Kassel (kobinet) Am 18. März hat ein Bündnis von Behindertenorganisationen damit begonnen, die Tage herunterzuzählen, die den Bundestagsabgeordneten noch verbleiben, um in dieser Legislaturperiode ein gutes Barrierefreiheitsrecht zu verabschieden. Heute, am 12. April, ist ein Viertel der Zeit abgelaufen und sind es noch 75 Tage bis zum letzten regulären Plenumstag des Bundestages am 25. Juni. Ein guter Anlass für Ottmar Miles-Paul vom Bündnis für ein gutes Barrierefreiheitsrecht, eine Zwischenbilanz über die bisherigen Aktivitäten der Kampagne, über bisherige Reaktionen aus dem Bundestag zu ziehen und einen Ausblick auf weitere Aktivitäten zu wagen.
Bericht von Ottmar Miles-Paul
„Viel wurde schon gemacht, noch viel mehr ist zu tun, wenn wir die Regierungskoalition aus CDU/CSU und SPD für die Verabschiedung eines guten Barrierefreiheitsrechts gewinnen wollen“, so fasst Ottmar Miles-Paul die bisherigen Aktivitäten der verschiedenen Akteur*innen im Rahmen der Kampagne zusammen. Denn sowohl vonseiten der Fraktion der CDU/CSU als auch von der SPD-Fraktion im Bundestag komme bisher ein zögerliches Ja – Aber.
Dr. Matthias Bartke, der Vorsitzende des Ausschusses für Arbeit und Soziales von der SPD, signalisierte zwar große Sympathie für den Vorschlag des Forums behinderter Juristinnen und Juristen für eine umfassende Verpflichtung der Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit inklusive einer Überforderungsklausel, der Berücksichtigung von angemessenen Vorkehrungen und für Schlichtungsverfahren. Er verweist aber darauf, dass dieses „dicke Brett“ in dieser Legislaturperiode zu dick ist, um mit dem Koalitionspartner CDU/CSU gebohrt zu werden. Die SPD habe sich in den Koalitionsverhandlungen mit der CDU/CSU nicht durchsetzen können, um die Verpflichtung zu barrierefreien Dienstleistungen und Produkten auch für private Anbieter festzuschreiben. Herausgekommen sei lediglich ein Prüfauftrag im Zuge der Weiterentwicklung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG). Dass die Bundestagsabgeordneten der SPD bisher nicht bereit dazu scheinen sich zum Ende dieser Legislaturperiode noch einmal richtig ins Zeug für ein gutes Barrierefreiheitsrecht zu legen, wurde bei der Bundestagsdebatte zum Teilhabestärkungsgesetz mit eher flachen Beiträgen von Kerstin Griese und Angelika Glöckner deutlich, die kaum über den bisherigen Gesetzesvorschlag hinausgingen. Hier ist also noch viel Luft nach oben.
Vonseiten der CDU/CSU kamen bisher zwar wohl abgewogene Antworten an die LIGA Selbstvertretung auf den Vorschlag des Forums behinderter Juristinnen und Juristen, in denen die Wichtigkeit der Barrierefreiheit für die Inklusion betont wurde und auf die UN-Behindertenrechtskonvention verwiesen wird. Sie enden aber damit, dass dies perspektivisch und wohl überlegt später geregelt werden müsse. Neben den bisherigen im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgeschlagenen Regelungen, die sich hauptsächlich auf den digitalen Bereich beziehen, plädieren Peter Weiß und Wilfried Oellers von der CDU/CSU-Fraktion dafür, die wichtigen Schritte der Überzeugungsarbeit nun zu gehen, „bevor dann in den nächsten Jahren weitere Schritte folgen können.“ Was es für behinderte Menschen bedeutet, noch weitere nächste Jahre abzuwarten, bis die Überzeugungsarbeit innerhalb der CDU/CSU abgeschlossen ist, das haben behinderte Menschen, die massiv durch Barrieren in ihrer Teilhabe eingeschränkt werden, immer wieder deutlich gemacht. Sie warten spätestens schon seit dem 12. Mai 2016, als die Änderung des Bundesbehindertengleichstellungsgesetzes im Bundestag ohne die Verpflichtung privater Anbieter von Dienstleistungen und Produkten zur Barrierefreiheit beschlossen wurde, auf diese Überzeugungsarbeit. Und auch die Regelungen im Gesetzentwurf der Bundesregierung sehen selbst im digitalen Bereich zum Teil Übergangsfristen bis 2040 vor, wobei das Umfeld überhaupt nicht berücksichtigt werden soll. Der Geldautomat muss dann also 2040 barrierefrei nutzbar sein, aber Stufen davor, die dürfen nach den bisherigen Plänen noch bleiben. Da scheint noch sehr viel Überzeugungsarbeit im Hier und Jetzt nötig zu sein, zumal in den letzten Tagen öffentlich wurde, dass nicht einmal die Luca-App für blinde Menschen barrierefrei nutzbar ist, wie es bei vielen anderen Aktivitäten im Rahmen der Corona-Pandemie ähnlich der Fall war.
Die Behindertenorganisationen wissen aber aus der Vergangenheit, dass ihnen selten etwas geschenkt wurde, sondern dass sie gerade in Sachen Gleichstellung und Selbstbestimmung behinderter Menschen immer hart und bis zuletzt für Veränderungen kämpfen mussten. So war das bei der Aufnahme des Benachteiligungsverbotes für behinderte Menschen in Artikel 3 des Grundgesetzes 1994. So war das beim Kampf für das Behindertengleichstellungsgesetz 2001. So war das beim Kampf für das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz 2006 und so wird es wohl leider auch beim Kampf für ein gutes Barrierefreiheitsrecht 2021 sein.
Einige Hausaufgaben für eine gute Kampagne in den nun noch verbleibenden 75 Tagen wurden bereits gemacht.
Es ist gelungen, ein breites Bündnis, u.a. mit Unterstützung des Deutschen Behindertenrates, hinter den Kernforderungen für ein gutes Barrierefreiheitsrecht zu versammeln. Und täglich werden es mehr Organisationen und Einzelpersonen, die die Kampagne für ein gutes Barrierefreiheitsrecht unterstützen.
Die von Raul Krauthausen und Constantin Grosch bei change.org gestartete Petition für ein gutes Barrierefreiheitsrecht wird mittlerweile von fast 40.000 Menschen unterstützt.
Christiane Link aus Großbritannien und Martin Ladstätter aus Österreich haben in Interviews deutlich gemacht, dass die für Deutschland geforderten Regelungen in Großbritannien und Österreich bereits seit vielen Jahren gelten und dort ganz und gar nicht zum Niedergang der Wirtschaft, sondern vielmehr zu einem besseren Leben für alle, beigetragen haben. So haben sich auch schon eine Reihe behinderter Menschen, wie der Behindertenbeauftragte der Stadt Koblenz, Joachim Seuling, an Bundestagsabgeordnete mit der Frage gewandt, warum dies hierzulande nicht möglich sein soll. Das Projekt #Barrieren Brechen der Sozialhelden hat übrigens Tipps für das Schreiben von E-Mails an die Bundestagsabgeordneten entwickelt und auch schon enige Reaktionen dazu erhalten. Im Aktionsmittelpaket der Aktion Mensch für den Europäischen Protesttag für die Gleichstellung behinderter Menschen gibt es auch eine Postkarte mit dem Slogan „Barrierefreiheit für alle!“, die sich bestens zum Versand an Bundestagsabgeordnete eignet.
Behinderte Menschen haben im Verlauf der Kampagne bereits aus verschiedenen Blickwinkeln beschrieben, was es beispielsweise bedeutet, am digitalen Katzentisch bei nicht barrierefreien Online-Konferenzen sitzen zu müssen, die öffentlichen Verkehrsmittel nicht nutzen zu können, obwohl der Bahnhof fast vor der Tür liegt, aber nur über Stufen erreichbar, ist, dass Bankautomaten auch barrierefrei erreichbar sein müssen etc. etc. Diese Diskriminierungserfahrungen gilt es nun deutlich zu machen und gerade auch im Zeitraum des Europäischen Protesttages für die Gleichstellung behinderter Menschen die Bundestagsabgeordneten damit zu konfrontieren. Die Aktion Mensch bietet hierfür eine Reihe von Unterstützungen für Aktionen zwischen dem 24. April und 9. Mai an.
Packen wir also die nächsten 75 Tage an und machen wir deutlich, dass wir Jetzt ein gutes Barrierefreiheitsrecht brauchen, um barrierefrei aus der Corona-Pandemie herauszukommen, und nicht erst irgendwann nach anscheinend nicht enden wollender Überzeugungsarbeit.
Link zu Informationen über die Kampagne für ein gutes Barrierefreiheitsrecht