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Scholzomat mit Flecktarn und eine halbe Nation im Leopardenfell – oder Machen die Kriegsblinden den Lahmen endlich Beine?

sitzt auf einer Bank am Wald
Hans-Willi Weis
Foto: Hans-Willi Weis

Merzhausen (kobinet) Was geht hier vor, in den Medien und darüber hinaus? Was für eine Stimmung herrscht da auf einmal. Kriegsstimmung. Sie hat sich zügig aufgebaut, von schnappatmiger Aufgeregtheit zu Hysterie, die seit Tagen, „nach Ramstein“, dem Höhepunkt zustrebt und nach gestern Abend und spätestens heute früh in schierer Begeisterung, Kriegsbegeisterung überkocht. Denn „wir liefern“, hurra! – Ich schreibe dies am Morgen des 25. Januar 2023, nicht im August 1914.

Von „Erlösung“, von „Jubel“, von „Luftsprung“ ist die Rede, medial, egal auf welchem Kanal. „Erlösen“ solle er uns endlich, forderte die Frankfurter Rundschau in ihrem gestrigen Kommentar vom obersten „Zauderer“ im Kanzleramt; Herr Melnyk „hat gejubelt“, berichtet heute Morgen nach gefallener Entscheidung Sabine Adler, Berichterstattungsfalke beim Deutschlandfunk, vom ukrainischen Vize-Außenminister; den Luftsprung schließlich dürften die ExpertInnen der Thinktanks vollführen, einen „Luftsprung“ habe sie gemacht bei der Verkündigung des 100-Millliarden-Wumms durch den Wendezeit-Kanzler, so bereits vor einem Jahr eine Expertin aus einem dieser Tanks im Radio. Als es noch nicht einmal wie jetzt die Panzer zu feiern gab, „unsere Leos“, wie sie immer öfter zärtlich genannt werden, in aller Öffentlichkeit. – Hurra! Zur Feier des Tages könnte ich es doch auch einmal versuchen, kein Spielverderber zu sein in meinem trägen Ohrensessel vor dem alten Dampfradio, aber ich fürchte, das Hurra bleibt mir im Halse stecken.

Bin ich blind, ich meine realitätsblind? Was ich gegen die Lieferung deutscher Wertarbeit in Gestalt lebensrettender Wehrtechnik einzuwenden habe? Wie ich mein nach Stimmungslage ohnehin politisch unwirksames Nichteinverstandensein mit der Lieferung „hocheffektiver Systeme in sorgfältig geschnürten Paketen zur Rettung von Menschenleben“ – so unisono der Politiker- und Expertensprech – denn moralisch rechtfertige? – Fragen, die man legitimerweise stellen kann und die zum einen nach der sachlichen Seite hin, d.h. der politischen und militärischen Lagebeurteilung, beantwortet werden müssten und zum anderen nach der Gefühlsseite, der psychologischen und emotionalen Reaktion. Dass es zwischen beidem, dem äußeren und inneren Geschehen, eine Wechselwirkung gibt, macht ein schlüssiges Antworten nicht einfacher.

Politisch und militärisch – „kriegsführungpolitisch“ muss man leider sagen – traue ich mir kein Lageurteil, geschweige denn irgendeine Lieferempfehlung zu, die ich guten Gewissens gegenüber denjenigen vertreten könnte, die von den Folgen dieser oder jener Entscheidung am unmittelbarsten betroffenen sind. Das heißt gegenüber der unter den „Kriegshandlungen“ leidenden Zivilbevölkerung, wie auch den „Kombattanten“ gegenüber, auf russischer Seite – wenn man den Nachrichten Glauben schenken darf – dem infolge einer „miserablen Performance“ in die Schlacht geworfenen „Kanonenfutter“ und auf ukrainischer Seite – entsprechend dem hiesigen Narrativ – den „heldenhaft um ihre und unsere Freiheit kämpfenden Verteidigern“. – Offenbar gibt es selbst für einen Zauderer und Bedenkenträger meines Kalibers kaum ein Entkommen vor den so suggestiven wie entsetzlichen Stereotypen einer sich an der imaginierten Kriegsrealität und mehr noch am Phantasma des Kriegers berauschenden Sprache. Und so sollte ich mich vielleicht als kleiner, unmaßgeblicher Staatsbürger mit Blick auf mein persönliches Seelenheil sogar getröstet und erleichtert fühlen, politisch und militärisch nichts entscheiden zu müssen.

Ohne darum die maßgeblichen Entscheidungsträger bemitleiden zu müssen, den Job haben sie sich selbst ausgesucht. Zumal wenn sie so militant entscheidungsfreudig sind wie die Verteidigungsexpertin Strack-Zimmermann, die bei sich zu Hause, wie ich aus dem Radio erfahre, ein Model des Kampfpanzers Leopard im Regal stehen hat und möglicherweise auch deshalb so sicher ist, dass der Kriegsverbrecher und Massenmörder Putin, „der jetzt Massenmörder freilässt und für sein barbarisches Unternehmen mobilisiert“, nur durch Leoparden gestoppt werden kann. – Der Deutschlandfunk brachte unlängst das Dokumentarhörspiel Babyn Jar, eine Schlucht nahe Kiew trägt diesen Namen. Nach Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Stadt wurden im September 1941 an diesem Ort zwischen 70 000 und 100 000 jüdische Männer, Frauen und Kinder auf bestialische Weise ermordet. Dieser Vernichtungsaktion fielen ebenfalls die „geistig behinderten“ Insassen des nahe der Schlucht gelegenen psychiatrischen Krankenhauses zum Opfer, eine drei- bis vierstellige Zahl. Die Frage quält mich, haben jene Experten womöglich recht, die davon ausgehen, dass in Russland ein „neuer Faschismus“ an der Macht ist, von dem man nicht wisse, wann er zu ähnlich monströsen Verbrechen imstande ist – Folter und massenhafter Kindesraub sollen in den besetzten Gebieten bereits an der Tagesordnung sein – und dem nur durch ein entschiedenes militärisches Eingreifen noch rechtzeitig Einhalt geboten werden könnte?

Das Beunruhigende, ja Quälende derartiger Fragen führt von der Sachebene zurück zur Stimmungslage. Der emotionalen oder Gefühlsseite, zur Frage nach einer situationsadäquaten psychologischen Reaktion, falls dies unter den längst auch hierzulande eingetretenen Kriegsbedingungen nicht von vornherein eine illusionäre Erwartung sein sollte. Einmal unterstellt, die Befürworter im Leopardenfell lägen richtig, die Panzer müssen geliefert werden, um das soeben angedeutete Schlimme oder Schreckliche zu verhindern, also Kriegsverbrechen und Völkermord: Kann man dann diese Entscheidung medial dermaßen euphorisch feiern, dass rhetorisch das Knallen der Sektkorken zu hören ist? Wenn die Panzerlieferung zwar notwendig sein sollte, aufgrund ihrer „beschränkten Effektivität“ jedoch keine Gewähr bietet für die von Bescheidwissern und Wichtigtuern in den Medien penetrant befeuerte Siegesrhetorik und stattdessen dem etwas nachdenklicheren Strategieanalysten Herfried Münkler zufolge (sein Kardinalbeispiel der Dreißigjährige Krieg) in Wahrheit alles auf einen „Abnutzungskrieg“ hinausläuft, bei dem sich die Kriegsgegner so lange und so effektiv gegenseitig umbringen (ein anderes Wort für abnutzen), bis genügend Soldaten tot auf dem Schlachtfeld liegen und Zivilisten unter ihren zerbombten Häusern und die am politischen und militärischen Schalthebel sitzenden Strategen sich erschöpft genug fühlen, um schlussendlich über einen Waffenstillstand zu verhandeln: Ist vor diesem wohl realistischen Hintergrund das derzeit nach allen Regeln des Infotainments inszenierte Medienspektakel nicht schlechterdings obszön?

Nachdem ich gestern Abend bei Markus Lanz den Krieg- und Panzertalk verfolgt habe, bei dem sich die Showgäste geradezu in Feierlaune geredet haben, mag ich mir gar nicht ausmalen, was die nächsten Tage an durchgeknallter Kriegseuphorie und siegesgewisser Redseligkeit medial über uns hereinbricht. Denn bei der gestrigen Überdosis wird es nicht bleiben, „wir sind jetzt alle mal glücklich“, sagt Christian Mölling, der uns laut Lanz den aktuellen Kriegsverlauf immer so plausibel erklären kann. Aber er macht uns auch gleich plausibel, dass dieses aktuelle Glücklich-sein, weil nämlich geliefert wird, mit Sicherheit nicht unser letztes sein dürfte, sobald es abermals, wie er sich ausdrückt, „ein neues Investment benötigt, um das Ding zu wuppen“. Und zwar so, damit nicht nochmals wie beim „Eiertanz in der Leopardenfrage“ unser Zögern „einen Flurschaden verursacht“. Und die taz-Spezialistin Ulrike Hermann, Lanz lobt ihre Begeisterung, möchte doch einmal festhalten, dass dank Scholz am Ende mehr Waffen in der Ukraine sind, als sich vorher alle haben vorstellen können, „das ist doch sensationell“.

Mein Fazit: Einfach sensationell, wie diese Kriegsblinden den Lahmen endlich Beine gemacht haben. An sich mag ich es nicht, wenn mit Behinderten metaphorischer Missbrauch getrieben wird, aber diesmal hat es mich so arg in den Fingern gejuckt, dass ich mir den üblen Scherz nicht verkneifen mochte. Niemand von uns Zivilblinden, Lahmen, Buckligen, Rollstuhlfahrern, allesamt für den Beruf des Panzerfahrers untauglich, muss sich im übrigen Beine machen lassen, nur weil jene Kriegsblinden das gerne so hätten. Blind, lahm, bucklig sein, mag nicht schön sein, richtig schlimm wird es allerdings, lasse ich mir zwei andere lebenswichtige Organe amputieren, mein Urteilsvermögen und eine gesunde Skepsis.

Zuletzt sei auch dies nicht verschwiegen: Wenn der Leo gemeinsam mit dem Abraham nun demnächst aufs Gefechtsfeld rollt, werden sie ihre Gegner nicht nur pulverisieren oder in Flammen aufgehen lassen, sondern auch etliche gesunde und kräftige junge Männer und Frauen zum Krüppel schießen, vornehmer ausgedrückt, sie in Kriegsversehrte an Leib und Seele verwandeln. Wie vice versa die vermutlich unzulänglicher ausgerüstete russische Soldateska, geht ihr die Munition aus, gegnerische Kämpfer nicht nur mit dem Vorschlaghammer schlagartig erledigt, sondern bei Fehlschlägen einige von ihnen auch zu lebenslänglichen Invaliden macht. Ich finde, bei so viel hemmungslosem realpolitischem Gequatsche wie dieser Tage, ist meine bescheidene „realmilitärische“ oder besser kriegsrealistische Klartextabschweifung abschließend einfach fällig gewesen.