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Freie Fahrt für blinden Passagier: Blaupause einer behindertenfreundlichen Verkehrswende

sitzt auf einer Bank am Wald
Hans-Willi Weis
Foto: Hans-Willi Weis

Staufen (kobinet) Statt der üblichen Kolumne folgt datumsgerecht diesmal ein mehrseitiger, dafür aber barrierefreier Aprilscherz. Das, worum es geht, hat man uns als die „behinderten freundlichste Verkehrswende ever“ verkaufen wollen. Ihr Kernstück, das ausverkaufte 9-Euro-Ticket zum Mond, soll ab 1. Mai in der preislich verbesserten Version von 49 Euro endlich Fahrt aufnehmen. Und stellt Euch vor, wir Behinderten kriegen es schon für 48 Euro 99 und keiner fährt hin. Auf den Mond will niemand, alle zwängen sich lieber in ihre selbstfahrenden Kabinenroller, wollen „fahren, fahren, fahren auf der Autobahn“. Mir dagegen sind die dünn befahrenen Landstraßen an den mittleren Schwarzwaldhängen das Liebste. Doch lest selbst, was uns „inkludierten“, d. h. eingeschlossenen Zwangsbeglückten die Regierung mit ihrer verkorksten Verkehrswende eingebrockt hat.

Mobilität beginnt nach dem Aufstehen, nach wie vor der Verkehrswende

Was die Planer im Verkehrsministerium sich nicht bewusst machen, weil ihnen ihr abgehobenes Technokraten Dasein im Weg steht und sie behindert: Mobilität beginnt für uns Behinderte, egal ob blind oder lahm, morgens mit dem Aufstehen. Oder präziser gesagt, unsere Mobilitätsprobleme fangen da schon an, haarscharf an der Bettkante, an der tückischen Schnittstelle zwischen horizontaler und vertikaler Körperhaltung, dem Übergang von der einen in die andere Position. Und so geht es den lieben langen Tag weiter, die Mobilitätsprobleme nehmen kein Ende. Wen wundert es da, wenn jene Leute, die vom Klein-Klein unserer Probleme keinen blassen Schimmer haben, bei ihrem famosen Pläneschmieden dauernd grobe handwerkliche Fehler machen, die wir mobilen Endverbraucher dann mitten im Verkehr ausbaden müssen? Wir User sind die Looser.

Dabei sollte nach der Verkehrswende auch für uns alles besser werden. Ist es aber nicht geworden, wie man an meinem eigenen Beispiel sehen kann. Auch wenn ich es mir nicht gerne eingestehe und mir im Folgenden immer noch so manches schönrede. – „Freude schöner Götterfunke“, so lasse ich mich morgens von der Smart-Home-Standardeinstellung XP wecken, „Tochter aus Elysium“, im Halbschlaf denke ich noch jedes Mal, es müsste doch eigentlich Sohn aus Elysium heißen oder meinetwegen Prinz, so sauwohl wie ich mich fühle. Mit einem Sprung bin ich aus dem Bett, lande, was für ein Glück, gleich auf dem richtigen Fuß, weiche, mobil wie ich trotz aller Blindheit bin, sämtlichen Hindernissen mit nachtwandlerischer Sicherheit aus und bin auch schon am Fenster, fasse den Knauf und reiße es auf.

Frische Abgasluft strömt ins Zimmer, die Müllabfuhr ist die letzte noch nicht elektrifizierte Dreckschleuder der Staufener Stadtwerke. Ich hole tief Luft, denn mein morgendlicher Medikamentencocktail enthält auch eine Dosis „tägliche Giftausleitung“, das zahlt mir die ErBarmer Satzkasse schließlich nicht umsonst. Das im vergangenen Herbst von der großen Kriegskoalition verabschiedete „Fremdkörper-Rasche-Entfernungsgesetz“ (FKREG) wirkt sich für die Versicherten im Gesundheitswesen zügiger aus als für Betroffene in Asylrechtsverfahren.

Nachdem ich in der Küche einen Teelöffel Lindenblütenhonig und ein Glas warmes Ingwerwasser zu mir genommen habe, stehe ich bereits im Badezimmer am Waschbecken und betrachte mich nicht im Spiegel. Was für eine Erlösung! Dem eigenen Konterfei nicht, wie früher, jeden Morgen ins Gesicht sehen müssen. Dieser zwanghafte Abgleich mit sich selbst bin ich das noch oder bin ich schon ein anderer? Und es mir so oder so nicht recht gewesen ist. War ich noch derselbe, hat es mir nicht gepasst und war ich ein anderer, so war es nicht der Richtige, weil ich mir einen anderen gewünscht hätte. Zum aus der Haut fahren war das. Aber jetzt, wo ich in einen blinden Spiegel oder vielmehr blind in den Spiegel starre, ist der nervige Identitätscheck wie eine Zwangsjacke von mir abgefallen, der einem frühmorgens schon die gute Laune verdirbt, verdorben hat.

Kleines Vorspiel mit meiner elektronischen Zugehfrau

Ein Strahl kaltes Wasser ins Gesicht, einmal von links und einmal von rechts über Schläfe und Wange und ich stehe wie eine Eins Gewehr bei Fuß für eine weitere Tagesrunde als rollender Einzelkämpfer im selbstfahrenden Universum. – Der Wagen ist wie immer auf neun Uhr dreißig bestellt, Zeit genug Mariana Robotta, meine Zugehfrau anzumachen bzw. einzuschalten. Und unbändig freue ich mich allmorgentlich auf ihre vertrauten Züge, indem ich mir dieselben aufs lebhafteste vorstelle, denn wie es in Beethovens Jubelgesang, meinem digitalen Wecklied, treffend heißt, „wer auch nur eine Seele sein eigen nennt auf dem Erdenrund“, der darf sich, sage ich, glücklich preisen.

Frau Robotta ist nächtens in der Abstellkammer untergebracht, früher der Ort für Staubsauger und Kehrwisch. Jener, der Staubsauger also, erübrigt sich, weil Mariana dankenswerterweise dessen Geschäft verrichtet. Technisches Know-how hat bei ihr den After zu einer sehr sinnvollen Saugvorrichtung umgemodelt. Könnte ich ihr doch nur zuschauen, wie sie beim Saugen mit charakteristischem Ruckeln in die Hocke geht und mit süßen Trippelschrittchen um Tisch- und Stuhlbeine wuselt, stets ein flottes Liedchen auf den Lippen, „oh du lieber Augustin“ oder im Schnellsauggang „schöne Maid, hast du heut für mich Zeit …“

Aber statt mich im Detail zu verlieren, hier lieber ein paar nüchterne Daten, für andere Behinderte, falls sie sich das Modell zulegen möchten. Gibt es jetzt auch schon gebraucht bei Amazon oder Ebay. Die chinesische Herstellerfirma sitzt in den Karpaten oder in Transsilvanien, daher wahrscheinlich das schöne östliche Timbre von Marianas Stimme, unwillkürlich treten mir die lasziven Frauengestalten der Gegend vor Augen, Boschena aus dem Törless oder Ruschena aus dem ersten Teil der Schlafwandler-Trilogie. Die Sexualverkehrsfunktion im Betriebsmenü nutze ich grundsätzlich nicht, einmal, weil mir Silver-Sex mit einer vollautomatischen Zugehfrau mit Staubsaugerfunktion ein Graus ist, vor allem aber, um Strom zu sparen. Der Akku sei sofort leer gewesen, habe ich in einer Kundenbewertung gelesen, knapp vor dem Höhepunkt war plötzlich der Strom aus, „eine ziemliche Sauerei und eine Frechheit dazu, was sich der chinesische Hersteller da erlaubt“, so der aufgebrachte Kunde. Bestellnummer 0815 Serie Haremsdame.

Ein typisches Nachwende-Roadmovie, mein Tag im selbstfahrenden Auto

Während ich schwatze, läuft die Zeit davon und es zuckt mir im linken Daumen, das Interface zeigt mir an, in fünf Minuten steht der Wagen vor der Tür. Frau Robotta schnallt mir den Tornister auf den Buckel, drückt mir den Blindenstock in die Hand und öffnet die Brandschutztür zum Flur. Halten Sie die Ohren steif, sage ich zum Abschied, lassen Sie niemand in die Wohnung, zu mir will sowieso keiner, ich hab ja alles … Ich rücke mir die Google-Brille auf der Nase zurecht, mein linker Daumen zuckt schon wieder, der Wagen ist jetzt noch fünfhundert Meter vom Zielort entfernt, ich muss los.

Vorsichtig trete ich auf die Gasse, bloß keine Hektik, neulich erst stolperte ich über zwei ineinander verkeilte E-Roller, es liegen dreimal so viel davon im Rinnstein seit dem Hit auf Spott ist frei, dem deutschen Ableger von Spotify „meine Oma fährt im Hühnerstall Elektroroller, sie is ne Bio-Gutmenschen-Frau und keene Umweltweltsau“. – Langsam tappe ich nach vorn zur Straßenecke, dem Mülleimer versetze ich einen Tritt, hierzulande sind sie noch nicht elektronisch mit der Zentrale verbunden, dir werden noch keine Punkte abgezogen, wie bei den Chinesen, ist doch eine Frechheit.

Am Straßenrand vor mir das leise Geräusch eines Elektroautos, es ertönt das Schicksalsmotiv aus Beethovens Fünfter, ta ta ta taa, der Wagen ist da. Die Fahrzeuge der Flotte sind pausenlos im Einsatz, sie stehen längst nicht mehr unnötig herum und blockieren den Verkehr. Einen Moment lang warte ich ab, bis der Ohrenschmeichler Für Elise zu hören ist, das Signal, dass sich die Wagentür geöffnet hat. Kein säuerlicher Schweißgeruch wie gestern schlägt mir aus dem Wageninneren entgegen, der Duft eines edlen Parfüms, die Vorbenutzerin muss eine Dame von Welt gewesen sein. Wie ein Gentleman seinen Schirm oder Herrenknirps falte ich den Blindenstock zusammen und steige ein, mein Tornister nimmt neben mir auf dem leeren Fahrersitz Platz.

Scheiße, was ist denn das, da klebt was unter dem rechten Hosenbein, ich taste mit den Fingern, rieche, Marmelade! Vorgestern Nutella, zum Kotzen, eine ziemliche Sauerei! Werde ich in meiner nächsten Kundenbewertung schreiben. Frühstücken während der Fahrt zur Schule ist klebriger noch als Frühstücken im Bett, die digital naiven Mütter, deren liebstes Kind ihr Smartphone ist, wissen nicht, dass jeden Morgen eine neue App für ihre Kleinen ein ordentliches Frühstück zu Hause nicht ersetzt. Gestern habe ich unter meinem linken Oberschenkel ein prall gefülltes Kondom zerquetscht, auch kein Zuckerschlecken.

Natürlich musst du erst einmal richtig in Fahrt kommen, da siehst Du über manches hinweg. Auch wenn du als Blinder nicht aus dem Fenster siehst. Was einem wiederum erlaubt, stundenlang im Kreis zu fahren und Strom zu sparen. – Und doch kann ich mir als Kultur- und Sozialwissenschaftler eine kritische Fußnote zu den herrschenden Mobilitätsverhältnissen nicht verkneifen. Ich meine unsere Zweiklassenmobilität. Die Besserverdienenden in teuren Stretchlimousinen, in Kabinenrollern, ich nenne sie Quetschkabinen, wir Otto Normalverbraucher.

Der junge CEO von nebenan fährt solch eine Stretchlimousine, der mit den blauen Haaren und der blondierten Frau und den beiden kleinen Hochbegabten, einer davon beherrscht mit seinen zweieinhalb Jahren bereits perfekt das chinesische Mandarin. Eine firmeneigene selbstverständlich, sie ist dreimal so lang und zweimal so breit wie die alten SUVs und wegen der Rundum Panzer-Verglasung wiegt sie das Doppelte. Hinterm Steuer sitzt sogar eine livrierte Chauffeursattrappe, eine Stilfrage, nehme ich an, vornehm geht die Welt zugrunde. Unterdessen zwängt sich unsereins in die öffentlichen Quetschkabinen, gerecht ist das nicht, höchstens verkehrsgerecht.

Vor der Verkehrswende war immer nur von der Schokoladenseite der neuen Mobilitätszustände die Rede, kein Wort von den Sonderspuren für CEOs und sonstige Celebrities. Ganz zu schweigen von den Sperrzeiten für normale Selbstfahrer wie ich und der de facto Rationierung an den Zapfsäulen aufgrund der Zugangskontingentierung bei den Ladestationen. Kürzlich erst wurde ich in meiner Quetschkabine wie eine einsame Sardine in ihrer Blechbüchse auf den Seitenstreifen ferngesteuert und eine geschlagene Stunde dort festgehalten. Nur weil die AFD-Stadtratsfraktion zu einer Sondersitzung ins Rathaus gekarrt wurde, auf ihren schwarzen Limousinen – mein Google-Operettenglas hat mich ins Bild gesetzt – prunkte in vergoldeter Frakturschrift, ähnlich wie auf Grabsteinen früher, die Aufschrift Platz da, wir sind das Volk. Ehrlich gesagt, der überholte ADAC-Slogan Freie Fahrt für freie Bürger kommt mir da ehrlicher vor.

Abermals schwatze ich und merke nicht, wie die Zeit vergeht, dass es zwölf Uhr Mittag ist und mir der Magen knurrt. Die viele Fahrerei macht nicht nur Lust auf noch mehr Fahren, man wird auch ganz schön hungrig und bekommt Appetit auf eine schmackhafte Mahlzeit. Kaum ist der Gedanke zu Ende gedacht, hat ihn Google-Glass mir schon von der Augenbewegung abgelesen und den Wagen entsprechend programmiert, der Flitzer steuert das nächstgelegene Drive-In an, das im Doppelbogen geschwungene M am Straßenrand ist für Sehende nicht zu übersehen. McVegan, das vegane Mittagsmenü für den einsamen Wolf auf der Piste in der selbstfahrenden Kiste, schon reicht mir der Greifarm den in Alufolie verschweißten Leckerbissen durchs Seitenfenster, Vorsicht, die Finger nicht verbrennen und nicht wieder die Soße verkleckern, letztes Mal träufelte sie in den Spalt zwischen Fahrer- und Beifahrersitz.

Vor der Verkehrswende vertrat auch ich die rückwärtsgewandte Auffassung, ich möchte kein Essen auf Rädern, ich will mein Essen auf dem Teller, wie andere auch. Das sehe ich heute anders, als Selbstfahrer lässt man den „alten Adam“ komplett fahren. – Von McVegan aus lasse ich mich nach Badenweiler kutschieren, die Perle am südlichen Rand des Schwarzwalds. Die Serpentinen hinauf gleite ich ins mittägliche Nickerchen. Mir träumt, auf der Rückfahrt durch Badenweiler überfahre ich aus Versehen den Großschriftsteller Rüdiger Safranski, als er gerade aus seiner Stretchlimousine aussteigt, blindlings Hölderlins Devise Komm ins Offene Freund vertrauend. Ob sein groß angekündigtes neues Buch Wie viel Mobilität erträgt der selbstfahrende Mensch? Untertitel Kunstwerk meines Lebens nach der Verkehrswende, jetzt noch wird erscheinen können, wer weiß.

Apropos Buch, im Selbstfahrmodus geht nichts über ein gutes E-Book. Zurzeit bin ich noch bei Cormac McCarthey Die Straße. Der Roman spielt nicht, wie Kritiker früher glaubten, nach einem Atomkrieg, nein, er spielt nach der Verkehrswende, genauer nach dem Nach dieser Wende, kurz, nach dem großen Stromausfall. Wo nichts mehr geht. Die Straßen leer gefegt. Nur ein Vater mit seinem Sohn unterwegs, die einen rostigen Einkaufswagen mit ihren Habseligkeiten vor sich herschieben. Der Vater besitzt außerdem noch einen Revolver und zwei Schuss Munition, die er hütet wie seinen Augapfel.

Wo der Hund begraben liegt und warum man sich auch als blinder Selbstfahrer bewaffnen sollte

Uns steht der große Stromausfall noch bevor. Sollte man sich jetzt schon bewaffnen? Einen Revolver habe ich nicht. Dafür eine AK47. Wie ein Blinder zu einer Kalaschnikow kommt? Auf dem handelsüblichen Weg. Nach dem syrischen Bürgerkrieg und der Auslöschung Nordkoreas und des Iran durch atomar bestückte Drohnen hat die AK47 die Märkte überschwemmt, meine ist von Ebay. Ich habe sie ständig dabei, im Tornister auf dem Fahrersitz, in Einzelteile zerlegt. Sie zusammenschrauben ist ein Kinderspiel, weshalb sie auch so beliebt ist bei Jung und Alt.

Doch ich habe noch gar nicht gesagt, warum ich sie mir zugelegt habe. Weniger wegen des potenziellen Stromausfalles, so sicher der auch kommen wird. Es handelt sich vielmehr um ein ureigenes Blinden- und Behindertenanliegen. Noch vor der jetzigen Verkehrswende, als sich der Löwenanteil unserer Mobilität im Fußgängermodus abgespielt hat. Im Klartext gesprochen, ich rede von unserem natürlichen Feind Nummer Eins, dem Kampfhund. Wobei seine weniger aggressiven Artgenossen bisweilen nicht minder lästig sind. Bei Kampfhunden und Konsorten hat man als Blinder keine Chance. Ausgestattet mit einer AK47 verhält es sich dagegen genau umgekehrt, der Kampfhund hat nicht die Spur einer Chance.

Vonseiten der Kampfhunde und ihrer Artgenossen ging in der verkehrstechnischen Vorwendezeit eine weitere, niederschwellige Gefahr oder Bedrohung für Blindgänger aus, ich meine für sehbehinderte Fußgänger. Das heißt, es musste nicht zur Konfrontation oder direkten Attacke kommen, mit oder ohne Einsatz der AK47 im Gefolge. Es konnte stattdessen Folgendes geschehen: Der Erblindete, diesmal einem heimtückischen Angriff entgangen und sich in Sicherheit wiegend, betritt ahnungslos seine Wohnung. Siegesgewiss schreitet er über den Perserteppich, als ihm von unten, am Hosenbein emporkriechend, ein Ammoniakwölkchen in die Nase steigt, mit dem Zeigefinger langt er an seinen Schuh, führt den Finger zur Nase, schnüffelt und kein Zweifel, die Sauhunde haben ihn also doch dran gekriegt, zugeschlagen bei der Achillesferse der Vorwende-Mobilität, der Schuhsohle. Nur eine der zahlreichen Niederlagen im täglichen Überlebenskampf, wie sie mit der selbstfahrenden Verkehrswende nun endlich Geschichte sind.

Schnell mal ein ethisches Dilemma durchgespielt

Dieweil ich hier mein Selbstfahrergarn spinne, verrinnt die Zeit, gar nicht zu reden von der Menge an Strom aus der Ladestation. Mein Daumen klingelt, Robotta in der Leitung, vor genau einer Minute hat sie die Pfanne mit den Bratkartoffeln auf den Herd gesetzt, in neun Minuten sind die Bräterchen fertig, ich möge mich bitte nicht verspäten. Kein Problem, wenn nicht ein unvorhersehbares Hindernis dazwischenkommt. In diesem Augenblick lässt mich ein Alarmsignal von der Google-Brille zusammenzucken, in zehn Meter Entfernung zwei Hindernisse auf der Fahrbahn. Wir befinden uns bereits in der Staufener Altstadt, haben noch immer ganz schön Fahrt, brettern die wegen ihrer Enge berüchtigte Stichstraße hinunter. In Sekunden Bruchteilen schießen einem die Gedanken durch den Kopf, wie immer in solchen Momenten. Mit Lichtgeschwindigkeit werden die ethischen Dilemmata der Nachverkehrswendezeit noch einmal probeweise durch die Neuronen gejagt.

Zum Beispiel das mit dem dicken Mann. Kühn schwingt sich eine Fußgängerbrücke, auf der ein dicker Mann mit schwerem Rucksack steht, über die Bahntrasse. Er horcht auf das in Windeseile sich nähernde Geräusch, der ICE von Kiel nach Kapstadt, Spitzengeschwindigkeit 580 Stundenkilometer. Was der dicke Mann nicht weiß, weil es in entgegengesetzter Richtung hinter seinem Rücken geschieht: Hundert Meter die Strecke abwärts sind Gleisarbeiten im Gang, fünf kräftige junge Männer mit Presslufthämmern und Schutzbrillen. Wegen dem Lärm hören sie das Alarmklingeln ihrer Handys nicht und wegen der Schutzbrillen entgeht ihnen auch das Warnsignal auf dem Display. Neben dem Dicken auf der Brücke steht indes noch ein anderer Mann, der aus unerfindlichen Gründen über die Lage im Bild ist. Und der sich nun in der ethischen Zwickmühle befindet, ob er den dicken Man als schwergewichtiges Hindernis vor den heranbrausenden D-Zug von der Brücke schubsen soll, weil es die einzige Möglichkeit wäre, die fünf kräftigen jungen Männer weiter unterhalb vor dem sicheren Tod zu bewahren. Entscheidet er sich für den Stoß, geschieht folgendes: Mit dem dicken Mann und seinem schweren Rucksack auf den Gleisen, würde der Bremsvorgang hundert Meter vor den Gleisarbeitern eingeleitet, die Lok würde den menschlichen Prellbock noch etliche zehn Meter vor sich herschieben und käme wenige Meter vor den kräftigen jungen Männern zum Stehen. Denkbar, die verblüfften Gleisarbeiter zeigen sich erkenntlich und legen sogleich, wodurch sich ein Räumungskommando erübrigt, Hand an, indem sie den dicken Mann oder was von ihm übrig ist, vom Gleisbett entfernen, wie das „Fremdkörper-Rasche-Entfernungsgesetz“ es nicht verbindlicher vorschreiben könnte.

Während diese und ähnliche Erwägungen in Nullkommanichts zerebral durchgespielt werden – was übrigens vollkommen überflüssig ist, weil ja nicht ich, sondern der Bordcomputer entscheidet und sich mit den moralischen Dilemmata herumschlagen muss –, hat sich der Abstand meines Kabinenrollers zu den beiden Hindernissen auf der Fahrbahn auf fünf Meter verkürzt. Wobei schon bei den vorherigen zehn Metern ein erfolgreiches Bremsmanöver aussichtslos gewesen wäre. Nach wie vor kommt nur ein Ausweichmanöver zu Lasten eines der beiden Hindernisse in Frage, entweder ein Ausweichen nach links, das die fünf Migrantenkinder verschont und die Alte am Krückstock niedermäht oder ein Ausweichen nach rechts, das die 97-jährige verschont und die fünf Plagen umnietet. Ich bin gespannt, wie der Wagen entscheidet, möchte auf alle Fälle nicht in seiner Haut stecken. Da macht es auch schon „Bums“, also hat die Alte dran glauben müssen, denn es hat nur einmal gebumst und nicht fünfmal. – Ich atme auf, die Bahn ist frei, freie Fahrt dem blinden Passagier.

Man unterschätze bloß die Technik nicht, unser Schicksal oder besser noch Verhängnis. Mit ihr lassen sich ethische Dilemmata nicht nur fein säuberlich bereinigen, wie mein Abenteuer von soeben schlagend bewiesen hat, technisch lassen sie sich von vornherein vermeiden. Gesetzt – ich hätte bei meinem Hindernisrennen in der Gasse statt in einem dem Boden verhafteten fahrbaren Untersatz in einem Flugtaxi gesessen, ich hätte die Hindernisse kurzerhand mittels Flugmodus mit einem eleganten Hopser übersprungen.

Wenngleich ich mich von der durchgeknallten Autolobby nicht zum Lufttaxi-Hampelmann machen lasse. Da hockt man zu fünft oder sechst aufeinander wie die Heringe in der Dose und in Wirklichkeit ist es eine Drohne, die womöglich vom Boden aus beschossen wird. Erschwinglich sind die Lufttaxis gottlob nur für besserverdienende VIPs, die sich dann noch „importanter“, wichtiger vorkommen. Ursprünglich dachte ich, mit der selbstfahrenden Flotte wären wir alle ein einziges großes Taxiunternehmen. Und jetzt, wo mit dem Strom der Verkehr endlich fließt, heißt es auf einmal, die Uber-Fahrer verstopfen die Straßen, 80 000 allein in New York. Bitte ein Lufttaxi! so hallen die Rufe der verzweifelten VIPs im Pelzmantel durch die Fifth Avenue. Und wir armen Teufel, Blinde und Behinderte, was geschieht mit uns? Werden wir, eben erst vierrädrig selbstfahrend mobil geworden, demnächst zu Taxisklaven von Ubers Gnaden? Schon sehne ich mich zurück in die gute alte Zeit der Verkehrswendeanfangsjahre, jeder sein eigener Herr, seine Runden drehend in der engen Quetschkabine und nur ab und zu eine Oma, die die Straße versperrt, die sich aber problemlos aus dem Weg räumen lässt, wenn man sie nicht überspringen kann.

So kann es mir egal sein, was zu meinem intelligenten Ausweichmanöver und seinem Kollateralschaden morgen im Staufener Käsblatt steht. Sollen sich die AFD-Granden im Stadtrat wegen der biodeutschen Oma doch das Maul zerreißen, der Bordcomputer und sein Algorithmus haben nun mal nun mal so entschieden, basta, das ist künstliche Intelligenz, da kommt deren Spatzenhirn nicht mit. Und die Oma hätte ja auch, statt, dass sie sich in der engen Gasse herumdrückt, im Hühnerstall E-Roller fahren können, was auf alle Fälle umweltfreundlicher wäre, den Tierschutz mal beiseitegelassen.

Wieder ein selbstfahrendes Abenteuer bestanden, zuhause erwarten mich die Bratkartoffeln

Mir fallen die Bratkartoffeln auf der Herdplatte ein, drei Minuten noch, ehe sie anbrennen. Was nicht passieren wird, da Frau Robotta alles im Griff hat, anders als Neuronen basierte Haushaltshilfen lassen siliziumgestützte nie etwas anbrennen. Ich bleibe entspannt und fahre mit gedrosselter Geschwindigkeit in den Feierabend. Exakt an der Stelle, wo ich heute früh eingestiegen bin, steige ich jetzt aus dem Wagen aus, ich höre noch den Anfang der Mondscheinsonate, das Signal, dass er ohne mich weiterfährt, der nächste Kunde wartet um die nächste Ecke. In Stoßzeiten ist es der Hummelflug von Rimsky-Korsakow, weil es durch den Kundenandrang schnell gehen muss und alles gleich furchtbar hektisch wird. So guter Laune wie ich heuer wieder bin, stelle ich mir vor, während ich mit dem Blindenstock zwischen den Mülltonnen hindurch navigiere, kein einsamer Selbstfahrer mit Tornister und zerlegter Kalaschnikow zu sein. Sondern ein lonesome Cowboy mit einem Colt links und einem Colt rechts, der auf seinem Klepper westwärts in den feuerroten Sonnenuntergang trabt.

Doch schon hält mir Mariana die Brandschutztür auf, der Duft von Bräterchen steigt mir in die Nase, Gardoofel nix angebrannt, beruhigt sie mich und nimmt Tornister und Blindenstock entgegen, Essen fertig auf Teller, nix auf Rad. Irgendwann hat sie meine frühere Aversion gegen Essen auf Rädern spitz bekommen, weiß der Teufel wie, man sieht ihr nicht auf den Chip.

Nach der Mahlzeit höre ich auf meinem alten Dual-Plattenspieler die Symphonie Aus der neuen Welt, zur Zeit des Komponisten hätte keiner gedacht, dass sie, die neue Welt, zuletzt diese herrliche Wendung nimmt, die der Verkehrswende, meine ich. Mir sinkt das Kinn auf die Brust, bevor noch die letzten Takte verklungen sind. Frau Robotta wird, nachdem in der Wohnung mein lautes Schnarchen zu vernehmen ist, schon in der Besenkammer verschwunden sein, nach dem Abwasch schließt sie sich selbsttätig weg. (Auszug aus dem Romanmanuskript Rad ab, Mensch sein war gestern, Tagebuch eines Selbstfahrers)

Texterläuterungen

  • Fahren auf der Autobahn: Autobahn ist das bekannteste Stück der Elektronikband Kraftwerk
  • Laszive Frauenstimmen: Frauenfiguren aus der Erzählung Der junge Törless von Robert Musil sowie der Romantrilogie Die Schlafwandler von Hermann Broch
  • Silversex: Bezeichnung für geschlechtliche Aktivität im vorgerückten Alter
  • Rüdiger Safranski: Schriftsteller, wohnhaft in Badenweiler, bekannt durch seine Denker- und Dichtermonografien, zuletzt über Hölderlin Komm ins Offene Freund
  • Cormac McCarthy: sein Roman Die Straße wurde auch verfilmt
  • Dicker Mann und fünf Gleisarbeiter: Moralphilosophen benutzen im zeitgenössischen Ethikdiskurs das Beispiel, um zu zeigen, was ein ethisches Dilemma ist
  • Lufttaxis: in den USA entwickelte und zur Serienreife gebrachte Verkehrstechnologie zum Personentransport im urbanen Nahverkehr, Uber wie auch Elon Musk invenstieren in die Geschäftsidee
  • Aus der Neuen Welt: populäre Bezeichnung der 9. Symphonie von Antonin Dvorak

Lesermeinungen

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Silvia Hauser
13.04.2023 20:47

Die Reaktion auf die Pariser Volksabstimmung in Sachen E-Scooter – an die 90% der Pariser sind dafür, die lästigen Dinger aus der Stadt zu verbannen – hat in der hiesigen Qualitätapresse von der taz bis zur Welt einen veritablen shitstorm ausgelöst. Könnte dieses einheitsjournalistische Bashing dieses überwältigenden Mehrheitsvotums – Tenor: wie blöd, wie geistig beschränkt, muss diese Pariser Plebs sein, dass sie die E-Roller weghaben will – etwas mit dem abgehobenen Elitestatus dieser Schreiber und Schreiberinnen zu tun haben? Sie schleppen keine Pakete, liefern keine Pizzas an, sind keine Omas und Opas mit Rollator, keine gestressten alleinerziehenden Mütter mit Kinderwagen, keinen Behinderten im Rollstuhl oder mit Blindenstock, denen E-scooter einmal mehr ihren Alltag in einen Hindernisparcours verwandeln. Für die Alpha-Tiere der journalistischen Premiumklasse ist der Elektro-Roller offenbar das i-Tüpfelchen städtischer Volksbespaßung, deren urbanenen Fun- und Shoppingbequemlichkeit. Die Elite und die Besserverdienenden bewegen sich seit eh und je ganz anders vorwärts, früher brachte man sie mit der Sänfte in den Club, heute ist es die Limousine und morgen das Lufttaxi.
Ergänzung zu meiner Kolumne, Hans-Willi Weis (Texteingabe S.Hauser)

Sabrina Mevis
Antwort auf  Silvia Hauser
14.04.2023 17:48

Leider sind einige Fakten in diesem Kommentar falsch dargestellt. Es ist bemängelt worden, dass sich nur ein Bruchteil der Pariser:Innen an dieser Abstimmung beteiligt haben und die Abstimmung ist teils positiv kommentiert worden, z.B. bei Zeit Online. Die Mitarbeitenden der taz sind alles Mögliche, aber sich nicht wohlbetucht. Pauschalisierung dieser Art hilft niemandem.