
Foto: Susanne Göbel
Berlin (kobinet) Was lange währt, wird nicht unbedingt gut. So kann man die Anhörung des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages zusammenfassen, bei der es am 19. Oktober vor allem von Vertreter*innen der Behindertenbewegung heftige Kritik am Gesetzentwurf zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes zur vom Bundesverfassungsgericht geforderten Nichtdiskriminierung behinderter Menschen im Falle einer Triage hagelte. kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul hat einige Stimmen im Nachgang der Anhörung eingefangen, die mittlerweile in die Mediathek des Bundestages eingestellt und nachverfolgt werden kann. "Es war schrecklich", so fasst beispielsweise Dr. Sigrid Arnade ihre Eindrücke von der Anhörung zusammen.
Dr. Sigrid Arnade, die für das NETZWERK ARTIKEL 3 an der Anhörung teilnahm und sich seit über zwei Jahren für Regelungen im Falle einer Triage einsetzt, durch die behinderte Menschen nicht diskriminiert werden dürfen, erklärte gegenüber den kobinet-nachrichten im Nachgang zur Anhörung: „Es war schrecklich: Deutlich wurde, dass die Mitglieder des Gesundheitsausschusses sich vor allem an medizinischen Fragestellungen abarbeiten und sie kaum Interesse an der Sicht behinderter Menschen, an der Verfassung sowie an menschenrechtlichen Gesichtspunkten haben. So wurden Fragen ähnlichen Inhalts immer wieder von verschiedenen Fragesteller*innen an immer wieder dieselben Personen gerichtet, die immer wieder ähnliche Antworten gaben. Aber Positionen, die gegen Grund- und Menschenrechte verstoßen, werden durch ständige Wiederholungen schließlich auch nicht verträglicher. Die awesenden Betroffenen wurden verglichen mit der Bundesärztekammer wenig befragt; das Deutsche Institut für Menschenrechte kam ganze 30 Sekunden lang zu Wort. Ich habe das als unwürdiges Schauspiel empfunden.“
H.-Günter Heiden, der als Koordinator des Runden Tisch Triage teilgenommen hat betonte: „Ich bin erschüttert über die Tendenz dieser Anhörung: Es haben wieder vorwiegend Mediziner*innen ÜBER Menschen mit Behinderungen geredet. Warum haben die Abgeordneten nicht die anwesenden Selbstvertretungsorganisationen befragt? Warum nicht die anwesenden Beschwerdeführer*innen? Warum wurde mit keinem Wort auf die alternativen Gesetzesvorschläge des Runden Tisches Triage eingegangen? Warum gaben manche Abgeordnete Steilvorlagen an die Ärzteschaft, sich für die Ex-Post-Triage stark zu machen? Der Gipfel war für mich, dass behauptet wurde, Menschen mit Behinderungen würden benachteiligt, wenn es keine Ex-Post Triage gebe. Ich mache mir große Sorgen, wie es mit diesem Gesetzentwurf weitergeht.“
Als Einzelsachverständiger hatte Prof. Dr. Oliver Tolmein, der die Beschwerdeführer*innen vor dem Bundesverfassungsgericht vertreten hatte, in der Anhörung klargestellt: „Das Bundesverfassungsgericht will im Kern, dass Diskriminierung verhindert wird. Das schafft der Entwurf nicht: es fehlen wirksame Verfahrensregelungen – und der Versuch das diskriminierungsträchtige Kriterium ‚Überlebenswahrscheinlichkeit‘ dadurch zu retten, dass man deklaratorisch versucht, Komorbiditäten von Behinderungen zu trennen und den unbestimmten Rechtsbgeriff ‚erheblich verringern‘ dazwischen zu zwängen, wird nicht funktionieren, weil es dafür keine Werte, keine Erfahrungen, keine evidenzbasierten Maßstäbe gibt. Was also tun: Bessere Verfahrensregelungen und ein realistischeres Zuteilungskriterium. ‚Medizinische Indikation‘ (selbstverständlich) plus Zeit (First come first serve) und dann möglichst rasch in der Situation weitere Kapazitäten schaffen – kein Königsweg, aber wenn man so vorgeht diskriminierungsfrei.“
Nancy Poser, Richterin aus Trier und eine der Beschwerdeführer*innen in Sachen Triage vor dem Bundesverfassungsgericht, die ebenfalls zur Anhörung geladen war, zog auf Twitter u.a. folgendes Resümee von der Anhörung: „Mein Fazit: Aktive Tötung der Schwächeren zugunsten der Stärkeren darf nicht die Lösung eines Dilemmas sein! Lasst den Mist mit der subjektiven Bewertung von Chancen und Wahrscheinlichkeiten, denn es geht um Menschenleben und kein Arzt ist Gott! Kein #Selektionsgesetz in Deutschland.“
„Was mich sehr geärgert hat war, dass die traditionellen Ärzteverbände wie die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und die Bundesärztekammer soviel gefragt wurden und deren Antworten einfach akzeptiert wurden, wie zum Beispiel Ex-Post-Triage sei wichtig und richtig und Randomisierung geht gar nicht. Das traditionelle medizinisch geprägte Bild von Behinderung steckt fest in den Köpfen. Die Partizipation von Behindertenverbänden war viel zu wenig gefragt und das Deutsche Institut für Menschenrechte durfte auch nicht viel beitragen. Das Bild, das diese Anhörung abgegeben hat, war meiner Meinung nach nicht demokratisch verteilt, sondern ziemlich einseitig.“ So fasst Dinah Radtke, die an der Entwicklung der UN-Behindertenrechtskonvention intensiv mitgearbeitet hat, ihre Eindrücke von der Anhörung zusammen.
Aus den Reihen der Ausschussmitglieder ist den kobinet-nachrichten ein Statement des Bundestagsabgeordneten der CDU, Hubert Hüppe, zur Anhörung zugegangen. Dieser schreibt u. a.: „Die gegensätzliche Beurteilung von Ex-Post-Triage durch medizinische Fachverbände auf der einen und Menschen mit Behinderungen auf der anderen Seite zeigt exemplarisch auf, wie die Einbeziehung Betroffener bei Entstehung des Gesetzentwurfs vernachlässigt wurde. Neben der Schmalspurigkeit des Entwurfs, der sich nur auf Triage bei Infektionskrankheiten richtet, wurde auch die fehlende Absicherung der geplanten Vorschriften durch Bußgeld- und Strafvorschriften gerügt. Die Anhörung hat derart viele Mängel und Schwächen aufgezeigt, dass ein Zurückziehen des Gesetzentwurfes und die Vorlage eines überzeugenden neuen Entwurfes die beste Lösung wäre.“