religion Bezug nimmt mit einer Anspielung auf das biblische Motiv des blinden Tobias. Diesmal bleibt mein Angebot unbeantwortet, erst auf Nachfrage hin erhalte ich eine abschlägige Antwort. Begründung: Politischer Kommentar (um Religion ginge es nur kurz einmal am Schluss) und Kritik an Waffenlieferungen gebe es zur Genüge auf dem Sender. – Hätte mit „politischer Kommentar und zu wenig von Religion die Rede“ nicht auch mein früherer Beitrag über Behinderte abgelehnt werden müssen? Liegt es daran, dass das Behindertenthema politisch eh kaum ernst genommen wird, während der „russische Angriffskrieg“ den meinungspolitischen Ernstfall schlechthin darstellt, bei dem die innerhalb der Leitmedien praktizierte Einschränkung des Meinungsspektrums desto strenger einzuhalten ist? Sie tue „lediglich ihre redaktionelle Pflicht“, beschied mir die zuständige Journalistin. Was wohl heißen soll, sie muss es ablehnen auf ihrem Sender einem Meinungsbeitrag wie den meinen zu veröffentlichen, indem ich u.a. urteile, „in den Mainstreammedien sind derzeit die Friedfertigen und Sanftmütigen die Bestgehassten und meist Geschmähten unter der Sonne“.

Nun zu den publizistisch Alternativen, eine Reaktion aus dem anderen Lager. Es handelt sich um die Nachdenkseiten, eines der ältesten Alternativmedien im Netz. Es ist das erste Mal, dass ich dort einen Text anbiete. Er kreist u.a. um die Frage, ob die politische Einstellung zum Krieg in der Ukraine nicht auch generations- bzw. altersabhängig ist. In der Einleitung schreibe ich: Im Gegensatz etwa zu Antje Vollmer aus der Gründergeneration der Grünen und Mitunterzeichnerin des heftig diskutierten Manifest für Frieden führt die Außenministerin aus der jüngeren Generation der Grünen „Krieg against Russia“ und möchte „Russland ruinieren“. Ironisch füge ich dem noch hinzu, „statt diese Herkulesaufgabe Putin zu überlassen, der das besser kann“ (Russland ruinieren).
– Albrecht Müller von den Nachdenkseiten antwortet sogleich, gern würden sie Texte nehmen, doch was solle der Satz mit Putin, das sei „billige Polemik und sachlich falsch“. An dieser Stelle habe er aufgehört zu lesen, „schöne Grüße“.
„Sie haben recht, die Polemik muss nicht sein, lassen sie das einfach weg“, antworte ich Albrecht Müller. Mir ist das mit der Generationenfrage wichtig, darüber sollte nachgedacht werden. Doch mein freundliches Einlenken ist umsonst, keine Antwort mehr. Meine Putin-Polemik hat ihn offenbar so verärgert, dass er nicht mal den ersten Absatz zu Ende gelesen hat. Abbruch der Kommunikation. – Eine Reaktion, die bei mir den Eindruck verstärkt, auch in den Alternativmedien geht es vor allem darum, sich gegenseitig in der lange eingeübten Antihaltung und den festgeklopften Antimainstream-Positionen zu bestätigen und zu bestärken. Die Folge dieser Selbstverbarrikadierung bedeutet publizistisch eine inhaltlich überraschungsarme und stilistisch ironiefreie Zone.

Wie reagiert das Publikum auf die journalistische „Angebotsseite“?

Es fragt nichts anderes nach. Auch das Publikum – die lesende, zuhörende und zuschauende Öffentlichkeit – spaltet sich auf. Die einen folgen und vertrauen oder glauben allein dem Angebot der Mainstreammedien, die anderen ausschließlich dem der Alternativen. Was die feindliche Lagerbildung perfekt macht und auf Dauer stellt. Zum wechselseitigen Feindbild (Lügenpresse versus Verschwörungsmilieu) passt die Wahrnehmung der politischen und medialen Öffentlichkeit als einer Art Kriegsschauplatz (von wo in der Hauptsache kriegerische Berichterstattung erwartet und goutiert wird).

Die gesellschaftliche Voraussetzung fürs Gelingen oder auch nur den holprigen Normalbetrieb der deliberativen, also auf Aushandlungsprozesse angewiesenen Demokratie, nämlich der öffentliche Diskurs zur politischen Meinungsbildung, ist längst zu einer einzigen Kampfzone mutiert, zum Schlachtfeld geworden. Moralische Vernichtung des Gegners scheint durchgängig das Ziel der auf Krawall gebürsteten Debattenformate. Vom Publikum fiebernd erwartet und von der maschinellen Aufmerksamkeitsregistratur (dem Algorithmus) belohnt, wird einzig das Aufeinenderlosgehen der gegnerischen Lager. Nicht „hart aber fair“ geht es in der Regel zu, vielmehr beinhart und unfair, zwischen den verfeindeten Lagern und nicht minder innerhalb derselben.

In dieser für eine gedeihliche „demokratische Grundordnung“ desaströsen Konstellation wäre für einen reflektierten Journalismus ein antizyklisches Verhalten im politischen Meinungsbildungsprozess angezeigt. Kluge Köpfe, sollte man meinen, müssten sich den Impuls zum Zurückschlagen verkneifen. Und versuchen, Schritte zu unternehmen, die ein an sachlichem Meinungsstreit und Dialog interessiertes aufeinander Zugehen ermöglichen. Von den Reflektierteren wenigstens sollte man dies erwarten können. Der traurige Befund jedoch ist, soweit ich es vom Rand her beobachten kann, dass gerade dies nicht geschieht. – Und in mir einsamer Nebelexistenz ruft dieser Befund ein Gefühl der Ohnmacht hervor, zu wissen, wo es eigentlich langgehen müsste und keinen interessiert es. Trostlos, oder? Anscheinend die mir vom Schicksal zugedachte Form des unglücklichen Bewusstseins.

Wenn die Moralkeule der „wehrhaften Demokratie“ nicht nur auf Aluhüte niedersaust

Der Deutschlandfunk hat per Hörervotum das Thema „wehrhafte Demokratie“ für 2023 zum thematischen Schwerpunkt küren lassen. Das Ergebnis sind spannende Debattenbeiträge, Gespräche, Features etc. Leider jedoch auch ein politisch inquisitorisches Moralisieren, das einschüchtert und als Reaktion geradezu die Tabuverletzung provoziert. Was fällt diesen selbsternannten politischen Sittenwächtern ein, dem Volk, dem Souverän, uns vorzuschreiben, was und wie etwas gesagt werden darf?

Ich schalte das Radio ein, gerade läuft Medias Res, das tägliche Medienmagazin beim Deutschlandfunk. Ein Journalist der Süddeutschen Zeitung war zu Gast, Nils Minkmar, ich höre ihn noch sagen, das politische Meinungsspektrum müsse in der ganzen Breite vertreten sein, was nicht heiße, „Hetzer und Leugner“ zu Wort kommen zu lassen. – Ich frage mich, ob der nachgeschobene Halbsatz von den Hetzern und Leugnern für „wehrhafte Demokraten“ inzwischen eine rhetorische Pflichtübung ist. Eine Einschüchterung oder gar Drohung an die Adresse der Zuhörer. Was immer, es bleibt nicht ohne Wirkung. Sogar in mir registriere ich eine subtile Hab-acht-Reaktion, etwas wie eine unwillkürliche Gewissensprüfung. Ist das nicht verrückt, ich fasse mir an den Kopf, da sitzt kein Aluhut, nur meine altersgraue Baskenmütze.

Dabei habe ich mich tatsächlich schon einmal verdächtig gemacht. Bevor mein oben erwähnter Meinungsbeitrag über die Behinderten vom Deutschlandfunk gesendet wurde, erhielt ich einen Anruf von der redaktionell Verantwortlichen. Sie habe da gesehen, dass ich auch einmal bei Rubikon veröffentlicht habe. Ja, sagte ich, ein Artikel, in dem ich die These von der „illiberalen Corona-Demokratie„ hier bei uns im Unterschied zu einer „Corona-Diktatur“ bei den Chinesen vertrat und damit einer von sogenannten Querdenkern vertretenen Position widersprochen habe. Sie mache mich bloß darauf aufmerksam, bei Rubikon tummelten sich „die ganzen Corona-Leugner“ und dort publizieren sei „an sich ein No Go“. – Miserabel habe ich mich gefühlt nach dem Telefonat, mich ihr gegenüber gerechtfertigt zu haben. Mitzuspielen in dem Spiel, das einem suggeriert, unsere Qualitätspresse ist selbst was freie Mitarbeit oder Gastautorenschaft anlangt ein freundlicher und umsichtiger Hegemon. Der dir, auf dass du nicht versehentlich abirrst, gelegentlich auch eine vertrauliche Mahnung zukommen lässt. Wer sich anpasst ans meinungspolitisch-hegemoniale Rudel, darf schließlich auch mitmachen, mitheulen mit den Leitmedienwölfen. „Selbstangleichung“ nennen dies Precht und Welzer in ihrem medienkritischen Bestseller Die Vierte Gewalt – Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist.

Irgendwo im Nirgendwo im Nebel tappen

Rubikon zählt zu den Alternativmedien, ein Online-Magazin plus Verlag (in welchem u.a. das coronamaßnahmenkritische Buch Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen erschienen ist). Meinen Text zur „illiberalen Corona-Demokratie“ dort anzubieten, entschloss ich mich, als ich den Namen Walter van Rossum entdeckte. Ein exzellenter Journalist, jahrzehntelang Autor bei WDR und Deutschlandfunk, politische Recherche, Feature, Buchrezensionen. Plötzlich war er im Radio nicht mehr zuhören, bis ich ihn hier bei den Alternativen wieder gefunden habe. Die Hintergründe für seinen medialen Ortswechsel bleiben einem außenstehenden Beobachter. wie mir nebulös, nur eines weiß ich, um ein Qualitätssiegel für die Qualitätspresse handelt es sich dabei sicher nicht.

Die Rubikon-Episode ist für mich erledigt, allenfalls bei die Abfrage durch den Gesinnungs-TÜV bei einem Leitmedium noch von Interesse. Wie mir die Abfuhr bei den Nachdenkseiten bestätigt, sind die Alternativmedien für mich kein publizistischer Heimathafen. Allein meine Art und Weise des Schreibens, die dem subjektiven Eindruck und dem individuellen Blickwinkel des Beobachtermilieus Raum gibt, ist dort nicht gefragt, gewünscht ist ein für meinen Geschmack tröger Einheitsjargon, der ohne Umschweif zum Punkt kommt. Infolgedessen lande ich mit meinen Texten und meinen Ansichten in der Regel zwischen den Stühlen. Irgendwo im Nirgendwo, wo von Sitzen, gar einem bequemen Sitzen, nicht die Rede sein kann. Eher von einem Umhertappen im Nebel. Was mir im unmetaphorischen Sinne als Erblindetem bereits vertraut ist, es darum aber nicht besser macht. – Der metaphorische Nebel, indem ich mich umhertappen fühle, hat mit dem derzeitigen Aggregatzustand der Öffentlichkeit zu tun, etwas permanent Bedrohlichem, das in der Luft liegt. Eine Atmosphäre der ständigen Befürchtung, der Angst und der versteckten Aggression. Ein Klima des latenten Misstrauens und der Verdächtigung. Bei denen, die in dieser Gesellschaft wenig zu sagen haben und medial mit eigener Stimme nicht vorkommen, den Schwachen und Vulnerablen, hat es Einschüchterung zur Folge.

Von Clausewitz, dem preußischen Militär- und Kriegstheoretiker stammt das Wort vom „Nebel des Kriegs“, das seit Beginn des Ukraine-Kriegs und mit Blick auf dessen ungewissen Fortgang publizistisch gern bemüht wird. Mir scheint, der Nebel des Kriegs in der Ukraine hat hier bei uns zu einem kommunikativen Nebel geführt, in dessen trüber Suppe man weniger als je zuvor weiß, wo man mit seinen Mitmenschen „dran ist“. Was sie denken, was in ihnen vorgeht, weshalb man vorsichtig sein muss, worüber man sich auslässt. An möglicherweise heikler Stelle möglichst schweigen, so wie diesbezüglich um einen her geschwiegen wird. Fettnäpfchen vermeiden. Nicht auf eine Mine treten, meinungspolitisch oder durch falschen Zungenschlag.

Zuletzt noch etwas, das ich von meiner Warte aus schlecht beobachten kann

Weil ich hier erst recht teilnehmender Beobachter sein müsste, was ich aber nicht bin, als jemand, der auf Social Media und den einschlägigen Kanälen nicht unterwegs ist. Von dem, was dort los ist, erfahre ich nur aus zweiter Hand, vermittelt über die Nachrichten aus jenen Mainstreammedien und Alternativmedien, von denen ich zuvor die ganze Zeit über gesprochen habe. Hate Speech, Shit Storm, digitaler Pranger – virtuelle Schauplätze, an denen der performative oder sprachliche Zivilisationsbruch geprobt wird. Massenhaft und am heftigsten und schamlosesten sich heutzutage jener „ewige Faschismus“ austobt, wie Umberto Eco die Form von Niedertracht und Menschenverachtung genannt hat, die sich zunächst hauptsächlich auf der Ebene des Verbalen und Symbolischen abspielt. – Ich vermute, die Ängstlichen oder Verängstigten im kommunikativen Nebel, die lieber schweigen, wenn man sie anspricht, fühlen sich doppelt bedrängt, bedroht und eingeschüchtert. Gewissermaßen in eine Zangenbewegung genommen: Einerseits durch den Gesinnungs-TÜV der meinungspolitischen Eliten, durch dessen moralisierenden, sprachpolizeilich erhobenen Zeigefinger. Andererseits von der Flanke der digitalen Plattformen und Messenger-Dienste her, von wo der bedrohliche Lärm der offen Aggressiven und Hasserfüllten durch den Nebel dringt. (Mit dem Etikett „Die große Gereiztheit“, wie ein Buchtitel des Medien- und Kommunikationswissenschaftlers Bernhard Pörksen lautet, würde man dafür übrigens eine verkehrte, weil in der Hauptsache psychologische Erklärungsrichtung einschlagen.)

Die Ausdruck „die schweigende Mehrheit“ und seine Bedeutung wird den meisten bekannt sein. Ich denke, wir sollten uns das alles andere als demokratieförderliche Phänomen der passiv und stumm Angepassten unter den gegenwärtigen Bedingungen der politischen und medialen Öffentlichkeit erneut vergegenwärtigen. Ich mag mich nicht mit einer Sprachlosigkeit als Reaktion auf sich ausbreitende kommunikative Gefahrenzonen abfinden, indem ich mir sage, es gibt doch genug worüber wir uns frei und ungehindert austauschen können, über das man öffentlich reden kann und reden darf. Darunter keineswegs nur Alltäglichkeiten, Banalitäten, nein, auch Dinge von Bedeutung. Wie die Belange der Behinderten und ob ihnen die Behindertenpolitik gerecht wird.

Vor kurzem las ich an dieser Stelle die traurige Nachricht vom Tod des Aktivisten Harald Reutershahn, einem behindertenpolitischen Urgestein. Noch im August 2022, so ist dem Nachruf zu entnehmen, gab Harald Reutershahn den Kobinet-Nachrichten, deren Mitinitiator er gewesen ist, die Mahnung mit auf den Weg, „sich vom System nicht einwickeln zu lassen“. – Könnte man, was ich voranstehend geschrieben habe, demnach nicht auch so formulieren: Dass sich da gerade welche „einwickeln lassen“, wenn sie wieder einmal vorsichtshalber lieber schweigen oder stumm bleiben? Und dies sich selber und anderen gegenüber auch damit rechtfertigen, sich so einmal mehr den behindertenspezifischen Themen mit ganzer Aufmerksamkeit und Energie widmen zu können.

Begriffserklärender und sacherläuternder Anhang

Mit den Begriffen Hegemon und hegemonial wird eine Vorherrschaft im Geistigen oder Mentalen bezeichnet. Welches Verständnis von Gesellschaft und Politik, Kultur und Moral in der Gesellschaft vorherrschend ist, die ideologische Dominanz übernommen hat. In diesem Sinne durchgesetzt hat sich in den zurückliegenden Jahrzehnten in der Bundesrepublik ein linksliberaler Geist, eine rot-grüne Mentalität. Deren Auffassung von freiheitlich-demokratischer und sozialökologischer Politik, Wirtschaft und Kultur wird von einer intellektuellen und medialen Elite formuliert, die dabei beansprucht, für alle zu sprechen, für das gesellschaftliche „Wir“. Darin liegt jedoch ein Problem:

In die Formulierung, die Auslegung und Deutung dieses Wir fließen Interessen und Erfahrungen dieser Elite ein, die nicht unbedingt die Interessen und Erfahrungen anderer Teile der Gesellschaft sind, insbesondere nicht deckungsgleich mit der Lebenswirklichkeit und den Bedürfnissen Benachteiligter oder unterprivilegierter Gruppen. Das Problem verschärft sich noch einmal, sobald die hegemoniale Elite in den Medien die öffentlich politische Debatte und den Meinungsstreit kontrolliert und in bestimmte Bahnen lenkt, so dass es zuletzt nurmehr einen engen medialen „Meinungskorridor“ gibt. – Die hegemoniale Medienelite aus Hauptstadtjournalismus, Kulturpublizistik und Thinktank-Wissenschaft ist aufs engste verbandelt mit der herrschenden politischen Elite aus Amts- und MandatsträgerInnen in Regierung, Parlament und Parteien. Und beide zusammen betreiben mit der Arroganz der Wissenden, der Maßgeblichen und Mächtigen eine Politik von oben. „Da wird schon eine in kurzer Zeit deutliche Entfernung zur Gesellschaft sichtbar“, so der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel, „sie machen die Politik von oben und besetzen dann auch halböffentliche, sozusagen parastaatliche Institutionen mit ihren Leuten und das ist eine Politik, die möglicherweise für die Demokratie noch schädlicher ist als persönliche Bereicherung“ ( aus einer SWR2-Forumsdiskussion über „Grünen Filz“, Mai 2023).

Inquisitorische Fragen (d.h. Fragen, die jemandes Denken, Meinen und Sprechen auf dessen moralische oder rechtliche Zulässigkeit prüfen und im Fall des Verstoßes mit Ahndung drohen) die von Seiten der Leit- oder Mainstreammedien immer nur an bestimmte TeilnehmerInnen am politischen Diskurs oder öffentlichen Meinungsstreit adressiert werden, wirken ähnlich toxisch auf das Klima von Auseinandersetzungen wie die Hassrede in den Sozialen Medien. Wenn bei heiklen Themen (Corona, Ukraine-Krieg, Meinungsspektrum der Medien) vom Mainstream oder der Mehrheitsmeinung abweichende Äußerungen immer öfter seitens eines medial tonangebenden Journalismus (z. B. Spiegel) sich mit der inquisitorischen Frage konfrontiert sehen, ob diese oder jene Äußerung „noch von der Freiheit der Meinung oder der Wissenschaft gedeckt ist“ oder nicht vielmehr „ein mögliches Durchgreifen am Platz wäre“ bzw. kürzer gefragt „Aushalten oder Einschreiten?“ – Wenn dieser Fragestil praktiziert wird, trägt dies zur Vergiftung der politischen Debatte bei. Verdächtigungen und Drohgebärden sind einer freiheitlichen und demokratischen Debattenkultur und einer uneingeschüchterten Öffentlichkeit nicht zuträglich, auch dann nicht, wenn diese Art der Gewissensprüfung deren Verteidigung dienen soll. (Das wörtlich Zitierte ist einem Spiegel-Online-Artikel entnommen, der sich auf denunziatorische Art mit drei Hochschullehrern beschäftigt, gegen die wegen querdenkerischem „Kokolores“ bereits juristische, diszplinarrechtliche u.a. Schritte in die Wege geleitet seien. Es handelt sich um den Medienwissenschaftler Michael Meyen von der Uni München, um Ulrike Guerot von der Uni Bonn sowie um den emeritierten Mediziner Prof. Bhakdi von der Uni. Mainz).

Die auf eine Kapitelüberschrift in Thomas Manns Roman Der Zauberberg zurückgehende Rede von der „großen Gereiztheit“, die der Tübinger Medien-und Kommunikationswissenschaftler Bernhard Pörksen mit Blick auf auf die aggressive Emotionalisierung der Medienöffentlichkeit bemüht, bedeutet hinsichtlich einer Erklärung des Phänomens meines Erachtens eine fragwürdige Psychologisierung. Was sich medial Luft macht – Wut, Hass, Aggression, Frust und Unmut – wird nicht im Zusammenhang der materiellen Ursachen, nämlich ökonomische und soziale Ungleichheit gesehen. Dementsprechend zweifelhaft die Therapievorschläge: Statt energische Schritte in Richtung wirtschaftlicher und sozialer Gerechtigkeit einzuleiten, materielle Benachteiligungen und faktische Diskriminierung konsequent abzubauen, soll Moralisierung es richten, die Durchsetzung eines Verhaltenskodexes (Netiquette) das öffentliche und mediale Klima retten. Den Vertretern der Medienelite, denen in ihrer gesellschaftlich privilegierten Milieublase und er milieubedingten Blickverengung fällt nichts Besseres ein als der moralische Zeigefinger, eine medienrhetorische Volkserziehung und paternalistische Bevormundung bezüglich Fake- und Faktencheck.