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Interview zum Ukraine Krieg mit Stefanie Koehler

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Foto: Netzwerk Leichte Sprache

Berlin (kobinet) Das Netzwerk Leichte Sprache macht die Bundespolitik am kommenden Freitag durch eine Petition auf Menschen mit Behinderungen in der Ukraine aufmerksam.
Die Vorständin des Netzwerk Leichte Sprache gab uns ein Interview zur Lage in der Ukraine. Politische Teil-Habe und Austausch mit anderen Ländern gehört zur Teilhabe.



kobinet: Wie ist die Situation von Menschen mit Behinderungen aktuell in der Ukraine ?

Koehler: Dazu lässt sich nichts sagen. Die Berichterstattung läuft an diesem Thema vorbei. Deshalb macht das Netzwerk mit einer Petition darauf aufmerksam. Ich sehe in den Nachrichten viele Menschen, die flüchten. Ich sehe auf den Bildern keine Menschen mit Behinderungen. Wir wissen nicht, wie ihre Situation im Land ist. Wir wissen nicht, ob die Hilfen auch bei ihnen ankommen. Wir wissen nicht, ob diejenigen die flüchten wollen, Hilfe zur Flucht bekommen. Ein Mensch mit Blindheit, Verständnisschwierigkeiten, Taubheit oder Mobilitätseinschränkung kann sich in dieser Situation nicht selbstbestimmt verhalten. Bomben fallen. Geräusche, Bilder haben nichts mehr mit den alten Bedingungen zu tun. Wege sind von Schutt versperrt. Als Rollstuhlnutzer*in oder mit Gehhilfen komme ich nicht durch. Für Blinde Menschen sind bekannte Leitlinien und Orientierungen verschwunden. Wie ist der Zugang zu Versorgung und Information gehörloser Menschen oder Menschen mit Verständnisschwierigkeiten? Wie ist die Situation der Menschen, die auf Pflege angewiesen sind oder ein Beatmung? Wie sollen sie Schutz und Versorgung finden? Meine und die Angst meiner Kolleg*innen ist groß, dass Menschen mit Behinderungen unbetreut zurückgelassen werden. Viele Bürger*innen flüchten. Im Falle eines Bombenangriffes ist ein Keller oder U-Bahn-Schacht für viele unerreichbar. Deshalb haben wir uns entschieden eine Petition zu schreiben. Sie richtetet sich zuerst an die Politik.

kobinet: Wieviel Menschen mit Behinderungen leben in der Ukraine?

Koehler: In der Ukraine leben etwa 6 % der Bevölkerung mit einer Behinderung. Dies entspricht etwa 2.600.000 Menschen. Davon etwa 160.000 behinderte Kinder. Zusätzlich halten sich in der Ukraine Binnenvertriebene mit Behinderungen auf. Dies sind etwa 80.000 Menschen. Seit Jahren besteht ein Konflikt in der Ukraine, in dem Menschen zu Kriegsinvaliden wurden. Siehe https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine/284392/analyse-die-inklusion-von-menschen-mit-behinderung-in-der-ukraine/

kobinet: Wie ist das Leben für Menschen mit Behinderungen in der Ukraine?

Koehler: Die Ukraine hat die Konvention der UN-BRK unterschrieben. Das UN-Komitee stellte im Jahr 2015 Mängel in der Umsetzung der Ziele fest. Die Grundpauschale, welche den Menschen zukommt, ist zu gering für eine gute Versorgung mit Nahrung, Wohnung und Mobilität. Sozialleistungen zur Teilhabe an Gesundheit, Bildung und Arbeit sind ungenügend vorhanden. Insgesamt beträgt die monatliche staatliche Unterstützung ca. 60 Euro. Aus diesem Grund leben die Menschen oft in schlechtem Gesundheitszustand, ohne gleichwertigen Einbezug in die Gesellschaft oder Zugang zu Lebensbereichen. Für Erwachsene und Kinder, die in Heimen untergebracht sind, ist die Lebenssituation ebenfalls unzureichend. Schwerstbetroffene sind auf sogenannten Isolierstationen weggesperrt. Gehfähige können sich in einer Art Ghetto aufhalten, das keinen Zugang zur Außenwelt bietet. Es fehlt in den Einrichtungen für Kinder an einfachen Dingen, wie Windeln aber auch an Ansprache. Ich möchte hier auf einen wichtigen Artikel verweisen: https://www.humedica.org/berichte/2016/ukraine-kleine-gluecksmomente-schaffen/index_ger.html Die Personengruppe der Menschen mit Behinderungen ist auf Hilfe zum Leben und Hilfe zur Teilhabe angewiesen. Nun kommt der Krieg hinzu. Der Krieg verschlechtert die allgemeinen Lebensbedingungen.

kobinet: Wie müssten Hilfen konkret aussehen?

Koehler: Menschen mit Behinderungen, die flüchten wollen, brauchen hierzu Unterstützung. Sie benötigen für eine Flucht mehr Zeit, Begleitung und andere Fluchtwege. Sie können nicht immer wahrnehmen und verstehen was passiert. Sie können nicht ohne fremde Hilfe das Land verlassen und brauchen Hilfe zur Mobilität. Sind sie in Deutschland angekommen, bedarf es einer einheitlichen Regelung der Länder zur Unterbringung und Versorgung, weil das Asylrecht in den Ländern ungleich umgesetzt ist. Menschen mit Behinderungen brauchen barrierefreie Unterkünfte. Je nach Behinderungsart sind die Bedarfe an Barrierefreiheit unterschiedlich. Menschen mit motorischen Behinderungen, psycho-sozialen Behinderungen oder Sinnesbehinderungen, benötigen passgenaue Hilfen. Sie brauchen umfassende psychologische Begleitung aber auch die Bereitstellung von Hilfsmitteln. Dies sind zum Beispiel Hörgeräte, Dolmetscher für Leichte Sprache und Gebärdensprache, Mittel zur Unterstützten Kommunikation, Sehhilfen, Technologie für Blinde, Blindenstöcke, Gehhilfen, Rollstühle, Orthesen, Beatmungsgeräte, Lagerungshilfen, Medikamente u.v.m. Entscheidend ist, dass die zuständigen Behörden in Deutschland wissen, was gebraucht wird. Es ist daher erforderlich Menschen mit Behinderungen auf der Flucht zu registrieren und deren Bedarf zu erheben. Aktion Mensch hat Informationen zu Hilfen in Deutschland zusammengestellt, die ständig aktualisiert werden: https://www.familienratgeber.de/beratung-hilfe/weitere-hilfen/fluechtlinge-behinderung.php?_ga=2.6281715.1396902216.1646725320-54554310.1641816597

Für diejenigen, die nicht fliehen können oder wollen, ist es eine Frage des Überlebens, dass dieselben Hilfsangebote in der Ukraine vorhanden sind. Dies gilt genauso für ihre Angehörigen. Familien und Partnerschaften benötigen gemeinsamen Schutz. In der Ukraine muss ihnen vor Ort die notwendige Unterstützung an einem sicheren Ort zuteil werden. Solche Orte müssen geschaffen und gekennzeichnet sein. Hierbei handelt es sich um sogenannte Sicherheitszonen. Dies ist wichtig, zur Einhaltung der Regelungen des humanitären Völkerrechtes. Es definiert unter anderen, den Schutz lebensnotwendiger Gebäude. Menschen mit Behinderungen dürfen nicht Ziel militärischer Angriffe sein. Die Passage zu Sicherheitszonen müssen als neutralisierte Zonen ausgewiesen werden. Neutralisierte Zonen müssen von Kriegshandlungen freigehalten werden. So erst ist eine Versorgung möglich.

kobinet: Wen möchte das Netzwerk Leichte Sprache mit der Petition erreichen?

Koehler: Ganz einfach: Alle Menschen. Natürlich haben wir uns an Herrn Bundeskanzler Scholz, Frau Außenministerin Baerbock und den Beauftragten der Belange von Menschen mit Behinderungen Herrn Dusel gewandt. Wir möchten aber alle an diesem Thema beteiligten Organisationen, Akteure und unsere Gesellschaft darauf hinweisen.

Was zusammengehört, soll der Mensch nicht trennen. Menschen mit Behinderungen gehören in die Mitte unserer Gesellschaft – als Weltbürger*innen.

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Vielen Dank für Ihre Informationen.
Frau Koehler informierte uns, dass die Petition am Freitag erscheinen wird. Wir werden informieren.