
Foto: Franz Sales Haus
Essen (kobinet) Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung Jürgen Dusel nimmt die Kritik behinderter Menschen ernst, die nicht mehr als „geistig behindert“ bezeichnet werden wollen. Seit einem Workshop mit Betroffenen, zu dem er eingeladen hatte, spricht er von "Menschen mit Lernbeeinträchtigung“. Gerade im Lichte der ab Mitte Juni anstehenden Special Olympics World Games in Berlin mit einer enormen öffentlichen Ausstrahlung tut eine breite Diskussion über den Begriff Not, weil die Veranstalter immer noch selbstverständlich von "Menschen mit geistiger Behinderung“ sprechen. Dr. med. Maria del Pilar Andrino hat sich daher einige Gedanken zur Verwendung und Einordnung des Begriffes gemacht. Die kobinet-nachrichten veröffentlichen diese im Folgenden:
Beitrag von Dr. med. Maria del Pilar Andrino
Intelligenz – Inklusiv
Das Grundproblem der Medizinwelt ist, dass von der „durchschnittlichen Gesellschaftsnorm“ abweichende Feststellungen als pathologisch / krankhaft betitelt werden. Von der Körpergröße (Klein- und Hochwuchs) bis hin zur Intelligenz (Minder- und Hochbegabung) werden Beobachtungen beschrieben, identifiziert und einer Diagnose (Pathologie) zugeordnet. In der Konsequenz wurde in der Medizingeschichte besonders diskriminierend von „Idiotie“ oder „schwerem Schwachsinn“ und dann ab den 60er Jahren der Begriff der „Geistigen Behinderung“ (synonym, aber seltener benutzt kognitive Behinderung, mentale / intellektuelle Retardierung) genutzt.
Die aktuell noch genutzte ICD-10-GM Version 2021 führt genauso diskriminierend im Kapitel V Psychische und Verhaltensstörungen (F00-F99) die Intelligenzstörung (F70-F79) als Zustand von verzögerter oder unvollständiger Entwicklung der geistigen Fähigkeiten auf.
Zwecks weitergehender Einordung wird der „Schweregrad einer Intelligenzstörung“ seitens standardisierter Intelligenztests (verschiedene Testverfahren, verbal und nonverbal für Kinder und für Erwachsene differenziert) ermittelt. Eine Abweichung von der Norm bedeutet hierbei, dass es im Altersvergleich einen signifikanten Unterschied gibt.
Konkret ist festzuhalten, dass „die Entwicklung im Sinne individueller Lernprozesse in eigenen Lebenszeitfenstern“ keine Erkrankung / Pathologie darstellt. Es braucht vielmehr ein inklusives Bildungssystem, welches in der Lage ist diese Lernprozesse zu unterstützen. Hinzu kommt mit dem Fortschreiten von Lebensjahren, dass bei jedem Menschen – unabhängig einer Lernbeeinträchtigung – ein Zugewinn an Erfahrung und Wissen seitens der eigens durchlebten Biographie festzuhalten ist. Folglich braucht es neben dem Bildungssystem eine barrierefreie Gesellschaft, in der Menschen unabhängig ihrer individuellen Lernmomente ihr Teilhaberecht in jeglicher Lebensrealität in Anspruch nehmen können.
Insofern ist es keine Pathologie, sondern eine andere Art der Wahrnehmung, Sicht, Auffassung etc. Es sind gerade Menschen mit Lernbeeinträchtigung / Intellektuelle Beeinträchtigung, die den „Normintelligenten“ in der emotionalen Intelligenz voraus sind, indem sie viel früher emotionale „Unstimmigkeiten“ bei anderen Menschen und Bedürfnisse erfassen.
Zur ICD-10 GM kurz im Überblick
1. Intelligenzminderung:
F70.- Leichte Intelligenzminderung
Gesamt IQ von 50-69 (bei Erwachsenen Intelligenzalter von 9 bis unter 12 Jahren)
F71.- Mittelgradige Intelligenzminderung
Gesamt IQ von 5-49 (bei Erwachsenen Intelligenzalter von 6 bis unter 9 Jahren)
F72.- Schwere Intelligenzminderung
Gesamt IQ von 20-34 (bei Erwachsenen Intelligenzalter von 3 bis unter 6 Jahren)
F73.- Schwerste Intelligenzminderung
Gesamt IQ < 20 (bei Erwachsenen Intelligenzalter unter 3 Jahren)
F74.- Dissoziierte Intelligenz
Signifikante Testdiskrepanz (mind. 15 IQ-Punkte) zwischen Intelligenzbereichen (Sprach-IQ, Handlungs-IQ etc.)
F78.- Andere Intelligenzminderung
Kein Test und keine Einschätzung möglich
F79.- Nicht näher bezeichnete Intelligenzminderung
Keine Zuordnung möglich
Besonders diskriminierend ist der Zusatz „.1“ wie zum Beispiel
F70.1 Leichte Intelligenzminderung mit deutlicher Verhaltensstörung, die Beobachtung oder Behandlung erfordert
In einer Gesellschaft voller Barrieren ist es fast unausweichlich, sich in seinem Verhalten „störend zu verhalten“, wenn ein Mensch mit dieser „Diagnose“ sein Teilhaberecht erhalten möchte.
In der aktuell nutzbaren, aber langläufig noch nicht genutzten ICD-11 Klassifikation wird der Begriff Intellektuelle Entwicklungsstörung genutzt, als ein „stabiles Merkmal, das zu einer Funktionsbeeinträchtigung führt“. Demnach liegen im Altersvergleich Entwicklungsstufen noch nicht vor, was am ehesten dem Gedanken der Lernentwicklungsverzögerung nahekommt, aber sich im Wording der „Intellektuellen Entwicklungsstörung“ nicht wiederfindet.
2. Lernbehinderung:
F81.-Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten
F81.0 Lese- und Rechtschreibstörung
Entwicklungsdyslexie, Umschriebene Lesestörung, „Leserückstand“
F81.1 Isolierte Rechtschreibstörung
Umschriebene Verzögerung der Rechtschreibfähigkeit (ohne Lesestörung)
F81.2 Rechenstörung
Entwicklungsstörung des Rechnens, Entwicklungs-Akalkulie
F81.3 Kombinierte Störungen schulischer Fertigkeiten
Kombination aus F81.2, F81.0 und/oder F81.1
F81.9 Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten, nicht näher bezeichnet
Lernbehinderung o.n.A. – Gesamt-IQ IQ 70–84, Lernstörung o.n.A., Störung des Wissenserwerbs o.n.A.
Fazit:
Auf Basis der UN-Behindertenrechtskonvention und damit dem menschenrechtlichen Sinne darf sich ein partizipativ entwickelndes Wording wie zum Beispiel „Lernbeeinträchtigung“ nicht an pathologisierende medizinische altherkommende Gedankenweisen orientieren.
Es darf aber nicht beim Wording bleiben. Eine Gesellschaft braucht unabdingbar den Lerneffekt seitens einer partizipativen Unterstützung, um einen realen Perspektivwechsel angehen zu können. Es sind nicht selten die Dokumente in Leichter Sprache und Kommunikation in Leichter Sprache, die allen Menschen einer Gesellschaft dienlich sind, um manche bürokratischen Hürden zu überwinden. Ein Schritt von vielen zum barrierefreien Alltag …