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Tötung behinderter Menschen im Wohnheim: Handeln statt Blumensträuße!

Schwarze Fläche
Dunkelheit
Foto: ISL

Berlin (kobinet) Die Tötung von behinderten Menschen in einem Wohnheim des Oberlinhauses in Potsdam muss die Politik nach Ansicht der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) zum Handeln zwingen. Statt Beileidsbekundungen und Blumensträuße brauche es endlich entschlossenes politisches Handeln und Konsequenzen. Die vier getöteten Menschen mit Behinderungen und eine schwerverletzte Person, seien das Ergebnis der jahrzehntelangen vom Staat aufgebauten Sonderwelten, die weiterhin gestärkt statt abgebaut würden, heißt es in einer Presseinformation der ISL.

„Als ISL sind wir von dieser mörderischen Gewalttat sehr bestürzt, fassungslos und wütend, auch, da viele von uns diese Einrichtungen selbst erfahren mussten. Es sind Taten, die sich in diesem Fall nicht verheimlichen lassen. Tagtäglich erfahren behinderte und pflegebedürftige Menschen in derartigen Abhängigkeitsverhältnissen Gewalt in ihrer unterschiedlichsten Form. Gewalt, von der die Welt ‚da draußen‘ fast nie etwas mitbekommt, weil die meisten Betroffenen sich nicht wehren können, nicht ernst genommen werden und vieles ganz selbstverständlich unter dem Deckmantel der Fürsorglichkeit und Nächstenliebe stattfindet“, kritisiert die ISL.

„Wir fragen uns: Wo bleibt der umfassende Gewaltschutz in den Einrichtungen, der über das Teilhabestärkungsgesetz verbessert werden soll? Wie konnte offenbar eine einzige Person unbemerkt in solch einer Einrichtung vier Menschen brutal töten und eine weitere Person grausam verletzen? Hat niemand ihre Schreie gehört, oder gehören schreiende Menschen zum Alltag in Behinderteneinrichtungen? Wo bleibt der mediale Aufschrei samt kritischer Reflexion gegenüber der noch immer so manifestierten Sondereinrichtungen?“

Der ISL fehlt zudem das Thematisieren von strukturellem und institutionellem Ableismus, Behindertenfeindlichkeit und Gewalt in derartigen Einrichtungen und ein klares Bekenntnis der Politik. Stattdessen werde heruntergespielt, auf Überforderung des Pflegepersonals und deren Schuldunfähigkeit spekuliert sowie im Euthanasie-Duktus von „Erlösung“ durch die Beschuldigte gesprochen. „Das Einnehmen der Täter*innen-Perspektive entwertet das Leben derjenigen Menschen, die von der Gesellschaft behindert werden – in diesen Einrichtungen. Wer die Opfer waren, wird nicht thematisiert. Werden diese Morde von der Wohlfahrtsstruktur billigend in Kauf genommen und warum wird dies von den Medien nicht kritisch genug hinterfragt? Nach Sondersendungen wird dann geschmacklos zum Film ‚Ziemlich beste Freunde‘ übergeleitet. Dies zeigt sehr gut, in welch behindertenfeindlicher Welt wir 2021 eigentlich noch immer leben“, kritisiert die ISL.

Die „Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) ist eine menschenrechtsorientierte Selbstvertretungsorganisation und die Dachorganisation der Zentren für Selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen. Sie wurde nach dem Vorbild der US-amerikanischen „Independent Living Movement“ gegründet, um die Selbstbestimmung behinderter Menschen auch in Deutschland durchzusetzen.

Die Gewalttag in Potsdam hat auch in den sozialen Medien für Diskussionen gesorgt. „Wir sind erschüttert über die gewaltsame Tötung von vier Bewohner*innen einer Pflegeeinrichtung für behinderte Menschen in #Potsdam-Babelsberg – mutmaßlich durch eine Pflegekraft“, heißt es beispielsweise auf der Facebook-Seite Die Neue Norm.