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Bilanz und Ausblick zur Unterstützung behinderter Geflüchteter

Emine Kalali
Emine Kalali
Foto: privat

Berlin (kobinet) Mit dem Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine am 24. Februar 2022 waren auch eine Reihe von Behindertenorganisationen gefordert, die Ankunft und Unterstützung behinderter Geflüchteter zu unterstützen. Gemeinsam mit einigen Partnern und mit einer Förderung durch die Aktion Mensch hat die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) eine Reihe von Initiaitven in diesem Bereich ergriffen. Gut ein Jahr nach dem Start eines Projektes der ISL für geflüchtete Menschen sprach kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul mit der Projektkoordinatorin Emine Kalali über ihre Erfahrungen und wie es weitergeht.

kobinet-nachrichten: Im April 2022 hat die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) dank der Unterstützung der Aktion Mensch ein Projekt zur Unterstützung von geflüchteten Menschen aus der Ukraine gestartet. Worum geht es dabei?

Emine Kalali: Die Situation zu Kriegsbeginn war sehr unklar und es war nicht abzusehen, wie sich alles entwickelt. Dementsprechend haben wir das Projekt sehr flexibel gehalten und von mehreren Seiten gestaltet. Zunächst war das wichtigste die sichere Ankunft in Deutschland und Unterkunft. Dank der schnellen Reaktion des Büros des Landesbehindertenbeauftragten in Bremen konnten wir hier direkt mit dem Portal Hilfsabfrage.de gemeinsam mit Handicap International Hilfe schaffen. Rund 100 Personen konnten wir über das Portal so eine erste Unterkunft in Deutschland vermitteln.

Anschließend war es aber wichtig weiterzumachen. Menschen, die hier ankommen, wissen nichts über ihre Rechte, das deutsche Gesundheits-, Sozial- und Hilfssystem und werden wild in ganz Deutschland verteilt. Wir haben eine neue Internetseite: www.behinderung-und-flucht.isl-ev.de gegründet, die geflüchtete Menschen mit Behinderungen in Deutschland alle Informationen liefern soll, die sie bei Ankunft benötigen und zu Beratungsstellen vor Ort zu vermitteln. Auch gibt es über die Seite unter dem Menüpunkt „Kontakt“ die Möglichkeit uns Hilfsanfragenformulare zu senden und uns über das Kontaktformular zu kontaktieren. Die Seite soll nicht nur Betroffenen, sondern auch Berater*innen die Möglichkeit geben, eine gute Übersicht über alle relevanten Informationen zu bekommen und uns zu ergänzenden Informationen ebenso zu kontaktieren, damit wir diese hinzufügen können.

kobinet-nachrichten: Die Datenbank zur Vermittlung von Unterkünften und Fahrmöglichkeiten war anfangs ja sehr wichtig. Wie hat sich dieses entwickelt?

Emine Kalali: Rund 100 Menschen konnten wir über diese Plattform die Ankunft und Unterkunft in Deutschland gewährleisten. Leider wurde die anfangs unkompliziertere Vermittlung mit der Zeit von der Bürokratie eingeholt und wir konnten nicht mehr unkompliziert in ganz Deutschland vermitteln. Inzwischen haben Hilfesuchende noch die Möglichkeit uns über unsere Infoseite zu kontaktieren und direkt um individuelle Hilfe zu bitten, die wir selbst versuchen zu geben, oder an Stellen vor Ort zu vermitteln.

kobinet-nachrichten: Im weiteren Verlauf des Projektes haben Sie viel Energie für den Austausch mit geflüchteten behinderten Menschen und auf das Empowerment der Betroffenen selbst gerichtet. Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?

Emine Kalali: Zusätzlich zum Aktion Mensch Projekt haben wir von September bis Dezember 2022 zur Gründung einer Selbstvertretung ein Projekt von der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt finanziert bekommen. Aus diesem Projekt ist das „Netzwerk ukrainischer Menschen mit Behinderungen in Deutschland“ entstanden. Die Gruppe trifft sich jeden Mittwoch online, plant sich selbst nötige Beratungsveranstaltungen und berät Neuankömmlinge der Gruppe mit bereits bekannten Themen. Aktuell arbeiten wir an einer Vereinsgründung.

kobinet-nachrichten: Wie gestaltet sich die Situation für die aus der Ukraine geflüchteten Menschen heute?

Emine Kalali: Leider sind noch viele Aspekte unklar und ungeregelt. Gerade bei Menschen mit Behinderungen ist es oft immer noch nach Monaten des Aufenthaltes in Deutschland Thema eine Barrierefreie Unterkunft, nötige Hilfsmittel oder einen für sie möglichen Sprachkurs zu finden. Hilfs- und Beratungsstellen sind oft überlastet und es gibt nicht genügend Dolmetscher*innen. Das deutsche Hilfssystem ist sehr kompliziert, auch für hier aufgewachsene Menschen. Ich bin begeistert, wie schnell die Menschen dieses verstehen und sich für sich und einander engagieren, trotzdem würde ich mir mehr staatliche Hilfen und barrierefreie, niedrigschwellige Zugänge zu den nötigen Leistungen wünschen.

kobinet-nachrichten: Die Förderung von der Aktion Mensch war auf ein Jahr angelegt. Wie geht es jetzt weiter und wo sehen Sie noch Handlungsbedarf?

Emine Kalali: Zunächst konnten wir eine kostenneutrale Verlängerung des Projektes bis Ende des Sommers erwirken. In diesem Jahr ist viel passiert und hat uns Türen geöffnet, wie wir weiter machen und helfen können. Sehr deutlich ist für uns geworden, dass es auch bei geflüchteten Menschen mit Behinderungen unbedingt eine Selbstvertretungsperspektive, weg vom Fürsorgegedanken, bedarf und genau an dieser möchten wir nun arbeiten und weitermachen. Unter dem Menüpunkt „Selbstvertretung“ findet sich der Zugang zum „Netzwerk ukrainischer Menschen mit Behinderungen in Deutschland“, die sich jeden Mittwoch über Zoom treffen. Einerseits werden wir diese Gruppe weiter unterstützen und andererseits die Infoseite weiterführen und -entwickeln. Für mich ganz persönlich steht an, die Infoseite und Vernetzungstreffen schnellstmöglich auf weitere Sprachen und Herkunftsländer zu erweitern.

kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.