
Foto: DIGAB
Freiburg (kobinet) Die Deutsche Interdisziplinären Gesellschaft für Außerklinische Beatmung (DIGAB) hat sich mit einem Positionspapier zur diskriminierungsfreien Triage zu Wort gemeldet und dies auf ihrer Internetseite veröffentlicht. Darauf machen Dinah Radtke und Dr. Maria Panzer aufmerksam.
Im folgenden veröffentlichen die kobinet-nachrichten das Fazit des Positionspapiers:
Die bereits stattfindende Triage im Gesundheitssystem – einschließlich der meist uneingestandenen „Triage vor der Triage“ – muss beendet werden. Hierzu gehören im stationären Bereich die adäquate Vergütung stationärer Behandlungen von Menschen mit schweren und schwersten Beeinträchtigungen sowie der systematische Kapazitätsausbau im Bereich von Zentren für Beatmungsentwöhnung und Einrichtungen der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation. Im ambulanten Bereich müssen regionale interdisziplinäre Behandlungsangebote für Menschen mit Tracheotomie und/oder Beatmung zum Beispiel im Rahmen von Medizinischen Zentren für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) etabliert werden. Auch die intersektorale Verknüpfung muss systematisch gefördert werden.
Natürlich besteht das vorrangige Gebot darin, durch eine angemessen ausgestattete Gesundheitspolitik zukünftige Triagesituationen, soweit irgend möglich, zu vermeiden. Wenn dies nicht gelingt und eine Triage faktisch unvermeidlich sein sollte, darf keine Diskriminierung aufgrund des Vorliegens von Behinderung stattfinden. Dies gilt für die besonders schwer beeinträchtigten Menschen mit Tracheotomie oder Beatmung in besonderem Maße. Das Kriterium der „Erfolgsaussicht“ ist als Grundlage von Triage-Entscheidungen mit der Problematik eines zu großen subjektiven Interpretationsspielraums behaftet, der sich in Bezug auf Menschen mit schwerer Beeinträchtigung zwangsläufig nachteilig auswirken muss. Durch den Referentenentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit vom 02.06.2022 wurde das Kriterium „aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit“ als Grundlage für Triageentscheidungen eingeführt, allerdings ohne dies näher zu definieren. Zudem verstößt dieses Kriterium gegen den ethischen Grundsatz der „Lebenswertindifferenz“, indem hier Menschenleben gegeneinander abgewogen werden (kobinet-Nachrichten 2022). Die besondere Herausforderung in Triagesituationen ist, dass medizinische und menschenrechtlich-ethische Fragen ineinandergreifen (Runder Tisch Triage 2022). Vom Bundesverfassungsgericht wurde dieses Risiko erkannt, und es erging eine Aufforderung an den Gesetzgeber, Triagesituationen diskriminierungsfrei zu regeln. Hierzu wurden vom Forum behinderter Juristinnen und Juristen in einer Stellungnahme zu den Empfehlungen der Fachverbände für den Fall einer Triage (FbJJ ohne Veröffentlichungsdatum) bereits als verfassungskonforme Kriterien vorgeschlagen:
– das Prioritätsprinzip (wer war zuerst da?)
– das Dringlichkeitsprinzip (wer braucht die Behandlung am notwendigsten?)
– das Zufallsprinzip
Zusammenfassend bedarf es dringend der Behebung der bereits stattfindenden Triage in Bezug auf Menschen mit schweren und schwersten Beeinträchtigungen. Die bereits bekannten Defizite im Bereich der ärztlichen Versorgung außerklinisch intensivpflichtiger Menschen sowie hinsichtlich der nicht ausreichenden Bettenkapazitäten spezialisierter Zentren muss behoben werden, damit schwere und schwerste Beeinträchtigung gar nicht erst eintritt oder – wenn eingetreten – wieder behoben wird. Der zukünftigen Umsetzung der Richtlinie zur außerklinischen Intensivpflege (AKI RK) kommt diesbezüglich hohe Bedeutung zu. Es sind Forschungsarbeiten erforderlich, die die Haltung ärztlichen, therapeutischen und pflegerischen Personals gegenüber diesen Patient*innen analysieren sowie die bereits bestehenden Triagesituationen im Gesundheitswesen exakt erfassen. Hieraus können Erkenntnisse gewonnen werden, wie im Rahmen von Aus Fort- und Weiterbildung der im Gesundheitswesen Tätigen bewusster und unbewusster Diskriminierung am effektivsten entgegengewirkt werden kann. Für die mögliche zukünftige Triagesituation im Rahmen der Covid-19-Pandemie sind mittlerweile rechtskonforme Empfehlungen veröffentlicht worden. Das Vorgehen in der Triagesituation muss vom Gesetzgeber gemeinsam mit Menschen mit Beeinträchtigung erarbeitet, konkret beschrieben und mit verpflichtenden Berichts- und Kontrollmechanismen versehen werden. Besondere Bedeutung kommt dabei der ausgewogenen Zusammenstellung der die Triage durchführenden Teams zu. Die Nichtbeachtung der gesetzlichen Regelungen muss zudem strafbar sein (Liga Selbst-Vertretung 2022). Der Referentenentwurf des Bundesgesundheitsministeriums vom 02.06.2022 gewährleistet weder die Kontrolle der Durchführung der Triage noch die Strafbarkeit bei Verstoß gegen die gesetzlichen Regelungen noch die Expertise der die Triage durchführenden Teams in Bezug auf Menschen mit Behinderung. Letzteres wiegt umso schwerer, als dass gemäß Referentenwurf „Komorbidität“ ein Triagekriterium sein kann, „Behinderung“ jedoch nicht, beide Begriffe jedoch im Referentenentwurf nicht eindeutig gegeneinander abgrenzt werden (kobinet-Nachrichten 2022). Die in diesem Fazit erwähnten Mängel des Referentenentwurfs müssen dringend nachgebessert werden. Die Fürsorge für sowie der Menschenrechtsschutz von Menschen mit Beeinträchtigungen ist nicht nur eine gesamtgesellschaftliche Pflicht, sondern bietet beträchtliche Chancen auf Weiterentwicklung, die in der UN-Behindertenrechtskonvention genau beschrieben sind.