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Medizinisch-Taktile Untersucherin, ein konkurrenzloser Beruf

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Foto: Susanne Göbel

Mülheim an der Ruhr (kobient) Blinde und sehbehinderte Menschen verfügen oft über einen überlegenen Tastsinn. Deshalb seien sie perfekt geeignet für den Beruf der Medizinisch-Taktilen Untersucherin (MTU). Denn ihre enorme Tastfähigkeit ermögliche es ihnen, kleinste Gewebeveränderungen in der weiblichen Brust zu erkennen und so einen wichtigen Beitrag zur Früherkennung von Brustkrebs zu leisten. Darauf weist die Organisation discovering hands hin, die entsprechende Ausbildungen für blinde und sehbehinderte Frauen anbietet. discovering hands haben den kobinet-nachrichten folgendes Interview mit Christine Kanetzki und die entsprechenden Informationen zur Verfügung gestellt.

Christine Kanetzki ist beim Sozial- und Inklusionsunternehmen discovering hands angestellt, das blinde und hochgradig sehbehinderte Frauen zu Medizinisch-Taktilen Untersucherinnen (MTU) qualifiziert. discovering hands hat das Tätigkeitsfeld entwickelt und durch wissenschaftliche Studien die Wirksamkeit der Taktilographie bestätigen lassen. Bereits 29 gesetzliche und alle privaten Krankenkassen übernehmen die Kosten. Anderweitig versicherte Frauen können sie als IGeL-Leistung wahrnehmen.

MTU-Weiterbildungskurse mit Reha-Förderung oder Stipendium

Auch im Sommer 2021 starten an der discovering hands Akademie Berlin, in Kooperation mit dem SFZ Sehzentrum, sowie am bbs Nürnberg wieder Weiterbildungskurse zur Medizinisch-Taktilen Untersucherin. Die Eignungserprobungen hierfür beginnen ab Ende März. Auch Interessentinnen, die keine Aussicht auf eine Finanzierung der Weiterbildung als Maßnahme der beruflichen Rehabilitation haben, können sich für ein Stipendium der discovering hands gUG im Rahmen des Skala-Projekts bewerben. Anmeldungen und Informationsgespräche sind jederzeit möglich!

Die nächsten Assessment-Termine in der Berliner discovering hands Akademie

Mi 24.- Fr 26. März 2021
Mi 07.- Fr 09. April 2021

Auch zu späteren Terminen sind weitere Assessments geplant. Zur Erstinformation oder der Vereinbarung eines Beratungsgesprächs können Interessentinnen MTU-Trainerin und Ausbildungsberaterin Birte Hauser jederzeit eine Nachricht unter 0208-30 99 61 56 hinterlassen. Sie ruft schnellstmöglich zurück. E-Mails an [email protected] sind ebenso willkommen. Mehr Informationen zur Ausbildung erhalten Sie auch online unter www.discovering-hands.de/ueber-uns/mtu-ausbildung

Interview mit Christine Kanetzki, geboren in Schwerin, blind, Medizinisch-Taktile Untersucherin (MTU) seit 2014

Wie verlief Ihr Berufsleben, bevor Sie MTU wurden?

Nachdem ich in Königs Wusterhausen die Blindenschule besuchte, absolvierte ich eine kaufmännische Ausbildung und machte in Hannover an der Fachhochschule mit lauter Sehenden mein Wirtschaftsabitur. Ich wohne mit meinem Lebensgefährten, drei Kindern und vielen Tieren auf einem Bauernhof und war dort immer voll im Einsatz.

Als ich vom Sozialunternehmen discovering hands erfahren habe, war ich sofort sehr interessiert. Medizinisch-Taktile Untersucherin, ein medizinischer Assistenzberuf, den nur blinde und stark sehbehinderte Frauen ausüben können, um anderen Frauen zu helfen, das fand ich toll. Meinen hochsensiblen Tastsinn in der Brustkrebsfrüherkennung einsetzen zu können, diese Idee hat mich sofort überzeugt: Trotz, ja gerade wegen meiner Behinderung, kann ich eine absolut sinnvolle Aufgabe auf dem ersten Arbeitsmarkt übernehmen, die sehende Menschen nicht erbringen können. Endlich schien meine Behinderung kein Ausschlusskriterium für einen Job zu sein, sondern ganz im Gegenteil die Voraussetzung! Denn so einen hoch entwickelten Tastsinn haben eben nur blinde Menschen. Im Idealfall kann ich damit ein Leben retten. Ich habe mich dann bei discovering hands gemeldet, die Eignungserprobung, also das Assessment, erfolgreich bestanden und habe 2013 mit der neunmonatigen Qualifikation begonnen.

Wo fand die Ausbildung statt und was haben Sie alles gelernt?

Den Qualifizierungskurs zur MTU führt discovering hands stets gemeinsam mit Bildungsträgern der beruflichen Rehabilitation für blinde und sehbehinderte Menschen durch. Meine sechsmonatige theoretische und praktische Vorbereitung fand in Nürnberg statt. Hier habe ich die medizinischen Grundlagen für den MTU-Beruf erlernt und die spezielle Diagnosemethode von discovering hands, die Taktilographie. Außerdem habe ich die Dokumentation der Befunde am PC gelernt. Auf das anschließende einwöchige Klinikpraktikum und die theoretische Prüfung folgte das dreimonatige Praktikum bei niedergelassenen Ärzten. Hier konnte ich das Gelernte praktisch anwenden, das heißt unter der Anleitung des Arztes und meiner Ausbilderin Patientinnen untersuchen, die Anamnese erheben und den Befund dokumentieren. Der Umgang mit den Patientinnen hat mir sehr viel Spaß gemacht.

Was gefällt Ihnen am besten am Beruf der Medizinisch-Taktilen Untersucherin?

Das Schönste an meinem Beruf ist, dass ich so viel Zeit für meine Patientinnen habe und sie durch die regelmäßige Früherkennung gut versorgt weiß. Ich bin ihre Zuhörerin und Ratgeberin und kann ihnen Sicherheit geben, auch weil ich mich laufend fortbilde. Sie bringen mir viel Vertrauen entgegen und sind froh, dass es diese Früherkennungsmethode gibt, in der ich nur meine Hände einsetze und keine Apparate. Teil eines Praxisteams zu sein, ist auch schön. In diesem Beruf bin ich nicht die „Behinderte“, sondern eine anerkannte und eigenständig arbeitende Fachkraft mit ganz speziellen Kompetenzen. Die allermeisten Gewebeveränderungen, die ich taste, erweisen sich als harmlos. Aber wenn ich einen bösartigen Tumor in einem sehr frühen Stadium taste, erspare ich der Patientin damit einen langen Leidensweg. Denn kleine Knoten, die noch keine Metastasen gebildet haben, sind nicht lebensbedrohlich und recht gut zu behandeln.

Wie sieht Ihre langfristige Perspektive im MTU-Beruf aus?

Dieser medizinische Assistenzberuf ist konkurrenzlos für blinde und sehbehinderte Menschen und garantiert ihnen die Teilhabe auf dem ersten Arbeitsmarkt. Ich bin wie alle MTU-Kolleginnen fest und unbefristet bei discovering hands angestellt, kann den Job also bis zur Rente machen, mich weiter fortbilden und habe ein sicheres Einkommen! Das Sozialunternehmen „verleiht“ mich per Arbeitnehmerüberlassung an Frauenarztpraxen, in denen ich jeweils feste Einsatztage habe, einen oder mehrere in der Woche. In mehreren Praxen in verschiedenen Teams zu arbeiten, ist abwechslungsreich und ich freue mich über jede neue Patientin, die die Taktilographie für sich entdeckt und so in der Brustkrebsfrüherkennung auf Nummer sicher geht. Ich habe meinen idealen Beruf gefunden.

discovering hands – Vorstellung des Sozial- und Inklusions-Unternehmens

Das vielfach mit Preisen ausgezeichnete gemeinnützige Unternehmen discovering hands bietet blinden und stark sehbehinderten Frauen ab 18 Jahren, die über einen besonders sensiblen Tastsinn verfügen, eine Qualifizierung für einen einzigartigen und konkurrenzlosen medizinischen Assistenzberuf: Medizinisch-Taktile Untersucherin. Nach bestandener Abschlussprüfung stellt discovering hands die MTU fest und unbefristet ein. Da die Diagnose aufgrund des MTU-Befundes direkt im Anschluss eine verantwortliche Ärzt:in stellen muss, kooperiert das Unternehmen mit inzwischen 100 gynäkologischen Facharztpraxen in Deutschland. Frauen jeden Alters können dort die Taktilographie, so der Name der speziellen Tastuntersuchung der Brust, wahrnehmen, unabhängig davon, ob sie in der Praxis Patientinnen sind. Bereits 29 gesetzliche und alle privaten Krankenkassen übernehmen die Untersuchungskosten. Die Taktilographie kann aber auch als Selbstzahler-Leistung in Anspruch genommen werden.

Qualifizierte Medizinisch-Taktile Untersucherinnen können viel dazu beitragen, dass Brustkrebs diagnostiziert wird, solange ein Tumor noch nicht gestreut hat. Denn erst dann wird die Krankheit lebensbedrohlich. Das Sozialunternehmen discovering hands hat das Tätigkeitsfeld der MTU entwickelt und durch wissenschaftliche Studien die Wirksamkeit der Taktilographie bestätigen lassen.

Die MTU als Tastspezialistin kann etwa 30 % mehr und bis zu 50 % kleinere Gewebeveränderungen (5 bis 8 mm) finden als Ärzt:innen (1 bis 2 cm). Ihren ausgeprägten Tastsinn nutzen die MTU bei der Taktilographie, um Brustgewebe sowie Lymphbahnen und -knoten an Hals, Brustbein und Achseln der Patientin millimetergenau und schmerzfrei zu untersuchen. Selbstklebende haptische Orientierungsstreifen auf der Brust dienen als Koordinatensystem. Die Brusttastuntersuchung dauert je nach Brustgröße 30 bis 60 Minuten und ist reine „Handarbeit“, was die untersuchten Frauen als sehr angenehm empfinden.

Anhand des Tastbefundes der MTU stellen Fachärzt:innen direkt im Anschluss die Diagnose und leiten, falls erforderlich, die weitere Diagnostik ein. Bei den allermeisten Taktilographien finden die MTU jedoch keine oder nur harmlose Gewebeveränderungen. Sollte sich herausstellen, dass es sich bei einem Befund um Brustkrebs handelt, ist er in einem früh entdeckten Stadium jedoch fast immer heilbar.

Die Qualifizierung zur MTU dauert neun bis zehn Monate. discovering hands kooperiert dabei mit speziellen Bildungsträgern der beruflichen Rehabilitation für blinde und sehbehinderte Menschen. Seit 2019 ist es auch Frauen ohne eine Kostenübernahme durch einen öffentlichen Kostenträger möglich, mittels eines Stipendiums die Qualifizierung zu durchlaufen.

Medizinisch-Taktile Untersucherinnen sind in Praxen und Kliniken tätig sowie bei Betriebsuntersuchungen im Rahmen der Brustkrebsfrüherkennung. Außerdem gehört zu ihren Tätigkeiten auch das professionelle Anleiten von Frauen zur Selbstabtastung der eigenen Brust, die einstündige 1:1-Anleitung zur Taktilen Selbstuntersuchung (ATS), die seit 2020 auch online angeboten wird.

Der einzigartige Beruf der Medizinisch-Taktilen Untersucherin verbindet die verbesserte berufliche Inklusion blinder Frauen mit einer ergänzenden, gerätefreien Diagnosemethode, welche die Brustkrebsfrüherkennung nachweislich verbessert.

Kontakt:

discovering hands gUG

Wiesenstraße 35

45473 Mülheim an der Ruhr

Fon: +49 208 – 30 99 61 56

Web: www.discovering-hands.de/ueber-uns/mtu-ausbildung