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Vor 35 Jahren: Protestaktion im Bundestag

Dr. Martin Theben
Dr. Martin Theben
Foto: privat

Berlin (kobinet) Der Hobby-Chronist und Rechtsanwalt Dr. Martin Theben meldet sich im ereignisreichen November mit einem weiteren Bericht für die kobinet-nachrichten zu Wort. In seinem Bericht blickt er auf den 14. November 1985 zurück, als sich im Deutschen Bundestag, der damals noch in Bonn tagte, schier unglaubliches ereignete: Behinderte Menschen demonstrierten damals mitten im Plenarsaal für ihre Rechte mitTransparenten, Flugblättern und Megaphon.

Bericht von Dr. Martin Theben

Der November scheint behindertenpolitisch, zumindest in den 80ziger und 90ziger Jahren eine besondere Bedeutung zu erlangen: Am 15.11.1994 trat das verfassungsrechtliche Benachteiligungsverbot für Menschen mit Behinderungen in Kraft. Wiederum im November, am 10./11. protestierten Betroffene in Bonn gegen das Gesundheitsreformgesetz, aber besonders herausragend war das nachfolgende Ereignis: Am 14. November 1985 ereignete sich im Deutschen Bundestag, der damals noch in Bonn tagte, schier unglaubliches: Menschen mit Behinderungen demonstrierten mitten im Plenarsaal. Im Stenographischen Protokoll des Deutschen Bundestages liest sich das auf Seite 13070 so:

„In der Mitte des Saales spielt ein Rollstuhlfahrer ein Tonband ab; anschließend spricht ein weiterer Rollstuhlfahrer über eine Mikrophon-Lautsprecher-Anlage (…) Ein Rollstuhlfahrer entfaltet links vom Stenographentisch ein Transparent — Auf der Besuchertribüne wird ebenfalls ein Transparent entrollt — Rollstuhlfahrer in der Mitte des Plenarsaals und Besucher auf der Tribüne werfen Flugblätter. “ Bundestagsvizepräsident Richard Stücklen (CSU) unterbricht die Sitzung für sechs Minuten von 16.40 – 16.46 Uhr. Als er sie wiedereröffnet folgen mahnende Worte: „Zu diesem Vorgang darf ich erklären, daß der Plenarsaal des Deutschen Bundestages kein Platz für Demonstrationen ist, ganz gleich, von welcher Seite. Ich danke den Kräften des Hauses, daß sie in der nötigen Rücksichtnahme die Protestierenden, die ich als die Verführten ansehen möchte, ihrem Gesundheitsgrad entsprechend nach draußen geführt haben.“ http://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/10/10174.pdf#P.13130

Die Verführten protestierten hier nicht gegen, sondern für etwas. Zur Debatte stand der Gesetzentwurf der Grünen, die seit März 1983 im Bundestag vertreten waren, für ein Bundespflegegesetz. Es sah u.a. ein unbeschränktes Wahlrecht des Wohnortes, einkommens- und vermögensunabhängiger Leistungen, darunter Pflegegelder bis zu 1.400 DM, und die Abschaffung aller Heime bis 1995 vor. Der Entwurf stammte aus der Feder behinderter Menschen und ihrer Unterstützer selbst. Dazu zählten beispielsweise Andreas Jürgens und Oliver Tolmein. Sie hatten sich mit anderen bei den Grünen in der Bundesarbeitsgemeinschaft Behindertenpolitik zusammengefunden und den Entwurf erarbeitet. Die mit den Fraktionsmitgliedern zuvor abgesprochene Aktion sollte die Bedeutung des Antrages unterstreichen.

Einen detaillierten Augenzeugenbericht findet man in der LUFTPUMPE 1/86, einem der Vorläufer der Randschau – Zeitschrift für Behindertenpolitik auf S.4f.: „Eberhard Bueb von den GRÜNEN begründet den Gesetzentwurf. Danach wird ein CDU-Redner zu den Pauken und Trompeten greifen. Jeder von uns ist nun sicher, daß auf die anderen Verlaß ist. Das Zeichen ist verabredet während der CDU-Rede. Und dann endlich; Wie explodierend starten wir, jede Angst ist wie weggeblasen; Rolf, Alfred und Horst stürmen nach rechts und links. Die Saalordner sind konsterniert. Links reagieren sie schneller als rechts. Alfred und Rolf werden aufgehalten. Aber rechts kommt Horst durch. Das ist gut und zugleich schlecht für uns in der Mitte. Moni ist gestartet. Ich hinterher. Hinter mir spüre ich Gisel. Der Rest wird von den erstarkten Saalordnern gehindert. Schon ist Moni vorn, ich bin am Mikrophon, rede und rede, weiß selbst nicht mehr genau was. Ich wehre die Griffe nach dem Mikrophon ab. Gisel hilft von hinten, Moni von vorn. Zur selben Zeit wird Gerd hinten in der Hektik verletzt. Er fällt aus dem Rollstuhl. Ich rede immer noch. Der Vorsitzende Stücklen unterbricht die Sitzung. Hurra! Ich sehe durch’s Gewühl vorn Horst. Er breitet sein Transparent aus. Fast hilflos wirkt ein Ordner auf ihn ein. Ein anderer hat den Schalter fur’s Megaphon gefunden. Aus. Die Ordner reden auf uns ein. Hektik. Was wir wollten ist erreicht. Sie mußten uns zuhören! Wir diskutieren nun und wissen, gleich trägt man uns raus. Von der Tribüne flattern die ersten Flugblätter. Gierig stürzen sich die Damen und Herren Abgeordneten darauf, froh, daß endlich mal was los ist. Oben geübter als unten greifen die Ordner nun zu. Da wie hier drängen sie raus. Wir werden zur Vernehmung geleitet. Die Stimmung ist gut. Die Beamten sind ratlos. Unsere Personalien werden aufgenommen. Mehr und mehr GRÜNE kommen dazu. Einer ist Anwalt, klärt uns auf, was wir sagen müssen und was nicht. Die Hüter diskutieren die Frage, ob man uns laufen lassen soll. Wir wußten, das kommt, der Behindertenbonus.“ https://archiv-behindertenbewegung.org/archiv/3-1-1986_(08-01-2020_23-48-39).pdf

Vorher berichtet der nicht namentlich gekennzeichnete Autor noch, wie man sich in den Redaktionsräumen minutiös auf die Aktion vorbereitet hatte. Nach dem Artikel folgt noch der Abdruck eines von Horst Frehe für die Protestierenden unterzeichneten offenen Brief an den Sozialexperten der SPD-Fraktion Eugen Glombig, der zu dieser Zeit auch Vorsitzender des Ausschusses für Arbeit und Soziales im Bundestag gewesen ist. Er hatte am Tag der Aktion gemeint, man solle diese Protestler ignorieren. In diesem Brief heißt es u.a.:

„Sehr geehrter Herr Glombig, nach unserer Demonstration für die Verabschiedung des Bundespflegegesetzes DER GRÜNEN haben Sie uns mit den Worten diffamiert, — wir hätten uns von DEN GRÜNEN mißbrauchen lassen, — wir hätten keine Ahnung von der Sozialgesetzgebung, — wir. würden keine Heime und Anstalten kennen, — die von uns behaupteten Mißstände gäbe es nicht, — Aussonderung Behinderter fände nicht statt und — wir wüßten überhaupt nicht wovon wie redeten. (…) Insbesondere beschäftigte uns, daß Sie sich als BEHINDERTER an die Spitze derjenigen stellten, die uns als unmündiges, mißbrauchtes und verführtes Opfer hinstellen wollen und uns jegliche Erfahrung, persönliche Kompetenz und bewußtes politisches Handels absprechen. Diese Art der Verleumdung ist uns von Nichtbehinderten bekannt, die unsere Aussonderung betreiben, an unserer Entmündigung verdienen und daraus eine Profession machen. – Erschrocken und bestürzt hat uns, daß jemand, der die gesellschaftliche Diskriminierung selbst erfahren haben muß, sich dieser Argumentationsmuster bedient.“ https://archiv-behindertenbewegung.org/archiv/3-1-1986_(08-01-2020_23-48-39).pdf .

Gegen Ende folgt versöhnlich ein Angebot zur Zusammenarbeit an den Bundestagsabgeordneten. Erwartungsgemäß wurde der Gesetzentwurf von allen anderen Fraktionen abgelehnt.

Knapp ein Jahr vor der Aktion, am 13. November 1984, stellten die Verfasser ihren Entwurf auf einer Fraktionssitzung vor. Trude Unruh, die Vorsitzende der Grauen Panter, einer Seniorenselbsthilfeorganisation, unterstützte den Antrag. Hans Verheyen, der damalige Haushaltsexperte der Fraktion brachte mehrere Änderungsanträge ein, fand alles zu oberflächlich und verließ schließlich unter Protest die Sitzung. Das Protokoll zitiert ihn mit den Worten „Macht euren Scheiß alleine“. Dennoch wurde er 20 zu 7 Stimmen, bei sechs Enthaltungen angenommen.

https://fraktionsprotokolle.de/handle/3242

Im Laufe der Jahrzehnte folgten noch viele Initiativen für ein steuerfinanziertes Leistungsgesetz, auch aus den Reihen der damaligen PDS und des Forums behinderter Juristen, als dessen Sprecher später auch Andreas Jürgens und Horst Frehe fungierten. Und schon 1973 hatte die damalige CDU/CSU-Bundestagsfraktion eine ähnliche Parlamentsinitiative gestartet; freilich in der Opposition. Bisher konnte sich keine dieser Initiativen durchsetzen. Auch hier geht der Kampf weiter!