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Freiheitsentziehung in der Pflege älterer Menschen

Schlängellinie mit Pfeil
Freiheitsentziehende Maßnahmen
Foto: Julia Lippert

Berlin (kobinet) Freiheitsentziehende Maßnahmen sind in der Pflege älterer Menschen (leider) Routine. Oft führen Unkenntnisse der rechtlichen Bestimmungen und Ängste vor Haftungsfragen der Pflegenden zum unrechtmäßigen Einsatz von unfreiwilligen Maßnahmen. Als Rechtfertigung wird nicht selten die Schutzverpflichtung herangezogen, dies obwohl eine schädige Wirkung fixierender und sedierender Vorgehensweisen bereits wissenschaftlich belegt ist.

Mittel des Freiheitsentzugs

Um älteren Menschen ihre grundrechtlich geschützte (Fortbewegungs-)Freiheit einzuschränken, bedarf es oft nur geringfügiger Mittel. Maßnahmen wie: die Wegnahme von Brillen, Schuhen, Kleidung, Schlüsseln oder Gehhilfen, das Feststellen von Rollstuhlrädern und das Anheben von Bettseitenwänden, schränken die Freiheit bereits erheblich ein. Darüber hinaus hindern Vorrichtungen an Stühlen oder Betten, Körpergurte oder entsprechende Befestigungen an Therapietischen sowie sedierende Medikamente (z.B. Schlafmittel und Psychopharmaka) ältere Menschen daran, ihre grundrechtlich garantierten Freiheitsrechte auszuüben. Etwa die Hälfte aller Heimbewohner*innen in der BRD erhalten mindestens ein Psychopharmakon. [1]

Zudem berichtete die Nationale Agentur zur Verhütung von Folter 2019, dass in Wohneinrichtungen der Altenpflege häufig Türen oder Aufzüge mit Tapeten abgedeckt, Türgriffe in ungewöhnlichen Positionen angebracht oder Druckknöpfe zum Öffnen von Türen, die für Rollstuhlfahrer*innen nicht barrierefrei sind, verwendet werden. [2]

Gesetzliche Grundlagen der Freiheitsentziehung

Nach deutschem Recht gelten die oben genannten Maßnahmen als „freiheitsentziehende Maßnahmen“ und bedürfen, sofern sie nicht in einer Patientenverfügung geregelt sind, einer gerichtlichen Anordnung. Ein Freiheitsentzug ist gegeben, wenn eine Person gegen ihren Willen für eine bestimmte Zeit in einem räumlich abgegrenzten Bereich festgehalten wird und der Kontakt zu Personen außerhalb eingeschränkt ist. Freiheitsentziehende Maßnahmen gelten als strafbare Freiheitsberaubung (§ 239 StGB) und sind schwerwiegende Eingriffe in die persönliche Freiheit. Sie sind daher der gerichtlichen Unterbringung in der Schwere des Eingriffs gleichgestellt, werden deshalb auch als „unterbringungsähnliche Maßnahmen“ bezeichnet und in §1831-E Abs. 4 BGB (freiheitsentziehende Maßnahmen) geregelt.

Die durch das Grundgesetz garantierte persönliche Freiheit für alle Menschen ist ein hohes Gut („Die Freiheit einer Person ist unverletzlich.“ – Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) und jede Einschränkung bedarf einer gesetzlichen Grundlage („In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“ – Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG). So sind in der Praxis verbreitete hausinterne Fixierungsrichtlinien, in der Regel Dienstanweisungen ohne Gesetzesqualität, keine Rechtfertigung für freiheitsentziehende Maßnahmen. Auch nur mündlich erteilte Einwilligungen des Betroffenen sind rechtlich nicht zulässig. [3]

Der Rückgriff auf den rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB) ist nur in einer individuellen Notsituation zur Abwendung einer konkreten Gefahr für den Betroffenen zulässig. Der Notstand rechtfertigt lediglich kurzfristige und einmalige freiheitsentziehende Maßnahmen. Denn das Grundgesetz (Art. 104 Abs. 2 GG) sieht vor, dass über regelmäßige bzw. auf Dauer angelegte freiheitsentziehende Maßnahmen ein*e Richter*in entscheiden muss. [4]

Freiheitsentziehende Maßnahmen im ambulanten Kontext

Die Gesamtzahl der über 65-Jährigen, die 2021 in Deutschland Pflegeleistungen erhielten, liegt bei 76,3 %. Davon befanden sich 4 von 5 Personen in der ambulanten Pflege und 1 von 5 Personen in der stationären Pflege. [5]

Gesonderte gesetzliche Regelungen zur Zulässigkeit freiheitsentziehender Maßnahmen im häuslichen oder ambulanten Bereich gibt es nicht. Da der Anteil der zu Hause gepflegten älteren Menschen aber sehr hoch ist, ist von einer hohen Zahl von (unrechtmäßigen) freiheitsentziehenden Maßnahmen in der häuslichen Pflege auszugehen, die ggf. einen Straftatbestand darstellen. Warum ist dieselbe Maßnahme in einer Einrichtung [6] genehmigungspflichtig, nicht aber im Rahmen der häuslichen oder familiären Pflege?

„Bis heute ist die Diskussion über das Thema freiheitsentziehende Maßnahmen in der rein häuslichen Pflege nicht abgeschlossen.“ [7] Sobald die Zulässigkeit von Grundrechtseingriffen gesetzlich geregelt ist, wird damit auch die Durchführung der Maßnahmen, unter den gesetzlich geregelten Bestimmungen, rechtmäßig. Das sollte nicht vergessen werden. Eine gesetzliche Regleung würde auch immer eine Legitimation bedeuten. Die derzeitige gesetzliche Lage bestimmt, das freiheitsentziehende Maßnahmen durch Angehörige als Freiheitsberaubung nach §239 StGB anzusehen sind. [8]

Gründe für freiheitsentziehende Maßnahmen bei älteren Menschen

Als Gründe für freiheitsentziehende Maßnahmen bei älteren Menschen gelten unter anderem die Verringerung des Sturzrisikos und die Vermeidung von (Selbst-)Gefährdungen. [9] Auf diese Weise versuchen Beschäftigte und Betreuer*innen, auch mögliche Haftungsschäden zu vermeiden.

„Die Praxis zeigt (allerdings), dass häufig durchgeführte freiheitsentziehende Maßnahmen das Sturzrisiko erhöhen, da wegen der verminderten Bewegung der Muskelabbau beschleunigt wird oder das Gleichgewichtsgefühl leidet. Gleiches gilt für Sedierungen. Auch hier kann sich das Sturzrisiko erhöhen durch die bewusstseinsdämpfende Wirkung der Mittel.“ [10]

Auch die Unkenntnis alternativer Maßnahmen, der Mangel an geschultem Pflegepersonal, der so genannte „gute Wille“ [11] und die Routinisierung bewährter Methoden der Bewegungseinschränkung [12] spielen eine entscheidende Rolle. Dabei können Signalsysteme Gefahren vorgebeugen und durch Niedrigflurbetten oder Ultraniedrigbetten Stürze verhindert werden. Die evidenzbasierte Praxisleitlinie „Vermeidung von freiheitseinschränkenden Maßnahmen in der beruflichen Altenpflege“ stellt eine Reihe von Mitteln vor, die massive Eingriffe in die grundgesetzlich garantierte (Fortbewegungs-)Freiheit ersparen. [13]

Fehlende Daten

„Es gibt keine exakten Fallzahlen zu der Frage, wie oft im häuslichen Bereich freiheitsentziehende Maßnahmen durch Angehörige durchgeführt werden. In der Regel gelangen derartige Fälle – anders als im stationären Bereich – nicht an die Öffentlichkeit, so dass nach dem Motto „wo kein Kläger, da kein Richter“ nur wenige Gerichtsurteile vorliegen, auf die als Orientierungsmaßstab zurückgegriffen werden könnte.“ [13a]

Vergleichbare, bundesweite Statistiken über freiheitsentziehende Maßnahmen gibt es nicht, weder im klinischen noch im ambulanten Kontext. [14] Der Menschenrechtsbericht des Menschenrechtsinstituts 2021 hält außerdem fest, dass zudem die verfügbaren Zahlen zu Betreuungen in der BRD nicht mehr aktuell sind. Im Jahr 2015 standen rund 1.280.900 Menschen unter gesetzlicher Betreuung. Für 2016 und die Folgejahre sind keine bundesweiten Zahlen mehr verfügbar. Deutschland ist allerdings verpflichtet, Daten zu erheben, die zur Umsetzung und Kontrolle der Einhaltung der Menschenrechte genutzt werden können (Art. 31 UN-BRK). [15]

Mögliche Strategien für die Zukunft

In der Broschüre von BIVA e.V., die sich an Betroffene sowie Angehörige, rechtliche Betreuer*innen, Vorsorgebevollmächtigte, aber auch Pflegende richtet, werden 4 hauptsächliche Gründe benannt, die eine flächendeckende Umsetzung von Maßnahmen – die nicht die (Bewegungs-)Freiheit einschränken – verhindern:

  1. fehlendes Unrechtsbewusstsein: „Es geht wohl nicht anders, es muss wohl so sein.“ Diese Haltung findet sich sowohl bei den Pflegenden, als auch bei den Betroffenen und ihren Angehörigen. Das Wissen, dass freiheitsentziehende Maßnahmen einen schweren Eingriff in Grund- und Menschenrechte bedeuten, fehlt. „Unnormalem oder gefährdendem“ Verhalten mit Gewalt zu begegnen, wird als Schutzmaßnahme definiert.
  2. potentielle Sturzgefahren werden als Notstandssituationen gewertet: Nicht die begünstigenden Faktoren von Stürzen werden berücksichtigt und verhindert, sondern die möglichen Folgen freier Beweglichkeit prophylaktisch bekämpft.
  3. Beförderung des „fürsorglichen Zwang“: Haftungsängste vor den Sicherheitserwartungen der Angehörigen und potentielle Regressforderungen der Kostenträger, führen zu Verunsicherung beim den Pflegenden und zu unnötigen Eingriffen in Freiheitsrechte der Betroffenen.
  4. Das Fehlen einer gesellschaftlichen und pflegefachlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Gewaltanwendung und Gewaltprävention.

Die Vorschläge der BIVA e.V. für eine Veränderung des Versorgungssystems, konzentrieren sich auf folgende Punkte:

  • Offenheit und Ideenreichtum
  • Verbesserung der Lebensumgebung der Betroffenen (Beseitigung baulicher und architektonischer Mängel, Verhinderung von Reizüberflutung, Anpassung der Tagesstrukturierung an individuelle Gewohnheiten, angemessene Kommunikationsformen, kein „Druck“ aufbauen durch Konfrontieren oder Fordern)
  • die Haltung der Pflegekräfte (regelmäßiges Üben von Sturzprophylaxe, Erkennen und Einschätzen von Alternativen, Relativierung der Haftungsängste, Deeskalationstrainings)

Und so schließt die Broschüre mit einem Appell zu mehr Partizipation als wegweisend für eine Veränderung der Versorgungsstrukturen:

„Die Diskussion darf aber nicht in den Fachkreisen halt machen. Eine Erörterung der Problematik mit den (künftig potentiell) Betroffenen und ihren Angehörigen ist ebenso wichtig. Nur aufgeklärte Mitbewohner und Angehörige können Lösungen aus dem Spannungsverhältnis zwischen Haftungsrisiken und dem Sicherheitsbedürfnis einerseits und den Freiheitsrechten andererseits finden.“ [18]

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[1] Pflege-Report 2017 „Die Versorgung der Pflegebedürftigen“, Klaus Jacobs / Adelheid Kuhlmey / Stefan Greß / Jürgen Klauber / Antje Schwinger (Hrsg.), 2017, S. 119: https://www.wido.de/fileadmin/Dateien/Dokumente/Publikationen_Produkte/Buchreihen/Pflegereport/2017/Kapitel%20mit%20Deckblatt/wido_pr2017_kap11.pdf [2] Nationale Stelle zur Verhütung von Folter, Jahresbericht 2019, S. 61: https://www.nationale-stelle.de/fileadmin/dateiablage/Dokumente/Berichte/Jahresberichte/Jahresbericht_2019_Nationale_Stelle.pdf [3] Nationale Stelle zur Verhütung von Folter, Jahresbericht 2019, S. 60: https://www.nationale-stelle.de/fileadmin/dateiablage/Dokumente/Berichte/Jahresberichte/Jahresbericht_2019_Nationale_Stelle.pdf [4] Freiheitsentziehende Maßnahmen in der Pflege (2018): https://www.anwalt.de/rechtstipps/freiheitsentziehende-massnahmen-in-der-pflege_144453.html [5] Der Anteil der ambulant versorgten Personen verändert sich mit dem Alter, aber bei den über 90-Jährigen werden immer noch zwei Drittel aller Pflegebedürftigen ambulant versorgt. Bundesministerium für Gesundheit: Soziale Pflegeversicherung Leistungsempfänger nach Altersgruppen und Pflegegraden am 31.12.2020: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Statistiken/Pflegeversicherung/Leistungsempfaenger/31.12.20_Leistungsempfaenger-nach-Altersgruppen-und-Pflegegraden-insgesamt_bf.pdf [6] Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch gelten „Krankenhäuser, Heime und sonstige Einrichtungen“ als Einrichtungen in denen freiheitseinschränkende Maßnahmen gestattet sind (ab 2023: § 1831 BGB Abs. 4). Zu den „sonstigen Einrichtung“ zählen alle Arten von Alters- und Pflegeheimen auch betreute Wohngruppen und ähnliche Einrichtungen. Als Freiheitsentzug gilt, wenn: „(…) durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder auf andere Weise über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig die Freiheit entzogen (…)“ wird (ab 2023: § 1831 BGB Abs. 4). [7] Freiheitsentziehende Maßnahmen: Gratwanderung zwischen Schutz und Freiheit – Voraussetzungen freiheitsentziehender Maßnahmen im stationären und ambulanten Bereich, BIVA e.V. (2015), S. 48: https://www.biva.de/dokumente/broschueren/Freiheitsentziehende-Massnahmen.pdf [8] Ebd., S. 47 [9] Ebd., S. 26ff, siehe auch: FEM: Was sind freiheitsentziehende Maßnahmen?: https://www.pflege-gewalt.de/wissen/freiheitsentziehende-massnahmen/ [10] Freiheitsentziehende Maßnahmen: Gratwanderung zwischen Schutz und Freiheit – Voraussetzungen freiheitsentziehender Maßnahmen im stationären und ambulanten Bereich, BIVA e.V. (2015), S. 54f: https://www.biva.de/dokumente/broschueren/Freiheitsentziehende-Massnahmen.pdf, siehe auch: FEM: Was sind freiheitsentziehende Maßnahmen?: https://www.pflege-gewalt.de/wissen/freiheitsentziehende-massnahmen/ und Evidenzbasierte Praxisleitlinie Vermeidung von freiheitseinschränkenden Maßnahmen in der beruflichen Altenpflege (2015), S. 40: http://www.leitlinie-fem.de/download/LL_FEM_2015_Auflage-2.pdf [11] Bettengitter und Fixiergurte in Kliniken – Muss das sein? (2021): https://www.kma-online.de/aktuelles/medizin/detail/bettengitter-und-fixiergurte-in-kliniken-muss-das-sein-a-46021 [12] Evidenzbasierte Praxisleitlinie Vermeidung von freiheitseinschränkenden Maßnahmen in der beruflichen Altenpflege (2015), S. 24f: http://www.leitlinie-fem.de/download/LL_FEM_2015_Auflage-2.pdf [13] Ebd. [13a] Freiheitsentziehende Maßnahmen: Gratwanderung zwischen Schutz und Freiheit – Voraussetzungen freiheitsentziehender Maßnahmen im stationären und ambulanten Bereich, BIVA e.V. (2015), S. 47: https://www.biva.de/dokumente/broschueren/Freiheitsentziehende-Massnahmen.pdf [14] Mit Ausnahme eines Registers auf gesetzlicher Grundlage in Baden – Württemberg (§ 10 (3) PsychKHG, umgesetzt 2015), das nur Krankenhäuser, nicht aber ambulante Einrichtungen oder Einrichtungen für ältere Menschen erfasst: https://www.bw-melderegister.de/ [15] Deutsches Institut für Menschenrechte (2021): Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland Juli 2020 – Juni 2021. Bericht an den Deutschen Bundestag gemäß § 2 Absatz 5 DIMRG. Berlin, S. 95: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/Redaktion/Publikationen/Menschenrechtsbericht/Menschenrechtsbericht_2021.pdf [16] Freiheitsentziehende Maßnahmen: Gratwanderung zwischen Schutz und Freiheit – Voraussetzungen freiheitsentziehender Maßnahmen im stationären und ambulanten Bereich, BIVA e.V. (2015), S. 68ff: https://www.biva.de/dokumente/broschueren/Freiheitsentziehende-Massnahmen.pdf