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Gestern Abend war noch Walpurgisnacht

Hans-Willi Weis im Biergarten Bier trinkend
Hans-Willi Weis
Foto: Hans-Willi Weis

Staufen (kobinet) Vor Mitternacht zogen in Freiburg kleine Trupps als Hexen verkleideter Frauen über die Kaiser-Joseph-Straße, wo sonst zu vorgerückter Stunde der alkoholisierte männliche Bär los ist. Das war gestern Abend. Und vorvorgestern, geschichtlich grob zurück gerechnet, wurden noch Hexen verbrannt, Königsmörder auf öffentlichen Plätzen gevierteilt, verkrüppelte Kindlein, schiefgewachsene oder solche mit Wasserkopf, wenn nicht nach der Geburt erdrosselt, in einer häuslichen Kammer vor den Augen der Welt weggesperrt. Und daher muss am heutigen Maitag, passend zum Wonnemonat endlich mal ausgesprochen werden: Es hat sich zugunsten von uns Behinderten ja doch auch einiges getan seit den Tagen öffentlicher Hexenverbrennungen und heimlicher Kindsmorde. Und die UN-Behindertenrechtskonvention hat noch den geringsten Anteil daran. Das wieder einmal in Erinnerung zu rufen die Maikolumne eine schöne Gelegenheit bietet. Wer sich überzeugen möchte, lese sie gleich anschließend in einem Zug.

Erwachen am ersten Maimorgen

Am Vorabend war noch Walpurgisnacht und anderntags erwacht man im wunderschönen Monat Mai. Wenn alle Knospen springen, draußen die Vöglein singen und die Sonne scheint. Das weckt Erinnerungen an ferne Kindheitstage, Frühlingsbilder treten vor das innere Auge und lange vergessene Melodien wehen ans schlaftrunkene Ohr. Hat so nicht einmal das Glück ausgesehen? Vielleicht sollte ich noch vor dem Frühstück eine Platte von Gustav Mahler auflegen. Seine Musik, so ist beim Philosophen Adorno zu lesen, enthält „Erinnerungsspuren der Kindheit, die scheinen, als ob allein um ihretwillen zu leben sich lohnte“. Wenngleich damit das Bewusstsein einhergehe, „dass dies Glück verloren ist und erst als verlorenes zum Glück wird, das es so nie war“.

Worte, die ich so wehmütig schön finde und vor allem so wahr, dass ich sie schon nach dem ersten Lesen auswendig gelernt habe. Ein weiterer Satz aus Adornos Mahler Monographie bekräftigt den Gedanken, weshalb ich auch das noch zitiere. Es handelt von der Erfahrung, „dass in der Jugend unendlich viel als Versprechen des Lebens, als antizipiertes Glück, wahrgenommen wird, wovon dann der Alternde durch die Erinnerung hindurch erkennt, dass in Wahrheit die Augenblicke solchen Versprechens das Leben selber gewesen sind“. – Auf Anhieb verstanden? Falls nicht, ein zweites Mal lesen, langsam und konzentriert. Vielleicht geht es auch anderen wie mir, Sätze wie diese möchte ich gerne verschenken, nicht nur zu Geburtstagen, jederzeit auch an LeserInnen von Kolumnen.

So schaue ich denn – nicht nur, wie es bei Adorno heißt, als „Alternder“, vielmehr als ein bereits kräftig Gealterter und mit erblindeten Augen – als erstes an diesem Maimorgen für einige Augenblicke zurück auf ein gewesenes Leben, einen Moment lang beglückt durch die Erinnerung an weit zurückliegende Frühlingsmorgen. Bis ich mir wieder der Jetztzeit bewusst werde. Wenn ich mich nicht täusche, zwitschern die Vögel wie eh und je zu dieser Jahreszeit. Doch ist der Gedanke so abwegig, sie könnten demnächst vom Himmel fallen? Und vor unseren Füßen tot auf der Erde liegen. Wie vergangenes Jahr die Fische bäuchlings nach oben gekehrt in der Oder trieben und sich an den Ufern Berge von Fischkadavern türmten. – Nachmittags auf dem Weg am Waldrand nur ein oder zwei Mal ein Summen dicht am Ohr, ein schwerfälliger Brummer hat sich noch einmal aufgerafft, ein Geräusch, das sich sogleich verliert in einem seit dem Insektensterben stumm gewordenen Raum. Insektengesumme gehört der Vergangenheit an, silent spring (stummer Frühling siehe Quellenangabe am Schluss) ist kein zukünftig Drohendes, sondern Gegenwart.

Kein Wunder, dass wir Älteren uns da an jeden Erinnerungsstrohhalm klammern. Der Mai bietet dazu reichlich Gelegenheit. Maibowle, Maibaum, Maikäfer, Maiglöckchen, die Liste an Assoziationen ließe sich fortsetzen. Sogar für die Jüngeren ist von diesem Jahr an etwas dabei. Na was wohl, das Deutschlandticket der Bahn! Wird die Nation auf immer mit dem 1. Mai 2023 verbinden.

Auch wir Behinderten sind mit von der Partie, schließen uns nicht mutwillig aus. Die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben (ISL) hat anlässlich des europäischen Protesttages der Behinderten am 5. Mai einen Stresstest angesetzt. Wie verkraftet es die Bahn, sobald ganze Pulks von Behinderten anrücken und die Waggons stürmen, viele mit Blindenstock und noch mehr auf Rädern. Reiseziel ist Berlin und getestet werden soll, wie viele tatsächlich ankommen, wer von ihnen durch kommt. Oder auf irgend einem Provinzbahnhof strandet und lange nach Mitternacht durch das technische Hilfswerk geborgen werden muss. Wirklich Dramatisches ist nicht zu befürchten, seitdem die Bahn ganz auf Entschleunigung gesetzt hat, wer unpünktlich auf dem Bahnsteig eintrudelt, hat gute Aussichten (an die hundert Prozent demnächst), den garantiert verspäteten Zug allemal zu erreichen (lediglich Rollstuhlfahrer können sich nicht darauf verlassen, dass ihnen jemand vom Personal hineinhilft).

Heraus zum 1. Mai!

„Im wunderschönen Monat Mai, als alle Knospen sprangen, da ist in meinem Herzen die Liebe aufgegangen.“ Überflüssig zu sagen, dass im Wonnemonat Mai auch die Liebe erwacht, neben den pflanzlichen Säften auch die tierischen Triebe, inklusive der menschliche Hormone, mächtig ins Kraut schießen – eine verruschte Metapher, seis drum. Doch von wem sind jene Verse noch gleich, wer hat sie gedichtet? Der jüdische Deutsche Heinrich Heine im Pariser Exil, round about Mitte des 19. Jahrhunderts. Zugleich die Zeit, in der sich politisch etwas zu regen begann, mit dem sich bald eine eigene 1. Mai-Symbolik verbinden sollte.

Heraus zum 1.Mai, die Parole, mit der zum internationalen Kampftag der Arbeiterbewegung aufgerufen wurde, ist heute beinahe vergessen. Kräht kein Hahn mehr nach, werden sich viele sagen. Allerdings zu Unrecht. Darauf muss mal jemand hinweisen, z.B. einer wie ich, der sich – ein intellektueller Stubenhocker und gewiss kein geborener Straßenkämpfer – in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts gelegentlich Maidemonstrationen angeschlossen hat. DGB-Plakate wurden in die Luft gehalten, rote Fahnen über den Köpfen geschwenkt und Sprechchöre adressierten Unschlüssige, „mitmarschieren, solidarisieren“. Eigentlich bereits Nachhut-Gefechte, die großen Schlachten waren längst geschlagen, die Siege der Arbeiterbewegung im Kampf zuerst um den Zehn-Stunden-, später den Acht-Stunden-Tag errungen, davor schon die Kinderarbeit abgeschafft. Und last but not least jener Sozialstaat durchgesetzt, von dessen Segnungen auch wir Behinderten bis auf den heutigen Tag profitieren. Vorerst in größerem Maße als von der UN-Behindertenrechtskonvention, wie oben angedeutet. Ein wenig Dankbarkeit, so empfinde ich es, steht uns daher nicht schlecht zu Gesicht, gegenüber all denen, die sich in der Vergangenheit für jene Errungenschaften ins Zeug gelegt haben und nicht selten einen hohen Preis dafür haben zahlen müssen.

Maikäfer flieg

Zum Schluss muss im wonnemonatlichen Kontext eines berühmten Toten gedacht werden, des Maikäfers, richtig. Zu meiner Kindheit war er noch quicklebendig, in manchen Jahren jedenfalls. Man hat die Dämmerung, besser noch die Dunkelheit abgewartet und dann gings auf die Wiese unter die Obstbäume oder irgendwelchen anderen Baumbestand. Schon schwirrten sie dir um den Kopf, verfingen sich mitunter in den Haaren. Wieder einer im Einmachglas gelandet, Deckel drauf und gefangen, von wegen „Maikäfer flieg“.

Außerdem hat es mit diesem Maikäfer flieg eine andere Bewandtnis. Eine schaurige, um es gerade heraus zu sagen. „Maikäfer flieg, der Vater ist im Krieg, die Mutter ist im Pommerland und Pommerland ist abgebrannt.“ So geht der Text zur Wiegenliedmelodie. Kinderlied und Kriegslied in einem, seliger Schlaf und Alptraum des Krieges sozusagen unter einen Hut gezwängt. So schizophren wie bisweilen die Wirklichkeit. Melodisch evoziertes Kindheitsglück, im gleichen Atemzug vom Text dementiert. Gesungen haben Jung und Alt das Lied wohl bereits im Siebenjährigen Krieg, zweite Hälfte 18. Jahrhundert, die geographische Nähe von Preußen und Pommern spricht dafür. Könnten es gegenwärtig, so frage ich mich, nicht auch die ukrainischen Kinder singen?

So traurig trostlos jedoch muss und darf eine Maikolumne nicht enden. Stattdessen vervollständige ich für die Kleinen späterer Generationen, die Nachgeborenen pathetisch gesprochen, meine die Maikäfer betreffende Kindheitserzählung. Wer kann schon mit Sicherheit ausschließen, ob die Maikäfer nicht irgendwann aus heiterem Himmel auf unsere klimakatastrophale Erde zurückkehren. Also erzähle ich kurz zu Ende, wie wir damals Maikäfer fingen und sie danach zuhause ein paar Tage durchgefüttert haben. Dazu mussten zwei oder drei frisch von einem jungen Zweig getrennte grüne Blätter ins Einmachglas mit dem Käfer, besser noch mehreren Käfern, am besten einer gefangenen Käferkleinfamilie, Vater-Mutter-Kind. Dann mit Hammer und einem Nagel Löcher in den Schraubdeckel aus Blech geklopft, denn was nützt ihnen die beste vegane Ernährung, sind sie von der Frischluftzufuhr abgeschnitten. Und regelmäßiger Ausgang gehört ebenfalls zu einer artgerechten Haltung. Ich ließ sie beispielsweise die Scheibe am Küchenfenster hochkrabbeln, zum Fliegen zeigten sie keine sonderliche Lust. Außer am ersten und zweiten Tag haben sie auch nicht gut gerochen und nach einigen Tagen hat sich im Glas auch nichts mehr geregt. Aber da hast du, Mitte oder Ende Mai, als Kind das diesjährige Interesse an Maikäfern längst verloren und bist schon ganz woanders mit deiner Phantasie. – Adorno, um den Philosophen ein drittes Mal zu bemühen, hat eben recht, „nur als Erinnerung ist das Leben süß und eben das ist der Schmerz“.

Quellenangabe

Theodor W. Adorno, Die musikalischen Monographien (suhrkamp-Verlag). Seiten 287, 294, 298 (Taschenbuchausgabe) – Wer keine klassische Musik hört und in Musikphilosophie nicht bewandert ist, wird hinsichtlich der bei Adorno angesprochenen Lebensweisheit auch bei Paul McCartney fündig, seinem Song Yesterday, in dem es heißt, „Yesterday, all my troubles seemed so far away, now it looks as though they’re here to stay, oh, I believe in yesterday …“ Eine durchaus verwandte melancholische Erinnerungsseligkeit.

Zu Silent Spring: Der englische Originaltitel des von der Amerikanerin Rachel Carson geschriebenen Öko-Klassikers von 1962. Sozusagen die Gründungsurkunde der Umweltbewegung. Ihr „stummer Frühling“ bezieht sich auf die tödlichen Folgen der damals versprühten Umweltgifte, darunter chemische Keulen wie DDT, der Einsatz von Herbiziden, Pestiziden etc. in einem Vogelschutzgebiet.

DGB, das Kürzel steht für Deutscher Gewerkschaftsbund.