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Wittekindshof: Schuld und Vergebung?

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Foto: ht

Berlin (kobinet) Thomas Künneke, der sich bei den Kellerkindern in Berlin engagiert, verfolgt seit geraumer Zeit die öffentlich gewordenen Vorkommnisse im Wittekindshof in Bad Oeynhausen mit Ermittlungen gegen 145 Beschäftigte durch die Staatsanwaltschaft. In seinem kobinet-Kommentar spricht er dazu einige Aspekte an, die diese Vorfälle und die Diskussion hervorgebracht haben.

Kommentar von Thomas Künneke

Ich wurde im September 2019 vom Evangelischen Pressedienst auf die Ereignisse im Wittekindshof angesprochen und um ein Interview gebeten. Der Vorwurf der Einrichtung gegenüber bestand in der Anwendung von Zwang (Fixierungen und Medikation ohne richterlichen Beschluss). Der Artikel erschien unter der Rubrik „Schuld und Vergebung“. Ich dachte, die Mitarbeitenden sollten ihr Fehlverhalten eingestehen, reflektieren und gegenüber den Betroffenen um Vergebung bitten.

Link zum Beitrag: https://www.evangelisch.de/inhalte/160979/04-10-2019/behindertenverband-zwangsmassnahmen-dokumentieren-und-veroeffentlichen

Ich habe es falsch eingeschätzt. Die Opfer sollen anscheinend die Täter*innen um Vergebung bitten für ihre Beeinträchtigung, wie ich später einem Bericht des Westfalen Blatt entnehmen konnte. „Hans-Joerg Deichholz, der Sozialdezernent des Kreises (Vorgesetzter der Heimaufsicht), erklärte: ‚Schwierige Fälle, die keine andere Einrichtung haben wollte, hat der Wittekindshof immer aufgenommen. Seine Konzepte haben uns überzeugt, und wir waren froh, auch für Menschen, die sich und anderen gegenüber gewalttätig werden, einen Platz gefunden zu haben.‘ Denn es seien nicht alles harmlose Klienten, die in solchen Einrichtungen lebten. …“

Link zum Bericht im Westfalenblatt: https://m.westfalen-blatt.de/OWL/Kreis-Minden-Luebbecke/Bad-Oeynhausen/4343784-Wittekindshof-in-Bad-Oeynhausen-Pfleger-Aerzte-und-Betreuer-unter-Verdacht-Behinderte-seit-Jahren-illegal-fixiert-und-eingesperrt?fbclid=IwAR16BujGr_3Vk3SdPKVmCq9NtcT2b3wYBBiosRu1msgXtu4Ic99ybrvRE2A

In der Sitzung des Sozialausschusses des Landtages von Nordrhein-Westfalen vom 20.01.2021 ging es auch um den Schutz der Täter*innen. Hubert Hüppe, der die Debatte online verfolgt hat, schildert dies auf seiner Facebookseite folgendermaßen: „Fast 150 Mitarbeiter, Ärzte und Pfleger stehen im Verdacht über Jahre Menschen mit Behinderungen geschlagen, mit Tränengas besprüht, erniedrigt und festgebunden zu haben. Zu meinem Erschrecken spielten die Opfer in der Diskussion des Ausschusses kaum eine Rolle. Stattdessen sollen sich die Mitarbeiter sicher fühlen (ich finde, das sollten sie nicht). …“

Die Ausschusssitzung befasste sich mit „neuen“ Konzepten von sozialrechtlichen Unterstützungsleistungen für Menschen mit Behinderungen; Unterbringungen nach dem Modell forensischer Einrichtungen. Forensische Einrichtungen, der Maßregelvollzug, sind aber Instrumente der Strafjustiz. Und damit haben sich die Rollen endgültig verschoben. Es sollten nicht gegen die Mitarbeitenden des Wittekindhofs Ermittlungsverfahren eingeleitet werden, sondern anscheinend gegen die Menschen mit Behinderungen. In diesem Zusammenhang möchte ich noch kurz auf das „erfolgreiche“ Modell forensischer Einrichtungen eingehen. Daher ein Zitat aus die Neue Norm: „Im Kreislauf gefangen: Behinderte Menschen in der forensischen Psychiatrie. Auf Wut und Aggression folgt die Einsperrung (…) Menschen mit Behinderung sind dann in einem ewigen Kreislauf des Maßregelvollzuges aus Geringschätzung und Nicht-Verstanden-Werden gefangen, woraufhin sie wieder mit Wut und Aggression reagieren. Die Klinik ihrerseits antwortet mit Einsperren und Änderung der sedierenden Medikamente auf das herausfordernde Verhalten…“

Link zum Bericht: https://dieneuenorm.de/gesellschaft/behinderung-forensische-psychiatrie/

Und dass dieses Modell schon in vielen Teilen des Wittekindshofs Einsatz fand, zeigt ein Bericht zu einem Urteil von ntv vom 12.01.2021. Hier wurde ein Antrag auf Einweisung eines Bewohners des Wittekindshofs abgelehnt. In dem Verfahren wurde festgestellt, dass der Bewohner innerhalb von 3 Jahren 9.900 Zwangsmaßnahmen über sich ergehen lassen musste. Das sind im Schnitt 9 Zwangsmaßnahmen pro Tag. Es wäre aus meiner Sicht ein „krankhaftes Verhalten“, wenn dieser Mensch auf diese „sozialtherapeutischen Methoden“ nicht mit Wut oder Aggressionen reagieren würde.

Link zum ntv-Bericht: https://www.n-tv.de/regionales/nordrhein-westfalen/Aggressiver-Patient-Gericht-lehnt-Einweisung-in-Forensik-ab-article22286220.html?fbclid=IwAR3RWISBcraSOdsB_rqs0duu_A_kmKEOA3G2MNWppF5XzhjpRHS-9fihzcE

Ich habe noch keine Artikel gelesen oder Äußerungen wahrgenommen, die das Konzept des Wittekindshofs in Frage stellen, in denen menschenrechtsbasierte Unterstützungsleistungen und kontrollierbare Gewaltschutzkonzepte sowie die Implemtierung solcher Modelle gefordert wird.

„Ein Schuldeingeständnis und die Bitte um Vergebung“ seitens der christlichen Einrichtung ist aber anscheinend nicht zu erwarten. Hat dies vielleicht auch damit zu tun, dass das Kuratorium, als Aufsichtsgremium, besetzt mit Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und mit Landtagsabgeordneten, ihrer Kontrolle nicht nachgekommen ist?

Siehe auch: https://kobinet-nachrichten.org/2021/01/24/ausschussdebatte-ueber-ermittlungen-im-wittekindshof/?fbclid=IwAR1Ws3FLtejjJFIKWRUDdBH3miVjt0loiLxLirxagZkn3rcp8hHRX1SvH5A

Meine Anfrage an den Landschaftsverband Westfalen/Lippe (LWL) lässt wenigstens hoffen, dass die Einrichtung „ihre besonderen Unterstützungsangebote“ nicht erstattet bekommt. Auf meine Frage an den LWL: „Werden erbrachte Kosten seitens des LWL, bei eindeutigen Verstößen im Sinne von rechtlich nicht legitimiertem Zwang und Gewalt, vom Leistungserbringer zurückgefordert?“ (Ich gehe davon aus, dass diese „Behandlungspraxis“ dem Vertragsverhältnis widerspricht.) bekam ich die Antwort vom LWL: „Sollten die Vorwürfe nachgewiesen werden, wäre es zu einer Verletzung des Vertragsverhältnisses zwischen dem Leistungsberechtigten und der Einrichtung sowie zu einer Verletzung des Rechtsverhältnisses zwischen dem LWL und der Einrichtung gekommen. Der LWL würde dann die sich daraus ergebenden Rechte geltend machen.“

Aber auch ich muss aufpassen, dass ich in meinem Artikel,nicht die wirklichen Opfer vergesse: Menschen, die in einer Einrichtung, dessen Leitsatz „Menschenwürde gestalten: Teilhabe in jedem Lebensalter“ ist, rechtswidrig teilweise schwerster Gewalt ausgesetzt wurden. Wie werden die Menschen, die Opfer geworden sind, entschädigt? Wie bekommen sie unverzüglich Unterstützungsleistungen, die erlebten Traumatisierungen aufzuarbeiten und zu überleben?! Hierzu äußert sich der Wittekindshof nicht. Nicht einmal eine Entschuldigung wurde ausgesprochen.

Armselig!