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Strukturen von damals heute in ähnlicher Form in Einrichtungen vorhanden

Günther Jesumann
Günther Jesumann
Foto: privat

Kiel (kobinet) Günther Jesumann hat als Unabhängiger Beauftragter für Menschen in Schleswig-Holstein, die als Kinder oder Jugendliche Leid und Unrecht in staatlichen, kirchlichen oder privaten Einrichtungen erfahren haben, klare Worte, wenn es um die Aufarbeitung des Unrechts und Leids geht, das Kinder und Jugendliche auch in Behinderteneinrichtungen und in der Psychiatrie erleben mussten. "Man wird das Gefühl nicht los, dass hier auf Zeit gespielt wird – bis die letzten Betroffenen nicht mehr leben", kritisiert er u.a. das zögerliche Handeln bei der Aufarbeitung des Unrechts im Interview mit kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul. Und er mahnt: "Die Strukturen von damals sind heute in ähnlicher Form wieder vorhanden."

kobinet-nachrichten: Wie kam es dazu, dass Sie zum unabhängigen Beauftragten für ehemals als Kinder und Jugendliche untergebrachte Personen in Schleswig-Holstein berufen wurden? Und wo wurde diese Stelle genau angesiedelt?

Günther Jesumann: Ich gehöre einem regionalen Beirat der Stiftung Anerkennung und Leid in Schleswig-Holstein an, die es in keinem anderen Bundesland gibt. Als die Frage aufkam, wer die zweitägige Veranstaltung der Betroffenen im Kieler Landtag 2019 moderieren sollte, bot ich als gelernter Journalist und Moderator meine Hilfe an. Diese zwei Tage haben mich für das Thema unheimlich stark eingenommen und betroffen gemacht. Im Gespräch mit dem Sozialminister Dr. Heiner Garg wurde klar, dass die Betroffenen eine unabhängige Institution als Unterstützung und als Stärkung ihrer Stimme benötigten, insbesondere gegenüber Behörden und Verantwortungsträgern wie Staat und Kirchen. Er fragte mich, ob ich mir eine solche Aufgabe vorstellen konnte. Nach kurzer Überlegung und nach Gesprächen mit den Betroffenen-Vereinigungen habe ich zugesagt. Aus diesem Gespräch wurde dann auf meinen Wunsch die Bezeichnung „Unabhängiger Beauftragter des Sozialministers“ gewählt, um nach außen zu erklären, dass es bei meiner Tätigkeit keine Abhängigkeit gegenüber irgendjemanden gibt.

Es ist eine ehrenamtliche Arbeit, die auf drei Jahre mit einer Aufwandsentschädigung von 750 Euro pro Monat vertraglich vereinbart wurde. Zu jeder Sitzung des regionalen Beirates habe ich einen Bericht meiner Arbeit zur Diskussion vorgetragen. Der Etat wurde im Sozialministerium geführt. Hier gab es eine Mitarbeiterin im Sozialministerium für mich als Ansprechpartnerin, die jedoch noch mit vielen anderen Aufgaben beschäftigt ist. Neben dem zu versteuernden Aufwand gab es eine eigene Mobilnummer, ein Mobiltelefon, einen Laptop und eine eigene Mailadresse vom Sozialministerium gestellt.

kobinet-nachrichten: Gibt es solche Beauftragte auch in anderen Bundesländern bzw. auf Bundesebene oder ist Schleswig-Holstein hier einzigartig?

Günther Jesumann: Ein solche Stelle als Unabhängiger Beauftragter für ehemals als Kinder und Jugendliche untergebrachter Personen gibt es meines Wissens in keinem anderen Bundesland. Schleswig-Holstein war und ist sich als Land seiner Verantwortung gegenüber den ehemaligen Opfern aus der Vergangenheit bewußt.

kobinet-nachrichten: Welche Themen bzw. Anfragen wurden bzw. werden an Sie herangetragen und welche Handlungsmöglichkeiten haben Sie?

Günther Jesumann: Am Anfang gab es viele Telefonanrufe von ehemaligen Heimkindern, deren Verwandte oder ehemalige Mitarbeiter mit vielen Berichten. Hier musste ich zuhören. Nach kurzer Zeit stellte sich heraus, dass neben vielen bisherigen sich nicht gemeldeten Betroffenen aus der Zeit zwischen 1948 und 1975 sich auch Personen meldeten, die aktuelle Probleme mit ihren derzeitigen Heimen hatten. Daneben gab es auch Menschen, die als Jugendliche kinderlandverschickt worden waren und dabei ebenfalls schreckliches Leid erfahren hatten. Die generellen oder individuellen Probleme mit ärztlichen Gutachtern, Behördenvorgängen, Jugendämtern, Gerichten, Trägern von Heimen, Auseinandersetzungen und Diskussionen mit Verantwortungsträgern wie Pharmafirmen, kirchlichen Institutionen und privaten Trägern waren ständig auf der to-do-Liste.

Meine Handlungsmöglichkeiten umfassen die Nutzung meines in mehr als 50 Jahren angeeigneten Netzwerkes, meines Ideenreichtums, meine Art mit Menschen, ob Verantwortungsträger oder Betroffener, vertrauensvoll, offen und ehrlich zu kommunizieren. Bei nicht allen Anfragenden konnte ich die Probleme lösen. Bei einigen generellen Themen habe ich versucht, in der Politik oder in den Verwaltungen Lösungswege anzuregen. Das ist ein laufender Prozeß, der leider nicht von alleine zu Ende geht.

Und für mich steht fest, dass noch immer Leid und Unrecht jungen Menschen in Heimen geschieht. Meist ist die Rendite wichtiger als das Kindeswohl.

kobinet-nachrichten: Menschen, die in Einrichtungen der Behindertenhilfe bzw. Psychiatrie Unrecht und Leid erfahren mussten, wurde ja erst wesentlich später die Anerkennung des erlebten Unrechts und Leids durch die Errichtung der Stiftung Anerkennung und Hilfe ermöglicht. Welche Erfahrungen haben Sie in diesem Bereich gemacht?

Günther Jesumann: Die lange Zeit des Nichthandelns, des Nichtreagierens von Staat und den Verantwortungsträgern, das Abstreitens jeglicher Verantwortung hat das Vertrauen in Politik, zu Kirchen, Unternehmen und in staatliches Handeln fast auf den Nullpunkt reduziert. Das ist das Ergebnis vieler Gespräche mit ehemaligen Betroffenen. Die Stiftung hat mit Geld versucht, alles zu verdrängen, aber den Zugang erheblich erschwert. Öffentlichkeitsarbeit ist so gut wie nicht gemacht worden. Man wird das Gefühl nicht los, dass hier auf Zeit gespielt wird – bis die letzten Betroffenen nicht mehr leben. In Schleswig-Holstein ist es gelungen, wieder miteinander zu reden. Die Betroffenenvereine forderten Aufarbeitung und ebenso stark auch, dass dies nie wieder passieren darf. Die historische Aufarbeitung ist mit der Universität Lübeck und dem Team von Professor Dr. Cornelius Borck gut gelungen. Dabei ist das Zeitfenster bis in die neunziger Jahre erweitert worden. Dem Verein der ehemaligen Heimkinder in Schleswig-Holstein ist es sogar auch gelungen, bei Aktionärsversammlungen der Bayer AG die Vergangenheit anzusprechen und auch die Archive für ehemalige Opfer zu öffnen.

Die Stiftung hat ja auch eine Aufarbeitung versucht, aber das sollte wohl nur ein Feigenblatt werden, damit dieses Thema von den Verantwortungsträgern zu den Akten gelegt werden kann. Auch der Versuch einer Erinnerungskultur hilft leider nicht weiter, wenn es nicht ehrlich gemeint ist und das glauben viele Opfer nach wie vor. Eine vernünftige Rentenregelung hat es zwar für die ehemaligen DDR-Opfer, aber nicht für Betroffenen aus der alten Bundesrepublik gegeben!

kobinet-nachrichten: Die Antragsfrist bei der Stiftung Anerkennung und Hilfe ist ja mittlerweile abgelaufen. Wie schätzen Sie diese Situation ein und gibt es in Schleswig-Holstein noch andere Möglichkeiten?

Günther Jesumann: Genau bei diesem Thema hat uns die Wut gepackt und wir haben in Schleswig-Holstein einen gemeinsamen Appell an die Stiftungsträger gesandt, doch die Arbeit nicht einzustellen. Obwohl die Pandemie weit über zwei Jahre fast jegliche Recherche nach ehemaligen Betroffenen unmöglich gemacht hatte, wurde nur ein halbes Jahr verlängert. Da fühlt man sich nicht nur auf den Arm genommen. Die Politiker des Schleswig-Holsteinischen Landtages haben sich stark gemacht für einen eigenen landeseigenen Hilfs-Fond und ihn im Landtag beschlossen. So wird seit diesem Jahr bis 2030 weiter nach ehemaligen Heimkindern geforscht, gibt es doch die Möglichkeit aufgrund der historischen Dokumentation und des nachgewiesenen Medikamentenmissbrauchs überall neue Ansätze. Diesen Fonds soll ein neuer Beirat begleiten, dessen Zusammenstellung derzeit noch diskutiert werden muss, aber vorbereitet wird. Die Fehler der bundesweiten Stiftung in der Zusammensetzung des Beirates werden nicht wiederholt. Das ist unser Ziel. Und dieser Beirat soll hoffentlich als eine Art Beschwerdeinstitution, unabhängig und mit eigener Öffentlichkeitsarbeit ausgestattet sein.

kobinet-nachrichten: In Ihrem Amt haben Sie viele sogenannte „Einzelschicksale“ erlebt. Welche strukturellen Erkenntnisse bzw. Konsequenzen ergeben sich aus Ihrer Sicht daraus?

Günther Jesumann: Erlebt habe ich sie nicht, aber mir wurden sie geschildert, berichtet und die Dokumentationen beschreiben die ungeheuerlichen Menschenrechtsverletzungen. Die ehemaligen Betroffenen haben große Sorgen nun im Alter wieder in die Heime zu kommen, wo sie misshandelt oder missbraucht wurden.

Die Strukturen von damals sind heute in ähnlicher Form wieder vorhanden. Personalmangel, nicht ausreichend ausgebildete Fachkräfte, die Aufsicht ist nicht klar geregelt, die Jugendämter sind teilweise überfordert, die Gerichte sind mit Juristen ohne besondere Ausbildung in sozialen Dingen oder mit Praktika in solchen Heimen besetzt. Die Juristen- und Ärzteausbildung hat das Kindeswohl nicht im Fokus. Die Behandlungsmethoden speziell in der Kinder- und Jugendpsychiatrie haben sich glücklicherweise geändert. Die damals ohne Einwilligung getesteten Medikamente werden den Kindern und Jugendlichen immer noch verabreicht, nicht immer mit Zustimmung.

Die Nähe zwischen den Heimbetreibern und den Jugendämtern ist seit langer Zeit gewachsen, nicht immer zum Wohl der Kinder. Kontrollfunktionen sind schwach geregelt, Aufsichten bewegen sich erst sehr spät, manchmal zu spät,

Die rechtliche Vertretung und die Beteiligung der betroffenen Kinder, die Anhörung von beteiligten, meist zerstrittenen Eltern, die Einbindung der Lehrer ist bei uns in der Bundesrepublik immer noch nicht überall Standard.

kobinet-nachrichten: Wenn Sie zwei Wünsche bzw. Initiativen wählen könnten, welche wären dies in diesem Bereich?

Günther Jesumann: 1. Kinderrechte in unserem Grundgesetz fixieren! 2. Jede Bürgerin oder jeder Bürger sollte viel mehr für das Kindeswohl in Familien, bei Alleinerziehenden, im Alltag, in unserer Gesellschaft machen, damit wir solche Heime überhaupt nicht benötigen!

Als ich in Gesprächen mit der Heimaufsicht Ihre Frage nach dem Wunsch stellte, kam ohne Überlegung die Antwort: Weg mit der Renditesucht der Betreiber!

kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.

Link zu weiteren Infos zur Arbeit von Günther Jesumann als Unabhängiger Beauftragter

In diesem Zusammenhang ist auch das kobinet-Interview mit Hans-Christoph Mauer mit dem Titel „Ausgrenzung durch selbstverständliche Teilhabe überwinden“ interessant.

Link zum Interview mit Hans-Christoph Maurer vom 15. Juli 2022