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Impfpflicht im Privathaushalt

drei rote Ausrufezeichen
Drei rote Ausrufezeichen
Foto: ht

Hollenbach (kobinet) Kerstin S. (der tatsächliche Name ist kobinet bekannt) ist immer noch entsetzt. Für Ihren schwerstbehinderten Mann organisiert sie seit Jahren die Assistenz über das Arbeitgebermodell, finanziert über das Persönliche Budget. Im Team fehlt ohnehin seit Monaten eine Vollzeitkraft. Der Arbeitsmarkt ist in diesem Sektor wie leergefegt. Seit Wochen ist sie in Panik, weil im bestehenden Team eine ungeimpfte Frau Dienst macht. Nun hat sich eine Frau bei ihr beworben, die leider ebenfalls nicht geimpft ist. Diese ist sehr interessiert, ist sogar bereit, ein bestehendes Arbeitsverhältnis zu kündigen. Verständlicherweise will sie aber sicherstellen, dass sie auch nach dem 15. März arbeiten kann.

Frau S. ruft beim Gesundheitsamt an und will wissen, wie dort das Ermessen ausgeübt wird, ob sie dieser Frau, die sie aus der Notlage befreien könnte, zusagen kann. Beim Gesundheitsamt war man ratlos. Es wäre gar nicht sicher, ob das Gesetz im Privathaushalt Anwendung fände.

Die Katastrophe in der Katastrophe

Ein Kommentar von kobinet-Redakteur Gerhard Bartz

Um allen Missverständnissen vorzubeugen: Ich bin für die Impfpflicht für alle, bei denen keine medizinisch fundierten Erkenntnisse dagegensprechen. Ich habe hohes Vertrauen in den Staat, der mich zur Impfung auffordert. Kein Verständnis habe ich dagegen dafür, dass die Politik die Versorgung von behinderten und alten Menschen gefährdet. Seit vielen Wochen ist bekannt, dass ambulant versorgte Menschen um ihre Existenz fürchten, dass stationäre Einrichtungen Bewohner entlassen müssen, weil das ohnehin knappe Personal durch das Gesetz zur Stärkung der Impfprävention gegen COVID-19 zwangsweise weiter reduziert werden muss. Gab es in der Geschichte unseres Landes schon mal ein ähnlich schlecht gearbeitetes Gesetz? Drei Wochen vor der Wirksamkeit Mitte März wissen die Gesundheitsämter, von deren Ermessen so viel Existentielles abhängt, noch nicht, ob es auch in der Häuslichkeit der Menschen greift. Im § 20a Absatz 1 Nummer 3 des Gesetzes ist von Personen, die in ambulanten Pflegediensten und weiteren Unternehmen, die in Einrichtungen Dienstleistungen im ambulanten Bereich anbieten, die Rede. Damit sind behinderte Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber bereits außen vor. Denn sie sind weder Pflegedienste noch Unternehmen und bieten schon gar nicht in Einrichtungen Dienstleistungen im ambulanten Bereich (welch eine Formulierung!) an. Dort, wo der behinderte Mensch schon im Eingangskriterium aussortiert wird, interessieren die Folgebuchstaben a) bis f) schon gar nicht mehr. Im Buchstabe f) werden zudem nur die behinderten Menschen erfasst, deren Kosten durch das Persönliche Budget abgerechnet werden. Die vielen, die heute noch die Kosten spitz abrechnen, hat der Gesetzgeber nicht mehr auf dem Schirm. Wer jedoch von einem ambulanten Dienst versorgt wird, hat eben Pech gehabt. Oder kann er sich auf den Gleichbehandlungsgrundsatz berufen? Schließlich wird er extrem benachteiligt, wenn der ambulante Dienst sich nicht die Arbeit machen möchte, die Gesundheitsämter um eine Ermessensentscheidung zugunsten des behinderten Menschen zu bitten.

Erfreulicherweise hat der Gesetzgeber diesmal Menschen mit Behinderung mit gedacht. Gleichwohl wird sofort klar, dass die Freude völlig unbegründet ist. Denn es ist ein Geschenk von trojanischer Auswirkung.

Was soll eigentlich mit den Menschen geschehen, die nach dem 15. März nicht mehr beschäftigt werden dürfen? Wird das Arbeitsverhältnis fristlos gekündigt? Wurde die Kündigung vom Arbeitnehmer veranlasst und führt zu einer Sperre? Oder ist es eine unbezahlte Freistellung? Der Gesetzgeber macht sich einen schlanken Fuß und überlässt die Ausführung den Gesundheitsämtern. Diese jedoch sind noch nicht informiert und heute schon heillos überlastet. Und von den Entscheidungen dieser Behörden soll also die Existenz behinderter Menschen abhängen?

Der Bundesverband ForseA hat die Gesundheitsminister von Bund und Länder angeschrieben. Die Bundestagsabgeordneten der Ausschüsse Gesundheit sowie Arbeit und Soziales erhielten Kopien davon. Geantwortet haben vier Mandatsträger aus Oppositionsparteien. War der Rest betretenes Schweigen?

Wenn ich sehe, wieviel Menschen mit behinderungsbedingtem Assistenzbedarf dieses Gesetz befürworten, frage ich mich, ob diese von einem Automaten wissen, bei dem man sich bei Bedarf Assistentinnen und Assistenten (Geimpfte wohlbemerkt) ziehen kann. Ein wenig mehr Solidarität mit jenen, denen der ambulante Dienst heute schon angekündigt hat, die Versorgung einzustellen, wäre durchaus angebracht.

Ich hoffe noch immer, dass das Gesetz schnellstmöglich zurückgezogen wird. Denn es trifft auch diejenigen, die in den letzten zwei Jahren mit die Hauptlast der Pandemie getragen haben. Für die wir geklatscht und von den Balkonen gesungen haben. Dass ausgerechnet diese nun mit der staatlichen Gewalt derart massiv konfrontiert werden, zeigt, wo Aktionismus hinführt. Es ist geradezu paradox: Die nichtbehinderte Gesellschaft jubelt gerade über Lockerungen. Ist deren Freiheit der Preis für die Bedrohungen des Restes? Wäre es doch logischer, diejenigen, die vorgeblich durch das Gesetz zu Schützenden einer Impfpflicht zu unterwerfen? Lassen sie sich dann immer noch nicht impfen, sehen sie ihrer Gefährdung bewusst ins Auge.

Nochmals. Ich bin für die Impfpflicht. Aber ein Gesetz, das einen Menschen einen ohnehin schlecht zu besetzenden Arbeitsplatz kostet und einen behinderten Menschen die Existenz in Freiheit, dieses Gesetz ist das Papier nicht wert, auf das es gedruckt wurde. Kerstin S. und mit ihr zahlreiche andere Menschen und ihre Angehörigen dürfen nicht länger einer Existenzangst ausgesetzt werden.

BR24 Frankenschau aktuell vom 11.2.22
TV Main-Franken Beitrag vom 22.2.22

Lesermeinungen

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9 Lesermeinungen
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Arnd Hellinger
28.02.2022 22:16

Auch wenn ich das evtl. schon irgendwo geschrieben/gesagt habe: Ich halte es für hochgradig problematisch und etwas populistisch, dass sich ForseA – immerhin Teil der emanzipatorischen Behindertenbewegung dieses Landes – hier vor den Karren der Querdenkenden und wissenschaftsleugnend Schwurbelnden spannen lässt. Es ist ja nun weder so, dass die Impfpflicht zum 15.03.2022 vor drei Tagen vollkommen unerwartet vom heiterem Himmel gefallen wäre, sondern die wurde im November 2021 intensiv öffentlich diskutiert und dann im Dezember 2021 gesetzlich verankert, noch hatte über das gesamte Jahr 2021 niemand die Möglichkeit sich vollständig impfen und ggf. boostern zu lassen – man hätte es nur wollen müssen, statt einen von rechts angefachten „Kampf gegen die da oben“ zu führen und dafür sowohl die eigene als auch die Gesundheit Anderer mindestens zu gefährden.

Ja, auch das Grundrecht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper endet dort, wo dessen Ausübung die Rechte Anderer auf Gesundheit etc.in Gefahr bringt. Insofern darf und muss gerade von Assistierenden sowie Pflegenden sehr wohl erwartet werden, sich impfen zu lassen – sofern natürlich keine medizinische Kontraindikation besteht.

Zeit zur Vorbereitung in den Assistenzteams war mehr als genug.

Gerhard Bartz
Antwort auf  Arnd Hellinger
28.02.2022 22:55

Wenn du dir wenigstens die Mühe gemacht hättest, den Artikel zu lesen. Dann würdest du nicht so was schreiben. Aber auch an dich die Bitte, uns Hinweise zu geben, wie man ein Assistenzteam vorbereiten kann. Über nützliche Hinweise freuen sich garantiert eine Menge Leute, die sich gerade große Sorgen machen. Danke im voraus!

Gerhard Bartz
26.02.2022 08:30

Die reine Lehre sollte nie Oberhand bekommen, wenn die Existenz von Menschen auf dem Spiel steht. Oder soll ich tatsächlich ins Heim, weil meine Assistenz sich nicht impfen lassen will? Und welches Heim nimmt noch Insassen auf, wenn es selbst welche entlassen muss?

Marion
Antwort auf  Gerhard Bartz
26.02.2022 10:58

Eine Assistenz sollte Verantwortung zeigen und wenn Sie sich mal richtig informieren, dann gibt es Alternativen, ohne das betroffene ins Heim müssen.

In den Medien wurde über diese Alternativen bereits berichtet. Nur schade, das Kobinet das nicht aufgreift und auch darüber berichtet, sollen die Beiträge in diesem Blog doch für betroffene, also Menschen mit Einschränkungen, sein.

Gerhard Bartz
Antwort auf  Marion
26.02.2022 11:00

Jetzt machen Sie mich neugierig. Ich habe nichts in den Medien als Alternative zur Heimeinweisung gelesen.

Marion
Antwort auf  Gerhard Bartz
26.02.2022 14:43

Das glaube ich. Kann mich an einen Artikel erinnern, der unter dem Titel „Impfpflicht für Assistenz gefährdet selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen“ oder so ähnlich lief.

Da waren einige Optionen drin und ganz ehrlich: Die einrichtungsbezogene Impfpflicht ist jetzt kein Überraschungspacket , sondern es gab genügend Zeit sich da vorzubereiten.

Vielleicht hilft ja auch Novavax als Lösung. Dazu gab es ja auch viel mediale Informationen, insbesondere zu der Impfpriorisierung mit dem Impfstoff

Gerhard Bartz
Antwort auf  Marion
26.02.2022 16:29

Ich kenne alle Artikel, auf das anstehende Desaster wurde von Anfang an hingewiesen. Insoweit war es nie eine Überraschung. Wenn es die Gesellschaft nicht schafft, die Leute zur Impfung zu bewegen, wie sollen es dann behinderte Arbeitgeber mit ihren Assistentinnen und Assistenten schaffen? Aber ich warte noch auf die von Ihnen behaupteten Alternativen. Sie wären eine Lösung unserer Probleme und schlafloser Nächte.

Marion
Antwort auf  Gerhard Bartz
27.02.2022 17:06

Vermutlich kennen Sie nicht den Artikel, den ich meine. Bitte haben Sie aber Verständnis dafür, dass ich hier nichts verlinken werde. In der Vergangenheit wurde ich wegen Links schon einmal der Schleichwerbung bezichtigt und aus Foren ausgeschlossen. Den Stress will ich mir nicht mehr geben.

Marion
24.02.2022 12:18

Warum das Entsetzen? Assistenzkräfte sollten verantwortungsbewusst arbeiten und sich impfen lassen, schließlich gibt es jetzt den Totimpfstoff.

Da ist das kontraproduktive Kritikausüben von Kobinet & Co eher kritisch zu bewerten, denn es geht um den Schutz vulnerabler Gruppen und die sollte höchste Priorität haben und nicht noch mit solchen Artikeln zur Unterstützung jender werden, die sich nicht impfen lassen wollen.