
Foto: Franziska Vu (ISL)
Mellrichstadt/Kassel (kobinet) "Wohnheimerzieher dürfen mit positivem Corona-Test arbeiten". So lautete eine Schlagzeile vom 13. Oktober im ntv-Corona-Ticker, die kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul aufhorchen ließ. Nachdem er auf einen Bericht in BR24 vom 12. Oktober über die freiwillige und genehmigte Weiterarbeit von ebenfalls infizierten Betreuern in einer Lebenshilfeeinrichtung im unterfränkischen Mellrichstadt aufgrund von Personalnot gestoßen ist, leuchten bei ihm einige Fragezeichen auf, die er in seinem Kommentar aufgreift.
Kommentar von kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul
Es ist noch nicht lange her, als viele Menschen den Kopf über das Verhalten des Corona-infizierten Donald Trump geschüttelt haben. Sein Verhalten im Umgang mit der Infektion, wie beispielsweise eine Ausfahrt zu seinen Fans vor dem Krankenhaus, wurde weithin als verantwortungslos kritisiert. Wenn ich nun lese, dass in einer Lebenshilfe-Einrichtung mit dem Corona-Virus positiv getestete Betreuer aufgrund von Personalmangel weiterhin in der Einrichtung arbeiten, leuchten bei mir trotz der Tatsachen, dass es dafür eine Ausnahmegenehmigung des örtlichen Gesundheitsamtes gibt, sie dies „freiwillig“ tun und nur Menschen unterstützen, die coronainfiziert sind, viele Fragezeichen und Warnlampen auf.
Vieles von dem, was beim Ausbruch der Pandemie im Frühjahr gerade in Einrichtungen der Alten- und Behindertenhilfe getan bzw. nicht getan wurde, ist noch weit davon entfernt, nur annähernd aufgearbeitet zu sein. Fehlende Schutzmasken, der Mangel an Desinfektionsmitteln, das Wegschauen und Hinhalten der Regierungen und die weitgehend völlige Abschottung der Bewohner*innen von ihren Verwandten und Freunden sind nur einige Beispiele dafür. Von den meist nicht oder nur sehr spät durchgeführten Corona-Tests von Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen ganz zu schweigen. Diesen großteils auch von staatlicher Seite bedingten Missständen sind tausende von Menschen zum Opfer gefallen, ohne dass bisher nur annähernd ihrem Schicksal gedacht wurde. Und nun kommt bereits zu Anfang der zweiten Welle ein Bericht, dass infizierte Betreuer*innen wegen Personalmangel weiter in Einrichtungen arbeiten und dies genehmigt wird.
Worum geht es genau? BR24 schreibt in seinem Bericht, dass sich in der Lebenshilfe-Einrichtung im unterfränkischen Mellrichstadt 22 Bewohner und Tagesgäste mit dem Coronavirus infiziert hatten und dass der Ausbruch noch nicht überstanden ist. Auch 17 Personen, die in der Einrichtung arbeiten, seien infiziert. Ein Mitarbeiter musste ebenfalls stationär behandelt werden. Die Personalnot sei groß. Um den Betrieb aufrecht zu erhalten, arbeiteten in der Lebenshilfe-Einrichtung derzeit auch positiv getestete Betreuerinnen und Betreuer der Einrichtung weiter. „Sie haben sich freiwillig dazu entschieden und hätten bislang keine Symptome. Deshalb hat das Gesundheitsamt Rhön-Grabfeld eine Ausnahmeregelung erlassen. Die Betreuer kümmern sich ausschließlich um die ebenfalls infizierten Bewohner. Dennoch würden für die Mitarbeiter strenge Auflagen gelten: So dürfen sie ihre Wohnungen nur verlassen, um zur Arbeit zu gehen. Außerdem würde es einen eigenen Ein- und Ausgang für die betreffenden Mitarbeiter geben.“
Link zum Bericht von BR24 vom 12. Oktober
Die Bundesvereinigung Lebenshilfe nach einer Einschätzung zu dieser Praxis befragt, bezieht sich hauptsächlich auf die Problematik mangelnder und kostenfreier Tests. Sie äussert sich dahingehend, dass sie sich schon seit dem Frühjahr für bundesweit einheitliche, umfassende und kostenfreie Tests auf Corona in Gemeinschaftseinrichtungen der Behindertenhilfe einsetze. Sie hat dazu Briefe an Gesundheitsminister Jens Spahn und an das Robert-Koch-Institut geschrieben. „Bis heute ist es aber so, dass die Entscheidung bei den örtlichen Gesundheitsämtern liegt. So ist es auch im Fall der Einrichtung im bayerischen Mellrichstadt. Aufgrund der personellen Notsituation dort hat das Gesundheitsamt eine Ausnahmegenehmigung erteilt, dass positiv getestete Mitarbeitende freiwillig und unter strengen Schutzvorkehrungen weiter zum Dienst kommen dürfen. Damit es bei solchen absoluten Ausnahmen bleibt, muss die Forderung der Lebenshilfe nach bundesweit einheitlichen Teststrategien endlich erfüllt werden“, betonte Peer Brocke vom Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Bundesvereinigung Lebenshilfe und empfiehlt dazu folgende zwei Links zum Thema:
(insbesondere die Seiten 5/6)
Genehmigung des Gesundheitsamtes, Freiwilligkeit der Beschäftigten oder personelle Notsituation hin oder her, was für mich bei diesem Vorgang bleibt, sind viele Fragen. Wenn einerseits über Beherbergungsverbote und andere Fragen landauf landab intensiv gestritten wird, scheinen die Vorgänge hinter den weitgehend verschlossenen Türen von Einrichtungen für behinderte und ältere Menschen nach wie vor anscheinend eine Kleinigkeit zu sein und können per Ausnahmeregelung vor Ort geregelt werden. Ob die Personalnot der Gesundheitsämter auch dadurch aufgehoben werden kann, dass man infiziertes Personal einsetzt? Welches Management gibt es, um für solche Situationen in Einrichtungen gewappnet zu sein, dass auch in Notsituationen nicht infizierte Personen weiterarbeiten müssen oder dürfen?
Eine weitere Frage ist, was es für die Menschen bedeutet, die in Einrichtungen leben, wenn infiziertes Personal eingesetzt werden muss, bzw. diese evtl. sogar ihre oder die eigene Gesundheit aus Personalnot auf’s Spiel setzen müssen, wenn es Personalmangel gibt?
Und was bedeutet dies in der zweiten Welle der Pandemie für Beschäftigte, die sich infiziert haben. Auch wenn hier anscheinend freiwillig gearbeitet wird, welcher Druck kann hier entstehen, um dieser Freiwilligkeit nachzuhelfen, wenn die Gefahr besteht, dass Menschen unversorgt bleiben oder gar das Drängen von Arbeitgebern erfolgt?
Die Vorkommnisse in Franken bedürfen meines Erachtens einer ausgiebigen Diskussion und sollten nicht so einfach eine Randnotiz im Wirrwarr der Corona-News bleiben, die uns täglich beschäftigen und zum Teil überrollen. Vor allem auch im Hinblick auf die vieldiskutierte Triage, also der Frage, wer behandelt bzw. nicht behandelt wird, wenn die Ressourcen knapp werden und die Intensivplätze in den Krankenhäusern nicht mehr ausreichen, bedarf es nun eines gezielteren und genaueren Hinschauens, was im Frühjahr an vielen Stellen zu kurz kam. Denn so wie die Infektionszahlen in die Höhe schnellen, so häufen sich auch die Nachrichten über Infektionen in Einrichtungen der Alten- und Behindertenhilfe.