
Foto: lrina Tischer
Berlin (kobinet) Vor der Debatte und Beschlussfassung des Deutschen Bundestages für Regelungen im Falle einer Triage haben behinderte und nichtbehinderte Menschen am 10. November eine Schweigeminute vor dem Reichstag unter dem Motto "Jedes Leben ist gleich viel wert" abgehalten. Einige Behindertenverbände hatten im Gesetzgebungsverfahren immer wieder deutlich gemacht, dass der Gesetzentwurf trotz der Änderungsanträge menschenrechtlich bedenklich und letztendlich ein "Selektionsgesetz" zugunsten vermeintlich Fitter ist.
Mit einer Schweigeminute brachten die Teilnehmer*innen der Aktion hren Ärger und Protest über die geplanten Regelungen im Falle einer Triage vor dem Reichstag zum Ausdruck. Gegen 18:00 Uhr des 10. November findet die Debatte mit anschließendem Beschluss über die Änderung des Infektionsschutzgesetzes im Plenum des Bundestages statt. Dabei geht es vor allem darum, wie eine Nichtdiskriminierung im Falle von Triage-Situationen sichergestellt werden kann. Die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) und die LIGA Selbstvertretung hatten daher zu einer Aktion mit einer Schweigeminute 14:30 – 14:45 Uhr an der Westseite des Reichstags auf dem Rasen in Berlin eingeladen. Gekommen waren Vertreter*innen verschiedener Verbände und vier Bundestagsabgeordnete: Sören Pellmann von der Linksfraktion, Corinna Rüffer und Stephanie Aeffner von der Grünen und Hubert Hüppe von der CDU.
Das Vorhaben des Gesetzgebers, im Falle einer Triage-Entscheidung die im direkten Vergleich höchste „aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit“ zugrunde zu legen, beurteilen die erfolgreichen Beschwerdeführer*innen beim Bundesverfassungsgeicht als „Selektionsgesetz“. Nach Einschätzung des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMR) bedeute dies im Endeffekt nichts anderes, als die rechtlich vorgeschriebene bewusste Rettung der momentan jeweils Fittesten, also ein gesetzlich vorgesehenes „survival of the fittest“.
„Die Menschenwürde verbietet es jedoch, eine Abstufung oder Bewertung menschlichen Lebens zu legitimieren. Der Grundsatz der Gleichwertigkeit allen menschlichen Lebens – vor dem Hintergrund unserer jüngeren Geschichte eine der grundlegendsten Wertentscheidungen unseres Grundgesetzes – bedeutet: kurzes Leben darf nicht von Gesetzes wegen gegen langes Leben aufgewogen werden, fittes Leben nicht gegen schwaches, und viele Leben nicht gegen wenige. Das Bundesverfassungsgericht hat dies in verschiedenen Kontexten immer wieder hervorgehoben“, heißt es vonseiten des DIMR.
Niemand von den Bundestagsabgeordneten soll am Ende sagen können, dass behinderte Menschen und die Verbände diese vor einer solch weitreichenden und viel zu wenig diskutierten Entscheidung nicht gewarnt hätten. Eine breite Diskussion mit einem Abstimmungsverfahren ohne Fraktionszwang wäre bei einer solch tiefgreifenden ethischen Frage angesagt, statt einer 45minütigen Debatte mit anschließender Abstimmung über ein Thema, das die meisten Abgeordneten in ihrer Tiefe nicht kennen.
Bei den Kurzstatements der vier Bundestagsabgeordneten bei der Aktion wurde deutlich, dass es bei diesem Thema Aufklärungs- und Diskussionsbedarf in allen Fraktionen des Bundestages gibt. Daher werde das Thema auch nach der heutigen Entscheidung des Bundestages nach wie vor die Diskussion beherrschen.
Link zu Video-Statements zum Triage-Gesetz von vor dem Bundesverfassungsgericht erfolgreichen Beschwerdeführer*innen gegen Diskriminierungen im Falle einer Triage:
http://abilitywatch.de/2022/11/02/selektionsgesetz-fuer-deutschland/
Link zu Vorschlägen des Runden Tischs Triage zu alternativen Gesetzesformulierungen: