Menu Close

Heute vor 40 Jahren begann das Krüppel-Tribunal in Dortmund

Dr. Martin Theben
Dr. Martin Theben
Foto: privat

Berlin (kobinet) Heute, vor 40 Jahren veranstaltete am 12. und 13. Dezember 1981 die Krüppelbewegung in Dortmund in der Halle der Evangelischen Schalom-Gemeinde im Ortsteil Scharnhorst das Krüppeltribunal. In 15 thematisch gegliederten Prozessen wurden diverse Menschenrechtsverletzungen gegenüber Menschen mit Behinderungen angeklagt, die heute in vielerlei Hinsicht noch aktuell sind. Der Chronist der kobinet-nachrichten, Rechtsanwalt Dr. Martin Theben, hat sich mit dieser legendären Veranstaltung und der damaligen Berichterstattung intensiv beschäftigt und den kobinet-nachrichten folgenden Bericht geschenkt.

Bericht von Dr. Martin Theben

Krüppeltribunal als Abschluss des UNO-Jahres

Gegen Ende des Jahres, am 12. und 13. Dezember 1981 hielt die Krüppelbewegung in Dortmund in der Halle der Evangelischen Schalom-Gemeinde im Ortsteil Scharnhorst das KRÜPPELTRIBUNAL ab. In 15 thematisch gegliederten Prozessen wurden diverse Menschenrechtsverletzungen gegenüber Menschen mit Behinderungen angeklagt.

Die Eröffnungsrede hielt die am 10. April 1961 geborene Juristin Theresia Degener. Sie war später Mitglied im Forum behinderter Jurist*innen und lehrt mittlerweile Disability Studies an der Ruhr-Universität Bochum. Theresia Degener führte die Delegation der Bundesrepublik Deutschland zur Ausarbeitung der UN-Behindertenrechtskonvention an. Sie war auch Mitglied des entsprechenden UN-Fachausschusses. Erstmals wurden in großer Ausführlichkeit in einem eigenen Themenblock die besonderen Erfahrungen behinderter Frauen beispielsweise zum Thema Abtreibung, medizinische Versorgung oder sexueller Missbrauch in Heimen diskutiert.

Die Krüppelzeitung (1/1982) und die Luftpumpe (2/1982) berichteten ausführlich über den Verlauf und die Ergebnisse des Krüppeltribunals. 1983 erschien eine Dokumentation der Initiatoren unter dem Titel Das Krüppeltribunal. Menschenrechtsverletzungen im Sozialstaat im Kölner Pahl-Rugenstein Verlag. [1]

Die Idee, ein solches Tribunal durchzuführen entstand bereits während der Vorbereitungen auf das UNO-Jahr der Behinderten. In mehreren dezentral agierenden Gruppen in der gesamten Bundesrepublik und Westberlin wurden die verschiedensten Protestformen gegen die offiziellen Veranstaltungen entwickelt. In regelmäßigen Abständen trafen sich die Protestierenden zu gemeinsamen Koordinierungstreffen. Das Format des Krüppel-Tribunals war dem US-amerikanischen Russel-Tribunal, benannt nach dem Initiator und Friedensaktivisten Bertrand Russel, nachempfunden. Das Russel-Tribunal wollte Kriegsverbrechen während des Vietnam-Krieges untersuchen. Es tagte 1966 in London und im Mai 1967 in Stockholm. Zu den Mitgliedern des Tribunals zählten damals u.a. der Philosoph Jean-Paul Sartre, der Jurist Uwe Wesel, der Schauspieler Alec Baldwin oder die Schriftstellerin Simone de Beauvoir. In den 70ziger Jahren tagte ein ähnliches Tribunal aus Anlass des Radikalenerlasses auch in Deutschland.

Der (richtige) Krüppelstandpunkt – Die Kontroverse um die Zusammenarbeit mit Nichtbehinderten und den Austragungsort des Tribunals

Das Krüppel-Tribunal stand zunächst unter keinem guten Stern. Knapp drei Wochen vor dem geplanten Beginn zog die Stadt Dortmund nach langem hin und her ihre Zusage für den Veranstaltungsort – das Pädagogische-Zentrum der Gesamthochschule Scharnhorst – zurück. Offenbar fürchtete die Stadt ähnlich radikale Proteste, wie sie sich während der Eröffnungsveranstaltung zum UNO-Jahr im Januar 1981 ereignet hatten. Außerdem hatte Franz Christoph zwischenzeitlich seinen „Krüppelschlag“ gegen den Bundespräsidenten auf der Reha-Messe in Düsseldorf geführt. Da es sich bei der Vorbereitungsgruppe des Tribunals teilweise um die gleichen Personen handelte, bekam die Stadt Dortmund kalte Füsse und wollte sich mit den Veranstaltenden offiziell nicht gemein machen. Schließlich unterstellte man den Beteiligten auch, dem damaligen Zeitgeist entsprechend, kommunistisch unterwandert zu sein.

Auch aus den vermeintlich eigenen Reihen kam scharfer Gegenwind. Am 10. Dezember veröffentlichte die TAZ einen Artikel einer Gruppe um Franz Christoph unter dem Titel Fälscher am Werk. Den Initiatoren wurde dort vorgeworfen, sich von Nichtbehinderten missbrauchen zu lassen. Sie würden sich für deren Zwecke prostituieren und wurden in dem Artikel als „Anpassungskrüppel“ denunziert. Weiter heißt es in dem Artikel: „Partnerschaftsgauner verstecken sich hinter uns Krüppeln. Sie rufen am kommenden Wochenende auf zu einem sogenannten Krüppel-Tribunal in Dortmund um unsere Aussonderung und Unterdrückung öffentlich auszuschlachten. Skrupellos ignorieren sie den Unterschied, ob wir uns Krüppel nennen oder sie als Hobbypartner den Ausdruck gebrauchen, um ein möglichst unverkrampftes Verhältnis uns gegenüber vorzutäuschen. Ihre Motive, warum sie als Nicht-Behinderte das Tribunal initiieren verschweigen sie aus der Angst heraus, sich nicht selbst auf der Anklagebank wiederzufinden. „. (…) „ Indem uns [von, sic] Nichtbehinderten permanent Gleichheit, Partnerschaft vorgelogen wird, gehen sie einer wirklichen Auseinandersetzung partnerschaftlich aus dem Weg.“

Die vehemente Kritik trieb einen Konflikt auf die Spitze, der während der gesamten Vorbereitungen zwischen radikalen Krüppeln um Franz Christoph und Horst Frehe einerseits und gemäßigten Aktivisten zu denen Gusti Steiner zählte, tobte. Es ging dabei letztendlich um die Frage, ob der Widerstand gegen die ausgrenzenden und menschenrechtsfeindlichen Verhältnisse mit oder ohne die Nichtbehinderten geleistet werden konnte. Dabei nahm Horst Frehe im übrigen mittlerweile eine vermittelnde Position ein und distanzierte sich zusehends von Franz Christoph.

Einen Tag später wiesen die Beteiligten der Vorbereitungsgruppe ebenfalls in der TAZ die Kritik zurück und riefen zur Teilnahme am Tribunal auf. Sie verteidigten sich gegen den Vorwurf der Instrumentalisierung durch die Nichtbehinderten und verwiesen auf die eigentliche Zielrichtung des Krüppeltribunals: „Wir wissen sehr wohl zwischen Bündnispartnern und falschen fuffzigern zu unterscheiden, gehen aber nicht davon aus, daß unser Hauptproblem der Widerspruch zwischen Krüppelsein und Nichtsein ist, sondern ein gesellschaftliches System das aufrund eines mörderischen Leistungsprinzips uns überhaupt erst zu Problemen werden läßt – und nicht nur uns.“

Schon auf dem Vorbereitungstreffen in Frankfurt a.M., das vom 28.2.-1.3.1981 stattfand, drohte ein Eklat, der die Durchführung des Krüppeltribunals generell in Frage zu stellen drohte. Die verschiedenen Positionen zum Krüppelstandpunkt und der Beteiligung Nichtbehinderter an der Vorbereitung und Durchführung des Tribunals trafen hier hart aufeinander und wurden schließlich gar zur Abstimmung gestellt. Hier der Auszug eines Berichtes aus der Luftpumpe 4/81:

„Den ganzen Samstag lief eine Diskussion unter den ca. 60 Behinderten, Krüppel und Nichtbehinderten über das Thema ‚Selbstvertretungsanspruch der Behinderten‘. Das dieser nicht in Frage zu stellen sei, war wohl jedem aus dem Gremium einsichtig. Viele der Leute waren als Vertreter von Gruppen und Initiativen zum Treffen gekommen. Die Bremer und eine große Anzahl noch unorganisierter Krüppel bezogen sehr bald des Selbstvertretungsthema auch auf das Vorbereitungsgremium und die Diskussion drehte sich um die Frage: Dürfen Nichtbehinderte das Krüppel-Tribunal mit vorbereiten oder nicht? (…) Die Diskussion spitzte sich zu und an der Äußerung eines Frankfurter nichtbehinderten jungen Mannes: ‚Das lasse ich mir einfach nicht nehmen, mit Behinderten zusammen zu arbeiten‘ zeigt sich sehr deutlich, wie stark Krüppel selbst aus nahestehenden Kreisen behindert werden, wenn sie sich selbst vertreten wollen. Zum Glück gab es unter den zahlreichen Nichtbehinderten nur wenige, die ihre Nichtbereitschaft so lauthals bekundeten. Die meisten hielten sich zurück, entweder weil sie etwas begriffen hatten, oder aus Angst auf Gegenposition der Behinderten zu stoßen. Ich denke, eine gute Erfahrung für sie, einmal in der schwächeren Position zu sein. (…) Bevor die verschiedenen Positionen zur Abstimmung kamen entschieden sich die Anwesenden mit wenigen Gegenstimmen dafür, daß nur Behinderte abstimmen dürfen. (…) Zur Abstimmung kamen folgende Vorstellungen: 1. Gusti Steiners Gruppe schlug vor Behinderte und Nichtbehinderte arbeiten gleichberechtigt für das Krüppel-Tribunal (10 Stimmen). 2. Theresia Degeners Gruppe schlug vor: Behinderte und Nichtbehinderte arbeiten gemeinsam; in den Arbeitsgruppen dürfen die Nichtbehinderten nicht überwiegen; der Schwerpunkt liegt bei den Behinderten (13 Stimmen). 3. Krüppel-Vorschlag: Das KrüppelTribunal wird prinzipiell von Behinderten getragen und erarbeitet; punktuelle Zusammenarbeit ist möglich (18 Stimmen). Die Nachbesprechung zur Abstimmung erbrachte 1. die Feststellung, daß das Ergebnis zufällig zustande gekommen sei, da die Zusammensetzung der Anwesenden auch anders hätte sein können. 2. Einige Leute, die für den Krüppel-Vorschlag gestimmt hatten, erklärten nur für sich abgestimmt zu haben und nicht für die Gruppen, die sie vertreten sollten, da bei ihnen eine derartige Diskussion noch nicht stattgefunden habe. Am Sonntag trafen sich die Krüppel und mußten realistisch feststellen, daß sie sich aufgrund ihrer geringen bundesweiten Stärke nicht in der Lage sähen, das Tribunal zu veranstalten.“

Die Presseberichterstattung im Nachgang des Tribunals

Schließlich konnte es dann doch, weltpolitisch überschattet von der Ausrufung des Kriegsrechtes in Polen am 12. und 13. Dezember in den wesentlich kleineren Räumen der Shalom-Gemeinde stattfinden. An dieser Stelle kann aus Platzgründen nicht detailliert auf den Ablauf eingegangen werden. Hier ist auf die eingangs erwähnte Dokumentation von 1983 zu verweisen. Sie kann im Archiv Behindertenbewegung als PDF-Datei abgerufen werden. Aber auch die zahlreichen Zeitungsartikel zum Tribunal bieten einen guten Einblick in jene Atmosphäre, in der damals der behindertenfeindliche Zeitgeist zum Abschluss des UNO-Jahres angeklagt wurde.

Einen Tag nach dem Krüppeltribunal, am Montag, dem 14. Dezember 1981, erschienen in zahlreichen, z. T. auch überregionalen Zeitungen Artikel, die überwiegend wohlwollend, z. T. aber auch kritisch und in der Sprache gar bösartig waren. Die nachfolgend zitierten Artikel liegen dem Autor dieses Textes vor und wurden ihm von Birgit Rothenberg und dem Verein Mobile Selbstbestimmtes Leben Behinderter überlassen und stammen aus dem vom Verein verwalteten Nachlassarchiv Gusti Steiners.

Der Artikel in der Westfalenpost war überschrieben mit: „Selbsthilfegruppen der Behinderten klagen auf Krüppeltribunal an.“ In dem auf einer dpa-Meldung fußenden Artikel hieß es dann: „Schikanen, menschenunwürdige Behandlung und Mißhandlungen behinderter Menschen haben Selbsthilfegruppen der Behinderten auf einem ‚Krüppeltribunal‘ Behörden und Einrichtungen in der Bundesrepublik vorgeworfen. Auf der Veranstaltung am Wochenende in Dortmund beschuldigten die Selbsthilfegruppen, die die großen Behindertenverbände ablehnen, vor etwa 300 Teilnehmern aus dem gesamten Bundesgebiet vor allem Sozialbehörden und Heime des gesetzwidrigen Handelns. Der Bundesbeauftragte für Behinderte, Staatssekretär Buschfort, hatte betont, trotz seiner Kritik und Skepsis gegenüber den teils radikalen Behindertengruppen werde er ernsthaften Vorwürfen nachgehen.“ Im weiteren Verlauf des kurzen Berichtes wurden dann zusammengefasst Schilderungen über die z. T. menschenunwürdigen Zustände in Behindertenheimen wiedergegeben. Viele Behinderte, die bei ausreichenden ambulanten therapeutischen Hilfen ein selbständiges Leben führen könnten, würden „systematisch unfähig gemacht, ein Leben außerhalb von Anstaltsmauern zu führen“. Weiterhin berichtete der Artikel von „Massenschlafsälen, geregelten Toilettenzeiten sowie dem Zwang, um 19 Uhr ins Bett gehen zu müssen.“

Gabriella Wollenhaupt berichtete in ihrem Artikel in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) zu Beginn über eine perfide Aktion eines der etablierten großen Behindertenverbände. Unter der Überschrift: „400 Behinderte trafen sich: Gelächter über Schminkbuch“ begann ihr Bericht: „Da lachte das Plenum herzlich: Der Bundesverband für spastisch Gelähmte verteilt zur Zeit ein Schminkbuch für behinderte Mädchen. Kostprobe aus dem Inhalt:Lenken Sie durch ein raffiniertes Makeup von Ihrem behinderten Körper ab.‘ Diese Vertuschung ihres Gebrechens lehnen ‚Krüppelfrauen‘ und ‚Krüppelmänner‘ ab. Etwa 400 Behinderte aus der Bundesrepublik kamen am Wochenende in die Shalom-Gemeinde in Scharnhorst zum „Krüppel-Tribunal‘. Sie selbst bezeichnen sich als ‚Krüppel, was seine Gründe hat. Gusti Steiner, einer der Dortmunder Organisatoren: ‚Das provozierende Wort “Krüppel“ soll den Stand unseres Selbstbewusstseins dokumentieren.‘“

Der Artikel von Ingrid Müller-Münch in der Frankfurter Rundschau vom 15. Dezember 1981 gab den Schilderungen der einzelnen Betroffenen auf dem Krüppeltribunal breiten Raum. Zu Beginn des mit „Sie wollen für sich selbst reden“ überschriebenen Berichtes wurden die demütigenden Erfahrungen von behinderten Frauen wiedergegeben: „All diese Frauen hatten eines gemeinsam. Sie spüren in solchen Situationen stets aufs neue, daß man über sie die Diagnose gestellt hat: ’sexuelles Neutrum‘. Das macht sie zornig und empört. Und weil sie allein nichts dagegen machen können, daß sie wegen ihrer Behinderung abfällig als Krüppel zum menschlichen Müll gezählt werden, kamen sie an diesem Wochenende nach Dortmund, wo zwar kein Politiker, kein Funktionär, weder eine Berühmtheit aus dem Funk noch aus dem Fernsehen wartete, um sie mitleidig-gönnerhaft im Surren von Kameras ans Herz zu drücken. Dafür aber ihresgleichen.“ Nach ausführlicher Wiedergabe der Schilderungen über menschenunwürdige und stark reglementierte Zustände in Heimen widmete sich der Artikel sodann den irrsinnigen Amtswegen: „Die Behörden sind bei all diesen Bestrebungen der Behinderten ärgster Hemmschuh. Vorschriften und stures unverständliches Desinteresse und Arroganz machen zaghafte Ansätze zunichte, Paragraphen den Irrsinn mancher Amtswege deutlich. So berichtete eine Gruppe über Eltern behinderter Kinder, die gut in normale Kinderwagen gelegt werden könnten, von der Krankenkasse freilich nur den doppelt so teuren Spezialkinderwagen finanziert bekämen. Von Rollstuhlfahrern, die das Rad ihres Fahrzeugs beim Fahrradhändler für ein paar Mark reparieren lassen könnten, sich jedoch besser stehen, wenn sie dafür einen Spezialisten ins Haus rufen, weil nur das die Kasse bezahlt.

Mit den auch klimatischen Widrigkeiten, unter denen das Krüppeltribunal abgehalten wurde, befassten sich die Ruhrnachrichten vom 14. Dezember 1981: „Der festgetretene gefrorene Schnee war für die Rollstühle ein ungünstiger Untergrund, und für Gehbehinderte wurde der Weg zum Gemeindezentrum der Schalom-Gemeinde in Scharnhorst zur Angstpartie, aber der Entschlossenheit tat das keinen Abbruch: Schätzungsweise 300 Behinderte und ihre Begleiter waren am Wochenende aus allen Teilen der Bundesrepublik nach Dortmund gekommen, um bei einem ‚Krüppeltribunal‘ zum Ende des Jahres der Behinderten noch einmal gegen Benachteiligungen zu protestieren. Unter dem Adventskranz im Saal des Gemeindezentrums traten Sprecher verschiedener Arbeitsgruppen auf und erhoben ihre Anklagen gegen menschenunwürdige Behandlung von Behinderten in Heimen, gegen Schwierigkeiten bei der Bewilligung von Sozialleistungen, gegen die Finanzkürzungen für Fahrdienste in Städten, gegen den Bau von neuen Großkliniken, gegen die Probleme auf dem Arbeitsmarkt. Manche Gruppe illustrierte ihre Sorgen auch mit Spielszenen.“ Die Ruhrnachrichten erwähnten auch, dass die Schalom-Gemeinde letztendlich nur 2. Wahl als Veranstaltungsort gewesen ist: „Die Veranstaltung des Treffens im eigentlich für den großen Andrang zu engen Schalom-Gemeindezentrum war übrigens eine Notlösung, nachdem sich die Stadt Dortmund nicht in der Lage gesehen hatte, den Initiatoren, darunter den behinderten Dortmunder Sozialarbeiter Gustav Steiner, Räume zu stellen.“

Waren all diese Artikel bisher dem Krüppeltribunal und seiner Intention eher wohlgesonnen, zeigte sich die Welt vom 14. Dezember 1981 eher kritisch, in der Sprache teils bösartig, in jedem Falle diskriminierend. Der Autor Peter Jentsch wollte seinen Lesern einen besonders illustren Eindruck von der Atmosphäre des Krüppeltribunals und dessen Protagonist*innen verschaffen: „Geballtes Elend, ‚zusammengepfercht‘ auf einer Fläche von knapp 600 Quadratmetern: 400 Behinderte – diejenigen von denen die Rede ist, verstehen sich als ‚Krüppel‘ – in Rollstühlen, mit Prothesen, an Krücken, Menschen, denen Hände aus den Schultern wachsen, Querschnittgelähmte, Contergan-Geschädigte, Stumme und Taube, Kleinwüchsige und geistig Behinderte. Sie fordern Mitleid in dem Maße heraus, wie sie es selbst aggressiv abwehren. Versammelt hatten sie sich am Wochenende zum ersten deutschen ‚Krüppel-Tribunal‘ in der ‚Shalom-Gemeinde‘ im Dortmunder Vorort Scharnhorst. Die Stahlstadt im Revier war gut gewählt: Ihre Schlote, Fördertürme und Hochöfen als Symbole für härteste körperliche Arbeit förderten deutlich die Kluft zu denen zutage, die glücklich wären, könnten sie diese Arbeit noch leisten. In Dortmund leisteten sie es sich, gemeinsam ‚unausstehlich‘ zu sein: Mit Parolen wie ‚Jedem Krüppel seinen Knüppel‘ oder ‚Funktionäre feiern sich und ihre guten Taten, deshalb müssen Krüppel ihnen eins überbraten‘ machten sie deutlich, ‚daß nur unser gemeinsamer Widerstand gegen die bundesrepublikanische Krüppelsituation etwas erreichen kann‘“ Es folgen dann die schon in anderen Artikeln wiedergegebenen Erläuterungen der einzelnen Anklagepunkte. Gegen Ende seines Artikels musste der Autor dann aber noch einen Kontrapunkt setzen: „Damit gar nicht einverstanden ist Gerd Böhm-Meuser, seit 41 Jahren querschnittgelähmt. Er läßt für sich das Wort Krüppel nicht gelten, was er äußerlich durch das goldene Sportabzeichen am Revers dokumentiert.

Fünf Tage nach dem Krüppeltribunal, am Freitag, dem 18. Dezember 1981 veröffentlichte dann noch die linksalternative Tageszeitung – taz – einen großen Artikel des späteren Publizisten und Historikers Götz Aly. Götz Aly ist selbst Vater einer behinderten Tochter, die zum Zeitpunkt des Artikels zwei Jahre alt gewesen war. Er hat zahlreiche Bücher zum Nationalsozialismus und zur „Euthanasie“ veröffentlicht. Zu Beginn seiner Schilderungen verweist er in seinem Artikel noch einmal auf die Verweigerungshaltung der Stadt Dortmund, den Veranstaltern des Krüppeltribunals Räume zur Verfügung zu stellen, und macht deutlich, weshalb gerade die Schalom-Gemeinde als alternativer Veranstaltungsort letztendlich trotz der räumlichen Enge passend gewählt war: „Das ist jene Gemeinde, die vor kurzem den Kriegsdienstverweigerer Andreas Block Kirchenasyl in der Kapelle des Gemeindezentrums gewährt hat. Über mehrere Wochen hatte man den Friedensasylanten hier versorgt, der Pfarrer die Feldjäger von einer Festnahme abgehalten – bis Andreas Block schließlich in zweiter Instanz vom tatsächlichen zum anerkannten Kriegsdienstverweigerer wurde. Gastfreundschaft ist hier zwischen den elementierten Würfelblöcken von Do-Scharnhorst, das weit vom Stadtkern entfernt, hinter einer Niemandszone aus Infrastruktur gelegen ist, eine menschliche Selbstverständlichkeit“.

Auch Götz Aly versucht dann den Lesern der taz einen Eindruck von der Atmosphäre auf dem Krüppeltribunal nahezubringen: „Das Gemeindezentrum ist ausgelastet bis an seine Grenzen: Die einen surren in Elektrorollstühlen majestätisch durch die Gänge; andere bewegen sich fast tänzelnd mit den handgetriebenen Modellen. Peter Tülmann, ein Gehörlosen-Dolmetscher, wird gesucht und nicht gefunden; aus den ‚Contergan-Kindern‘ sind längst Männer und Frauen geworden, Udo aus Hamburg kommt mir mit ausfahrenden halsbrecherischen Bewegungen aus der Kellertoilette für ‚Fußvolk‘ entgegen. Dazwischen engagierte und eifrige Betreuer, denen das ‚Wir‘ der ‘ gemeinsame Kampf‘ manchmal etwas zu leicht über die Lippen gehen (…). Mich wundert die Leichtigkeit des Treffens. Der Witz und die gute Laune. Die Bitterkeit der eigenen Erfahrung hat bei den Behinderten, die hier sind, nicht zum Dogmatismus geführt und das zeigt auch das Tribunal. Man hat ganz bewußt auf das pseudojuristische Anklagezeremoniell der historischen Russelltribunale verzichtet. In vielfältigsten Formen wird einfach berichtet, aus dem Stehgreif inszeniert oder montiert und die Anklagepunkte eher zufällig zusammengefasst.“ Die Wiedergabe der Anklagepunkte und die Erfahrungsberichte werden von Götz Aly hier eher knapp abgehandelt. Einige besondere „Angeklagte“, wie Hans Mohl, dem Organisator der Aktion Sorgenkind oder Prof. Dr. A. Goeb, der bayerische Landesarzt, der mit menschenverachtenden Äußerungen über behinderte Kinder in die Schlagzeilen geraten war, werden aufgeführt. Dann aber schließt sich eine fast schon literarisch anmutende Selbstreflektion des Autors an. Im Nachtzug, offenbar auf dem Rückweg vom Krüppeltribunal, siniert er unter anderem über seine eigene Einstellung zur Aussonderung von Menschen mit Behinderungen und gelangt im Zuge seines Gedankenstroms zu einer behinderten Arbeitskollegin bei der taz: „Ich denke an Inge, unsere Lay-outerin, die ist taub, die kann was und endlich müssen wir uns nicht mehr mit den schändlichen monatlichen hundert Mark von der Pflicht freikaufen, einen Schwerbehinderten zu beschäftigen. Beim Lay-outen muss ich sie anstubsen, angucken und mit deutlich artikulierten Mundbewegungen langsam sprechen. Mehr nicht. Und selbst das ist mir manchmal vielleicht nicht lästig, aber es gibt so ein gewisses Gefühl der Erleichterung, wenn meine Seite von jemand anderem umbrochen wird. Das geht schneller, ihr versteht mich, der ständige Zeitdruck … Mit wie vielen Inges könnten wir zusammenarbeiten und was ist, wenn sie nicht nur taub sind (da habt ihr Euch auf dem Tribunal elegant gedrückt: Ihr habt immer nur von den Krüppeln geredet, sehr wortgewandt, aber die geistig behinderten habt ihr vorsichtshalber garnicht erwähnt). Oder anders herum: Die Institutionen, die auf dem Tribunal angeklagt worden sind, verschwinden doch nur, wenn wir anders leben, uns ein Lebenstempo angewöhnen, das nicht an den Stärksten und Gesündesten orientiert ist.“

Schließlich geht Götz Aly auch auf die im Vorfeld entflammte Diskussion um die Frage der Zusammenarbeit mit Nichtbehinderten ein. Dabei wendet er sich ganz konkret an Franz Christoph, der sich ja vehement dagegen ausgesprochen hatte, Nichtbehinderte auch nur an den Vorbereitungen des Krüppeltribunals, geschweige denn an dessen Durchführung, zu beteiligen: „Eigenes Krüppelbewußtsein! Kein Fraternisieren mit den NBs! Stellt Euch vor, bei einem Frauen-Tribunal Männer unter den Organisatoren und Anklägern! Franz Christoph, ich glaube dir das nicht ganz! Der Vergleich mit den Männern und Frauen hinkt erheblich. Es ist nicht meine Perspektive, Frau zu werden, wohl aber – möglicherweise – Krüppel. Die Verdrängung und dieser Zukunft oder ihrer aufgeklärten ‚Lösung‘ mit Hilfe von ebenso aufgeklärten Selbstmordphantasien macht das Verhältnis zwischen Behinderten und Nichtbehinderten auch so kompliziert. Aber Franz, vielleicht hast du und deine Verbündeten auch Recht, vielleicht muß man einem, der bei Inge so fühlt wie ich, einfach erst einmal durch Abgrenzung begegnen.“

Kritische Bilanz von Udo Sierck und Nati Radtke

Gegen Ende eines längeren Artikels zogen Udo Sierck und Nati Radtke in der Krüppelzeitung 2/82 eine schon in die Zukunft weisende Bilanz zum Krüppeltribunal :

„a) Mit dem Tribunal wurde das Ziel verfolgt, mehr Krüppel zur Selbstorganisierung zu motivieren. Ob dies gelungen ist, wird sich daran zeigen, ob die begonnene (über-)regionale Arbeit kontinuierlich fortgaesetzt werden kann und sich weiterhin öffentlich äußert. Daß zum Tribunal-Nachbereitungstreffen nach Hamburg ca. 80 Teilnehmer reisten, könnte ein Auftakt gewesen sein, der in diese Richtung weist.

b) Der Anspruch, bestehende Mißstände aufzudecken, ist in den Anklagepunkten zum großen Teil erfüllt worden. Problematisch ist nur, daß die offengelegten Menschenfeindlichkeiten einen mehr oder weniger internen Kreis ansprach. Die Öffentlichkeit erfuhr über die Medien wenig inhaltliches, über Ziele und Motive der Veranstalter schon fast nichts mehr.“

Dennoch war dieses Krüppeltribunal, ja das gesamte UNO-Jahr der Behinderten nur der Auftakt für eine behindertenpolitische Bewegung. die nicht mehr aufzuhalten war und bis in die heutige Zeit nicht aufzuhalten ist!

[1] Diese Dokumentation liegt auch als PDF-Datei im archiv-behindertenbewegung.org vor: https://archiv-behindertenbewegung.org/materialien/buecherbord/?book-id=id260id

Lesermeinungen

Bitte beachten Sie unsere Regeln in der Netiquette, unsere Nutzungsbestimmungen und unsere Datenschutzhinweise.

Sie müssen angemeldet sein, um eine Lesermeinung verfassen zu können. Sie können sich mit einem bereits existierenden Disqus-, Facebook-, Google-, Twitter-, Microsoft- oder Youtube-Account schnell und einfach anmelden. Oder Sie registrieren sich bei uns, dazu können Sie folgende Anleitung lesen: Link
1 Lesermeinung
Neueste
Älteste
Inline Feedbacks
Alle Lesermeinungen ansehen
Uwe Heineker
12.12.2021 13:01

ich war auch dabei. Die Aussagen des seinerzeitigen Tribunals sind leider noch erschreckend aktuell! Daher lohnt es sich, über eine Neuauflage dieser legendären Veranstaltung nach zu denken.