
Foto: privat
Kassel (kobinet) Hans-Christoph Maurer ist nicht nur in der Stiftung Anerkennung und Hilfe aktiv, die sich mit dem Unrecht und Leid befasst, das behinderte Menschen in Einrichtungen der Behindertenhilfe und Psychiatrie erleben mussten. Als Vorstand hat er auch bis 2014 22 Jahre die Geschicke der Nieder-Ramstädter Diakonie geprägt und deren Dezentralisierungsprozess entscheidend vorangetrieben. kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul führte mit Hans-Christoph Maurer ein Interview, in dem es u.a. um die Gedenkkultur in Sachen Anerkennung des Unrechts und Leids, das behinderte Menschen erleben mussten, aber auch um den aussondernden Charakter und die Reformbedürftigkeit von Behinderteneinrichtungen geht. Ausgrenzung kann nach Ansicht von Hans-Christoph Maurer am besten durch selbstverständliche Teilhabe überwunden werden.
kobinet-nachrichten: Wir möchten beginnen mit einer allgemeinen Frage: wie sehen Sie die Situation von Menschen mit Beeinträchtigungen in unserer Gesellschaft? Können Sie Aussagen machen zum Inklusionsbegriff im Zusammenhang mit der Existenz vieler Großeinrichtungen der Behindertenhilfe in unserem Land?
Hans-Christoph Maurer: Eine Vielzahl von Menschen mit Beeinträchtigungen muss bei uns nach wie vor ein Dasein eher am Rande der Gesellschaft führen. Denken Sie nur an die zahlreichen Sondereinrichtungen (Werkstätten, Sonderschulen, Wohnstätten usw.). Ich formuliere es mal provokativ: Immer noch zentral organisierte Großeinrichtungen sollten sich fragen, ob sie auch noch heute als „Totale Institution“* zu gelten haben (Erving Goffman, kanadischer Soziologe 1922-1982). Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein Zitat von Bertolt Brecht bemühen: „Der reißende Fluss wird gewalttätig genannt. Aber das Flussbett, das ihn einengt, nennt keiner gewalttätig“ („Über die Gewalt“; um 1936). Gemeint ist das Leiden unter den teilweise noch immer vorzufindenden zentralen Einrichtungsstrukturen, gemeint ist die Erkenntnis, dass die sogenannten „Dienstleister“ in den Einrichtungen gar keine sind und dass Klientenwünsche als Störung langjährig vertrauter Abläufe verstanden werden.
Auf diesem Hintergrund halte ich das ständige Gerede von „Inklusion“ für zynischen Euphemismus und mit der Lebensrealität von sehr vielen Menschen mit Beeinträchtigung nicht vereinbar. Wir sollten diesbezüglich wahrhaftig sein: nicht mal das Ziel der Integration ist auch nur annähernd erreicht worden.
Erst wenn wir es schaffen, Menschen mit Beeinträchtigung tatsächlich und selbstverständlich als Teil der Gesellschaft unter umfassend verstandener Barrierefreiheit zu begreifen, werden wir Ausgrenzung überwinden und dann irgendwann in der Zukunft von Inklusion reden können. Aber heute sind wir leider noch weit davon entfernt.
(* „Eine totale Institution lässt sich als Wohn- und Arbeitsstätte einer Vielzahl ähnlich gestellter Individuen definieren, die für längere Zeit … ein abgeschlossenes, formal reglementiertes Leben führen“. Goffman, 1973)
kobinet-nachrichten: Sie selbst haben die Geschicke einer zentralen Großeinrichtung der Behindertenhilfe (sowie Alten- und Jugendhilfe) viele Jahre geprägt – die Nieder-Ramstädter Diakonie bei Darmstadt. Welche Position hatten Sie dort inne und was mussten behinderte Menschen dort früher erleben?
Hans-Christoph Maurer: Bis Ende 2014 war ich 22 Jahre Vorstand der Nieder-Ramstädter Diakonie (NRD). Die Nieder-Ramstädter Diakonie unterschied sich in Bezug auf die Lebens- Wohn- und Arbeitsbedingungen der Klienten in keiner Weise von anderen Einrichtungen. In der Zeit der NS-Diktatur wurden etwa 450 Bewohnerinnen und Bewohner Opfer des zynisch als „Euthanasie“ bezeichneten Massenmordes, der damals auf dem ideologischen Hintergrund der sogenannten „Rassenhygiene“ verübt wurde. In der Zeit nach Ende des Krieges bis etwa in die 80er-Jahre war die Einrichtung geprägt von Großheimen, und weithin unzureichenden Wohnbedingungen. Nicht wenige Alltagserlebnisse vieler Klienten mussten als Bedrohung, Freiheitsberaubung, Nötigung u.ä. qualifiziert werden. Man kann sagen, dass die Bewohner*innen über lange Zeit dem Regiment der Heime weitgehend schutz- und rechtlos ausgeliefert waren.
kobinet-nachrichten: Wir kommen nochmal auf Ihre Ausführungen zur „Totalen Institution“ zurück. Als ehemaliger Verantwortlicher einer zentralen Großeinrichtung sehen Sie diese ja sehr kritisch.
Hans-Christoph Maurer: Ja, das ist so. Gerade auf dem Hintergrund meiner Erfahrungen stelle ich Fragen: Warum gibt es einen „Sonder“-Arbeitsmarkt – die Werkstätten für behinderte Menschen (WfBM)?, Warum gibt es „Sonder“-Schulen (euphemistisch „Förderschulen“)?, Warum Wohnstätten, Heime, Pflegeheime? usw. Wir sind sehr gut im „Besondern“ von Menschen, die gar nicht so sehr anders sind als wir sogenannten „Normalbürger“. In unserer von Neoliberalismus geprägten Gesellschaft machen wir es uns mit den genannten Groß- und/oder Sonder-Einrichtungen für meine Begriffe zu leicht. Das ist vielleicht auch der Preis der Professionalisierung der Hilfe für Menschen, die einerseits bitter nötig ist, andererseits es uns als Gesellschaft ermöglicht, uns bequem zurückzulehnen: lass das mal die Profis machen … Es gibt Alternativen, da muss man nicht mal über die Grenzen schauen, denn auch bei uns haben sich Träger und Initiativen auf den Weg gemacht, weg von Groß- und Zentraleinrichtungen zu kleinteilig-individuell und auch nachbarschaftlich organisierten Unterstützungsprojekten.
kobinet-nachrichten: Was konnten Sie im Hinblick auf die Entwicklung einer Gedenkkultur in der Nieder-Ramstädter Diakonie anstoßen?
Hans-Christoph Maurer: Im Jahr 2000 haben wir auf dem (heute ehemaligen) Heimgelände ein Mahnmal errichtet, das von zwei Bildhauern (Kubach-Willemsen) geschaffen wurde. Die Skulptur zeigt ein aufgeschlagenes, gestürztes Buch; sinnbildlich dafür, dass die Namen aller NS-Opfer hier aufgezeichnet sind und damit nicht in Vergessenheit geraten. Das unterstreicht auch der dazugehörige Hinweis „Vergessen tötet“. Bei verschiedenen Anlässen im Jahr versammeln sich Menschen am Mahnmal zur Erinnerung an die ermordeten Heimbewohner*innen. In der dem Mahnmal benachbarten Kirche sind die Namen aller Getöteten aufbewahrt und einsehbar.
In Bezug auf das Gedenken an Leid und Unrecht nach Kriegsende komme ich nochmal auf meine Antwort auf den Begriff der „Totalen Institution“ zurück. Diese ist gekennzeichnet durch große und zentral organisierte Strukturen. Hier hat die Nieder-Ramstädter Diakonie Konsequenzen gezogen. Bis heute sind nahezu alle Großheime geschlossen (zum Teil abgerissen) zugunsten kleinerer Wohn- und Assistenzangebote im regionalen Umfeld. Die Zeit des Heime-Campus und damit der Zentralorganisation ist vorbei. Ich denke, bessere Schlüsse aus den jahrzehntelang unzureichenden Wohn- und Lebensbedingungen kann man eigentlich nicht ziehen.
kobinet-nachrichten: Sie haben selbst darauf hingewiesen: in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder der Psychiatrie der Bundesrepublik und der DDR haben viele Menschen auch nach dem 2. Weltkrieg erhebliches Leid und Unrecht erfahren müssen. Zur Anerkennung dieses Leids wurde die Stiftung Anerkennung und Hilfe geschaffen. Reicht das Ihrer Meinung aus? Sie sind ja selbst in der Stiftung aktiv.
Hans-Christoph Maurer: Ich denke, die Stiftung ist bedeutungsvoll in zweierlei Hinsicht. Erstens wird damit sozusagen von „offizieller Seite“ (Bund, Länder, Kirchen) das Thema aufgerufen und damit anerkannt, dass in unserem Land über Jahrzehnte hinweg Menschen Leid und Unrecht erfahren haben. Das besagt ja schon der Name der Stiftung. Zweitens geht es natürlich um Beratung und finanzielle Unterstützung der Betroffenen sowie um Rentenleistungen durch die Stiftung. Ihre Frage ob das ausreicht? Natürlich kann man sich höhere finanzielle Zuwendungen bzw. höhere Rentenleistungen vorstellen ebenso eine längere Laufzeit der Stiftung. Aber wir sollten den Blick weiten und uns vielmehr auf die Lebensbedingungen von Menschen mit Beeinträchtigung konzentrieren. Da gibt es noch sehr viel zu tun! Und da sind wir alle gefragt, insbesondere die Träger der Einrichtungen. Dazu habe ich ja Ausführungen gemacht.
kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.